Gedanken zur Altphilologie, klassische Archäologie und der griechischen Mythologie

Wir betreten heute Abend ein s e h r weites Feld (Fontane) und müssen uns aus diesem Grunde sehr konzentrieren. Die Felder heißen Altphilologie,Althistorie, Klassische Archäologie, Mythologie, vergleichende Literaturwissenschaft. Das reicht. Und es geht auch um das „abendländische Selbstverständnis“. Wieso das Letzte? Wir hören´s gleich.
Vor einigen Jahren ging ein neuer Stern am Himmel dieser Fragen auf- umstritten wie es bei jedem neuen Stern zu sein pflegt. Dieser Stern heißt Raoul Schrott- doch hier ist nicht nomen est omen.
Vor 6 Jahren, 2008, veröffentlichte im Hanser Verlag der österreichische, vergleichende
Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Schrott sein Buch „Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe“. Zudem legte er eine neue Ilias- Übersetzung vor. Und er glaubt-und das war der Knüller- den wahren Ort der Geschichte um Troja und die schöne Helena gefunden zu haben.
Und jetzt kommt der kritische Punkt jeglicher Auslegung, ob bei der Bibel oder bei Homer. Verstehen wir die Texte als historische Tatsachen oder als Menschenwort im Gotteswort oder bei Homer als poetische Fiktion oder Fakta: Fand der Krieg um Troja wirklich statt, fand der Exodus der Kinder Israels aus Ägypten wirklich statt? Moses und Aaron, Achilleus und Hektor, Paris und Helena, Odysseus und Penelope- gab es die wirklich? Diese Frage hören nie auf gestellt zu werden.
Schrott beantwortet die Fragen für Homer im Prinzip mit Ja. Aber eben doch nur anders als andere Althistoriker oder Altphilologen. Unter diesen hat er einen besonders „auf die Palme gebracht“:
den Baseler Altphilologen Prof. Joachim Latacz, der ein renommierter Homer-Experte
ist, wie zu meiner Studienzeit Wolfgang Schadewaldt (gest. 1974). Er betreute anfangs Schrotts Homer-Übersetzung, stieg dann aber aus der Arbeit aus. Warum? Die heutige Übersetzung Schrotts ist für Gräzisten ein Sündenfall; sie verfälscht oft den Sinn.
600 Homer-Übersetzungen ungefähr gibt es! Vielen Leuten von heute gefällt Schrotts Übersetzung.
Mir nicht, genauso wenig wie die Gute Nachricht-Übersetzung der Hl.Schrift.
Ebenso wird vielfach von Fachleuten Schrotts These bezweifelt. Das einzig Gute an dem Ganzen: man redet wieder etwas mehr über Homer im „Volk der Dichter und Denker“.
Was behauptet denn nun Raoul Schrott?
Der vergleichende Literaturwissenschaftler nimmt auf Grund assyrischer Texte an, der Autor, der Weltliteratur begründende Dichter H o m e r ein griechischer Schreiber in assyrischen Diensten in der Provinz Kilikien gewesen ist. Die Ortsbeschreibung Trojas in Homers Ilias identifiziert er mit der Hauptstadt Kilikiens K a r a t e p e auf dem Hügel von Karatepe-Arslantas.
Die riesige Festung Karatepe verfügt mit ihrem starken Wall und vielen Wehrtürmen auf einem 225m hohen Hügel nicht nur über die „Krone mit Türmen“ aus der Ilias, sondern auch im Gegensatz zu Schliemanns Troja über die aus dem Epos bekannten gewaltigen Tore. Eines im Süden, das andere im Norden der Festung. Dazu kommen die in der Ilias erwähnten, schneebedeckten Berge im Hinterland, sowie der lange Strom mit seiner wilden Furt und den warmen Quellen östlich. Homer habe also einen älteren griechischen Stoff vom trojanischen Krieg für seine orientalischen Zuhörer in seine und deren Lebensumgebung übertragen. Die Ortsbeschreibungen in der Ilias enthalten also keine Auskunft über den wirklichen Schauplatz des tatsächlichen Krieges, sondern vielmehr über d e n Ort, in dem Homer seine Epen schrieb. Das alles brachte den ausgewiesenen Althistoriker Christian Maier total auf die Barikaden. Er
stellte die oben angekündigte e u r o p ä i s c h e S e l b s t v e r s t ä n d n i s - F r a g e.
Sind wir Kinder des Orients oder des Okzidents?
Orient heißt D e s p o t i e = die Perser. Okzident heißt F r e i h e i t = Griechen. (Perserkriege!)
Die Griechen haben die Freiheit erfunden. Europa ist kein Lied aus der Feder eines orientalischen Eunuchen.
Natürlich sind wir a u c h Kinder des Orients, denn der Einfluss des Orients auf die alten Griechen ist unstrittig. Jedoch nicht in dieser zentralen Frage.
Homer war also so eine Art „ Urknall“ mit ungeheuer vielen Folgen.
Ich gehe nun kurz auf eine weitere These der Homer-Forschung ein, die sog. „Hethiter- These“.
Der genannte Homerexperte aus Basel Latacz, der über das Versmaß der Hexameter (lang-kurzkurz) von Ilias und Odyssee und über die Entstehung der Epen wichtige, kaum umstrittene Thesen aufgestellt hat in seinen Forschungen, stimmt auch mit neuen Grabungs-Ergebnissen in Troja durch den verstorbenen Tübinger Prähistoriker Manfred Korfmann (2005 mit 63 J.) überein.
Dieser fand 1996 einen Ohrring aus der Zeit etwa 1500 Jahre vChr im Straßenpflaster vor einer Burgmauer von Troja . Exakt vergleichbare Ringe gehören zum sog. Schatz des Priamos, den Schliemann (1822-1890) entdeckte. Also bei diesem Schatz von Fälschungen zu reden hielt Korfmann für völlig unsinnig.
Nun zur „Hethiter-These“: Anhand des Grabungsbefunds ist ein l u w i s c h, dh ein dem Hethitischen verwandter, ausgestorbener Sprachzweig, beschriftetes, bikonvexes Siegel das wichtigste Indiz für eine Verbindung mit den Hethitern. Latacz zufolge ist Troja mit großer Wahrscheinlichkeit identisch mit der in hethitischen Quellen belegten Stadt Wilusa (= (W)Ilios, was Korfmann durch seine Grabungen bestätigt hat.
Er fand eine unterirdische Quellanlage, deren Gestalt in allen Einzelheiten mit der Beschreibung einer Quelle in Wilusa im sog. Alksandu-Vertrag übereinstimmt. Aleksandu war ein hethitischer Herrscher des 13.Jh´s vChr.
Innerhalb der Klassischen Philologie ist Prof.Latacz der zur Zeit bekannteste Fürsprecher, der die Historizität der homerischen Epen und zugleich die Verbindung mit dem Korfmannschen Troja in Erwägung zieht. Doch ganz eindeutige Belege für diese Verbindungen sind nicht vorweisbar.
So bleibt also die homerische Frage weiterhin eine o f f e n e F r a g e.

II Homer und die Insel der Phäaken
Das ist unser Thema heute: im 2.Teil hören wir Homer lebendig werden in der Stimme von Mathias Wiemann, dem berühmten 1969 verstorbenen Schauspieler; er wird aus dem ersten Gesang der Odyssee in der ebenso berühmten Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1751- 1826) vortragen.

Ich möchte nun in dieses Thema einführen.

Der cantus firmus, der Haupt-Tenor oder das Oberthema der Odyssee ist nicht das Abenteurertum
oder die Irrfahrten des Helden Odysseus, vielmehr die H e i m k e h r, ein Geschehen, in dem sich etwas Urmenschliches, Archetypisches würde C.G.Jung sagen, offenbart. H e i m k e h r e n, wenn die Not oder auch die Freude der erzwungenen Ferne uns von den Wurzeln unserer Existenz getrennt hat durch Krieg oder gar Deportation oder durch eine große, lange Reise in die Ferne der Welt, das alles ist immer ein eine Art des „wieder- zu- sich- selber – kommen“. Odysseus sucht auf alle Weise die Heimkehr nach Ithaka. Die nach Babylon deportierten Kinder Israels erstreben die Heimkehr als die „Heimkehr der Erlösten“ (vgl. Jes 51, 11). Die Paulus- Seminaristinnen und -Seminaristen freuen sich seit bald 40 Jahren- das ist ein halbes Leben!- auf die Rückkehr in die Heimat nach ihren Studienreisen in viele Länder unseres, geschundenen, schönen, alten E u r o p a.
Mit der entscheidenden Wendung des Geschicks zum Guten, wie sie der Leidende, Vielgeplagte als eine göttliches Wunder verspürt, setzt die Odyssee ein. Im Rat der Götter spricht die Göttin Athene für ihren Liebling und die Götter beschließen die Heimkehr des Unglücklichen. Der ihm grollende Gott Poseidon, Bruder des Götter- und Menschenvaters Zeus, weilt im fernen Äthiopien, sucht die Heimkehr weiterhin zu verhindern. In den Reden der Götter erhebt sich der fromme, kluge, listige Mann, der es wohl verdient, dass ihm Götter Hilfe schenken. Und so steigt er schon herauf für uns Hörer oder Leser, wie er auf der fernen Insel der Göttin Kalypso sich sehnt und trauert. Dorthin führt uns der Flug des Götterboten Hermes. Dort muss sich der Gott seines unbequemen Auftrags entledigen.
Mal sehen, wie er das macht. Neugierig begrüßt Kalypso den „rüstigen Argosbesieger“ wie Homer Hermes zu nennen pflegt. Sie bewirtet ihn köstlich und beginnt ihr sein Kommen mit den Worten zu erklären: „Zeus trieb mich den Weg hierher, nicht eigener Wille“(vgl. V. Gesang,99ff) „Er sagt nun, es weile der Unglückseligste aller Männer bei dir, die Priamos Stadt neun Jahre bekämpften und im zehnten darauf mit Ilions Beute zur Heimat kehrten...alle seine Gefährten versanken im Abgrund. Nur er kam hierher, von Wind und Wellen verschlagen. Jetzt gebietet dir Zeus, ihn ohne Verzug zu entlassen. Denn ihm ward nicht bestimmt, hier fern von den Seinen zu, sterben; sondern ihm ist verliehn, seine Lieben wiederzusehen und das erhabene Haus und seiner Väter Gefilde.“ Kalypso erschrak. „Grausam seid ihr vor allen und neidischen Herzens, Ihr Götter, dass ihr den Göttinen es verargt, sich sterblichen Männern offen zu nahn... doch mög er denn gehen, wo ihn des Herrschers Wille hinwegtreibt über das wilde Meer...(188ff). Send ihn also von hinnen, sprach also der rüstige Argosbesieger, und scheue den großen Kronion, dass dich der Zürnende nicht mit schrecklicher Rache verfolge!...sprachs und enteilte der tapfere Argosbesieger.“ Noch zweimal muss Odysseus in das Dunkel, das Elend und die Niedrigkeit hinunter, um dann die Stufen, das Wiedererringen seines Hauses und seiner Gattin, die lang ersehnte Heimkehr zu erlangen. Ein langer Fries von Bildern läuft nun vor unserm innern Auge ab. So sehen wir Odysseus am andern Morgen im Wald, um dort allein die Bäume zu fällen, zu bearbeiten und ein gewaltiges Floß zu zimmern. Es ist ein freudiges Arbeiten, endlich geschieht wieder etwas. Sein Heimatdrang nimmt die Gestalt zielbewußten Schaffens an. Ausgestattet mit allem was er braucht, fährt er tagelang über das Meer ostwärts bis es ihn unter die Küste der Phäaken führt. Doch das Schicksalsungewitter holt noch einmal zu einem furchtbaren Schlag aus. Der von den Äthiopen wiederkehrende Gott Poseidon, Zeusbruder und Intimfeind des Vielgepagten, erspäht ihn und ruft einen Sturm herauf, der unter den v i e l e n Stürmen seines Lebens seines gleichen sucht. Wie da die Wolken auf einmal Land und Meer verhüllen und Nacht hereinbricht, es aus allen vier Windecken losfährt und Wogen auftürmt und mit einer riesenhaften Sturzflut das Floßschiff trifft, dass es erzittert und ihm der Mast bricht, wie dann die Winde sich einander das Wrack zu spielen wie ein tänzelnder Ball bis dann eine zweite Welle ihn sprengt- das ist Sturm, der uns auch an den Apostel Paulus an der Südküste Kretas und Maltas denken lässt. In diesem Aufruhr der Urgewalten r i n g t e i n M e n s c h s t e l l v e r t r e t e n d f ü r
v i e l e a n d e r e i n T o d e s n o t.
Er erscheint weniger als ein Nichts, nur dass in diesem Nichts ein E t w a s steckt mit einer schier unerschütterlichen B e s o n n e n h e i t (griech. Sophrosýne), die selbst in der letzten furchtbarsten Ermattung die Lage zu meistern versucht, indem sie die Lage erkennt und schnell ergreift. Bald ist es ein Erkennen der bedrohenden Lage, bald ist es das Mißtrauen des Leiderfahrenen, der weiß, dass es manchmal besser ist gar nichts als viel zu tun. Bald ist es der instinktive Einfall. Einen solchen Einfall gibt ihm seine Schutzgöttin Athene ein. Doch hören wir zuvor ihn selbst (vgl. V, 299 ff): „Weh mir, ich elender Mann (deilós). Was werd´ ich noch endlich erleben! Ach ich fürchte die Göttin verkündete lautere Wahrheit, die mir im wilden Meer, bevor ich zur Heimat gelangte, L e i d e n die Fülle verhieß. Nun wird sich alles erfüllen“. Er kann sich aus dem Andrang des Furchtbaren mit Hilfe der Göttin herausarbeiten, sich ans Floßholz klammernd wie an einen letzten Strohhalm, er kann das Land erreichen. Selbst in der Kraft der Urgewalten liegt etwas Rettendes, wenn der Mensch es zu erkennen vermag und er die gebotene Hand ergreift. Freilich nicht immer- das wissen wir zu unser aller Leidwesen. Doch wie unsagbar schwer ist das alles.
Doch als dieser Mensch nach tagelangem schweren Ringen gegen die Übergewalt des Schlimmen und Furchtbaren diesem endlich entronnen ist, da bietet er ein Bild der letzten völligen E r s c h ö p f u n g. So können wir uns Paulus an der Küste Maltas, wo wir 1994 gewesen sind, a u c h g et r o s t vorstellen.
Mit gedunsenem Leib liegt er gekrümmt, der Stimme beraubt, nach Atem ringend, ohnmächtig im seichten Wellenspiel des Flusses, der dort mündet, und Meerwasser strömt ihm aus Mund und Nase. Wer sich im Salzwasser, ob Mittelmeer oder anderswo, mal so richtig verschluckt hat, weiß, was das bedeutet. Und dennoch raffte er sich auf, begrüßt die ihn empfangende Erde wie eine Liebende.
Das alles hatte die ihm wohlwollende „blauäugichte“ Göttin Athene bewirkt in der Auseinnandersetzung mit dem zürnenden Poseidon, dem der Listenreiche den einäugigen Riesen-Sohn Polyphemos geblendet hatte. Sie fesselte den Lauf der Winde (vgl.V, 381ff), ließ stürmen den Nord... bis er zu den P h ä a k e n, den ruderliebenden Männern (phileretmoisi), käme, der edle (diogenés) Odysseus, emtflohn dem Todesverhängnis.

Vor der Rettung betete er im Herzen (vgl.V, 445ff):
„Höre mich, Herrscher, wer du auch seist, du Sehnlicherflehter! Rette mich aus dem Meer vor dem schrecklichen Grimme Poseidons! Ist doch geheiligt selbst vor unsterblichen Göttern ein jeder, der in der Not sich naht und fehlt um Schutz, so wie ich jetzt flehe vor deinem Strom, vor deinen Knien, in Jammer! Aber erbarme dich, Herrscher, denn deinem Schutz vertrau ich“. „Weh mir Armen, was leid´ich, was werd´ich noch endlich erleben“(465). Wie ein Tier verkriecht er sich unter trocknem Laub auf fremder Erde....aber Athene deckt ihm die Augen mit Schlaf, damit sie aller Ermattung ihn schneller entnähme, und schloß ihm die lieben Wimpern“ (491 ff). „Also schlummerte dort der göttlicher Dulder (polýtlas díos) Odysseus“ - so beginnt der Gesang VI der Odyssee. Die Gesänge VI. bis XII. spielen alle auf der Phäakeninsel, auf Scheria wie Kerkyra/Korfu bei Homer heißt, in denen Odysseus von all seinen Abenteuern berichtet. Erst im XIII. Gesang verlässt er die Phäaken und kommt in seiner Heimat-Insel Ithaka an. (vgl. die Gebetsstruktur: Erhörung-Bitte Flehen-Erbarmung-Vertrauen)
Einen größeren Gegensatz kann es nicht geben. Es ist schön und ergreifend, wenn sich das Bild des Furchtbaren des Seesturms und der Wellen, nun in ein Bild der heitersten Anmut verwandelt. N a u s i k a a- noch heute werden griechische Mädchen so genannt- die phäakische Königstochter, tritt nun in Erscheinung. Athene erscheint ihr im Traum und hält sie kurz vor ihrer Hochzeit an, an ihre hausmütterlichen Pflichten, das Waschen der Wäsche, zu denken. Eine Königstochter
ist davon nicht verschont. Wo? Just an dem Fluss, wo der göttlicher Dulder schläft. Alles wird vorbereitet. Die Maultiere zum Ziehen der Wagen für Nausikaas Begleiterinnen und Wäscherinnen. Der Proviantkorb- wir könnten fast Picknickkorb sagen- darf auch nicht fehlen. Wissen Sie, was da bei Homer steht? Das Wort κιστη= unser anscheinend so deutsches Wort : Kiste.(vgl. VI,76) Beim Ballspiel am Fluss fällt dieser hinein. Die Mädchen kreischten so laut auf, dass der Dulder erwachte.
Plötzlich stand er wie ein wildzerzauster Löwe vor ihnen. Diese flohen entsetzt. Nur Nausikaa blieb stehen. War sie eine Göttin? Sie sieht ihn an. Und oh Wunder: der Unmensch redet mit Verehrung, mit Zartheit, Bewunderung- Menschliches kommt zum Vorschein. Nausikaa versteht, antwortet tröstend und freundlich, verspricht eine Gewandung. Er bekommt es. Doch er ist noch Namenlos, ein Landfremder. Vom jungen Mädchen- war es Athene?- erfährt er in der Stadt, wo das Haus des Königs ist. Dieses strahlt von Gold und Silber und Odysseus bedenkt sich. „Lange stand bewundernd der göttliche Dulder Odysseus“ (VII, 133). Dann schritt er über die Schwelle und geht hinein. Sehr schnell gelangt er zum Sitz der Königin am Herd. Umfasst ihre Knie, wünscht s e i n e n S e g en über sie alle in der Halle und bittet um Geleit in die H e i m a t. (Odysseus segnet!) Homer kennzeichnet die Phäaken: „Denn gleich wie die Phäaken v o r allen Männern hurtige
Schiffe zu lenken verstehen, so siegen die Weiber in der Kunst des Gewebes; denn ihnen hatte Athene künstlicher Werke Geschick verliehn und kluge Erfindung“ (VII, 108 ff). Die Königin Aréte blickt auf das Gewand des Fremden und sieht, es ist Stück von ihrem Linnen, fragt ihn danach und erfährt von seiner gefährlichen Fahrt auf dem Floß, seinem Schiffbruch und
wie Nausikaa ihn damit beschenkte, und ist damit der Königin schon empfohlen. Dann kommt der Sänger. Er singt das heitere Stück, wie der wilde Kriegsgott Ares, den humpelnden, auf dem Fries im Parthenon mit Krücke dargestellten  Götterschmied Hephaistos zum Hahnrei machte und dieser dann abe r dank seiner schnellen göttlichen Schmiedekunst ihn mitsamt der goldnen Liebesgöttin Aphrodite mit einem spinnwebfeinen Netz aus Metall ans Bett, der Stätte seiner Untat bannte und alle Götter lachten- das berühmte Homerische Gelächter. Dann fragt der Fremde, ob er denn auch von Troja und dem hölzernen Pferd singen kann, das der listenreiche Odysseus ersann, mit Männern füllte und zum Verderben Trojas auf die Burg brachte. Der Sänger singt dieses Lied und so vernimmt Odysseus, wie er der Verschollene, tot geglaubte, im Liede lebt. Da schmilzt er hin und die Tränen rinnen über seine Wangen. Es ist eine Erschütterung der Seele, die bis an die Wurzeln des Lebens greift. Uns sicher nicht ganz fremd. Dem König Alkinoos sind diese Tränen des Gastes nicht entgangen. Der Sänger soll schweigen. Er fragt, wie es noch heute bei allen Griechen Brauch ist, zuerst nach dem Namen. Dann fragt er weiter nach dem Land seiner Herkunft. Und so nennt der Dulder seinen Namen Odysseus und nennt die Insel Ithaka, die ganz niedrig im Meere liegt, ein rauhes Land, doch Odysseus ist sie so süß wie nichts auf Erden: die Heimat (patrís-patrida vgl.IX,34). Jedoch, wie soll er seine Leiden sagen, womit beginnen, wo enden?
Doch er hebt an und wird zum Sänger seiner eigenen Heimkehr. In die beschauliche, sichere Welt der Phäaken dringt eine unbekannte, dunkle Welt ein und erfüllt die ganze Halle mit ihrer ungeheuren Gegenwart. „Vieles ist gewaltig, ungeheuer, unheimlich, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch“ beginnt das erste Standlied des Chores in der Antigone des Sophokles (332 ff). Hier ist es Jahrhunderte früher anschaulich hörbar geworden.( Homer datiert ins 8., Sophokles ins 5.Jh. v.Chr.) Die Phäaken hören als erste von den Kikonen, den Lotophagen, den Kyklopen, den Laistrygonen, von Skylla und Charybdis, vernehmen von Riesen, Menschenfressern, Zauberinnen, liebreizenden und schrecklichen Ungeheuern, die bald mit gefährlich verlockendem Gesang, dann wieder mit roher Tücke die Heimkehr bedrohen. Da erheben sich bittere Kämpfe, Raub und Untaten. Gefährten werden zerstückelt und am Spieß gebraten. Schiffe bersten, zerschmettern an Felsblöcken, welche Riesen von Uferbergen auf sie werfen. Da waren sie fast endlos auf dem Wege, er dehnt sich immer mehr, man fuhr über den Weltstrom hinüber in ein Land, wo die Sonne nicht mehr scheint, ins Schattenreich des Todes, den Hades.
Dort traf er die eigene Mutter Antikleia, die inzwischen aus Gram um den Sohn gestorben war. Er sprach den großen griechischen Seher Teiresias und große edle Frauen der Vorzeit. Ja, es war ein hartes Leben. In allem immer spürbar den Zorn des großen Gottes Poseidáon, den man beleidigt hatte, als man sich eines plumpen Unholds entledigt hatte, des einäugigen Polyphemos, der die Gefährten verschlang und der daher mit List geblendet worden ist. Sie hatten ja die Rinder des großen Sonnenbeherrscher gegessen (vgl I, 8). A n g e s p a n n t e K r a f t und K l u g h e i t .
Das waren im Unterschied zu seinen törichten Gefährten die Kennzeichen des göttlichen Dulders. So erzählt Odysseus und es wird klar und deutlich, dass hier unter den glücklichen Phäaken
ein Mensch ist, der Schicksal hat: „viel des Unheimlichen ist, doch nichts ist unheimlicher
als der Mensch“ (Sophokles). Der „V i e l v e r s c h l a g e n e ( ος μαλα πολλα πλαγχθη / os mala
polá planchte- Ges.I,2), „welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, vieler Menschen
Städte gesehn und Sitte gelernt hat und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet“ (Voß).
Ja, das ist er, der von den Phäaken Aufgenommene, der aber bei ihnen noch eine „Versuchung“
(vgl. VIII, 23) bestehen muss. Er muss nämlich bei ihren Kampf- und Sportspielen siegreich hervorgehen.
„...aber Pallas Athene hatte mit göttlicher Hoheit ihm Haupt und Schultern umgossen,
hatt´ihn höher an Wuchs und jugendlicher gebildet, dass bei allen Phäaken Odysseus Liebe
gewönne, mächtig und ehrenvoll er aus den Spielen der Kämpfer siegreich hervorginge...“ (19-23).
Nachdem „sie die Hände zum lecker bereiteten Mahle erhoben hatten“ (VIII,71), während der
Sänger zum Kummer des Odysseus, von ihnen unerkannt, von seinem Streit mit dem Peleiden
Achilleus vor Troja hören musste, drängte der König, dem die Trauer de Fremdlings nicht
entgangen war, zum Beginn des Kampfes mit der Faust (pyx), im Ringen (palaismosyne), im
Sprung (halma), im Wettlauf (podessi) und im Diskuswurf (diskos) zu beginnen.(vgl. „lecker“-
ein schon im 18.Jh gebräuchliches deutsches Wort-J.H.Voß)
Die edlen Königssöhne und Phäaken maßen sich im Kampf. Einer der Söhne tritt nun an den
Fremden heran und fragt, ob der denn auch „kämpfen gelernt“ (134) hat. Auch der König selbst
animiert Odysseus .Dann muss er Spott ertragen: er sei wohl kein Kämpfer, vielmehr ein Kaufmann.
„Wie ein Kämpfer siehst du mir nicht aus“ (oud´ athleteri eoikas- 164)!
„Finsteren Auges begann dann der erfindungsreiche (polýmetis) Odysseus: Mann, nicht fein ist
deine Rede!... es fehlt an verständigem Sinn dir! (vgl.165ff). ... ich bin kein Neuling im Wettkampf,
wie du eben geschwatzt...doch an der Seele nagt mir die Rede, du hast mich gefordert!“ Athene
steht im bei: kein Phäake wird dich erreichen oder besiegen!
Mit göttlicher Kraft ausgerüstet haut Odysseus rein und bringt die Phäaken nebst König zum
verstummen.
Dieser holt zum Lob seiner Phäaken aus: „Wir suchen kein Lob im Faustkampf oder im Ringen.
Aber die hurtigsten Läufer sind wir und die trefflichsten Schiffer. Lieben nur immer den Schmaus,
den Reigentanz und die Laute, oft veränderten Schmuck und warme Bäder und Ruhe!“ (VIII, 246
ff).
Zum Hören des Gesangs und der Laute versammeln sie sich nun wieder. Und Odysseus freute sich
des Gesangs und mit ihm alle Phäaken, die „Führer der lang beruderten Schiffe“ (368 ff). Und man
ehrt mit reichen Gastgeschenken. Der Abschied im vorbereiteten Schiff naht. Dort legt er sich
schweigend nieder. Die Heimfahrt – endlich!- beginnt.
III
Als der Morgenstern aufgeht läuft man auf Ithaka in den Porkyshafen ein und legt an. Man legt den
Schlafenden mit seinem Lager auf dem Sand nieder, stellt die Gastgeschenke am Ölbaum nieder
und fährt wieder davon. Der Schlafende hat die Heimat erreicht und weiß es nicht. Zwischen ihm
und der Heimat steht ja so vieles. Ein Nebel hat sich auf die Dinge gelegt. Er sieht, was er sieht.
Es ist alte Heimat und er kann sie nicht erkennen. Das kenne wir doch: es ist das Alte und es doch
s o verändert. Und so stürzt Odysseus auf dem sicheren Grund der Heimat noch einmal, wie so
oft auf seinen Irrfahrten, in eine schreckliche Ungewißheit. Auch das kennen wir als Menschen als
Menschen Jahrtausende später.
Wieder fragt er sich: wer wohnt hier? Wilde oder gesittete Menschen? Ehren sie das Gastrecht, die
philoxenía? Eigentlich können ihm selbst in der Heimat hier nur wieder Wunder helfen. Und
e r f ä h r t sie.
Athene, die bisher nur aus der Ferne für ihn handelte oder aus einem anderen Menschen für ihn
sprach, tut das, was die Götter nur selten tun: sie zeigt sich ihm in e i g e n e r G e s t a l t. Sie
steht auf einmal vor ihm als schöne, große, kluge Frau, streichelt und schilt ihn liebevoll, den
Schlimmen, dem die List schon so ganz zur zweiten Natur geworden ist. Doch eben darin sind
sich Göttin und Mensch ähnlich, dass ihm unter den Menschen keiner gleichkommt an Geisteskraft
und gewandter Rede, und ihr keiner unter den Göttern.
Nun ist sie da, um ihm sein Ithaka zu zeigen. Die Heimkehr muss sich erst vollenden.
Die Dinge stehen nicht gut auf Ithaka. Seit vielen Jahren ist der Herr verschollen und längst
irgendwo gestorben und verdorben. Wie lange will die Frau noch auf ihn warten, statt, wie es der
Brauch verlangt, sich einen anderen zu nehmen und dem herangewachsenen Sohn das Haus zu
überlassen.
Penelope (Penelopéia) ist eine schöne Frau, der Ruhm von Hellas. Und sie ist es wert, dass die
Edelsten um sie werben. Jedoch sie schwankt, will ihrem Sohn Telémachos nicht im Wege stehen
und doch dem Odysseus die Treue halten, solange sie nicht weiß, dass er wirklich tot ist. Und das
verschlimmert ihre Lage. Denn nun liegen ihre Freier im Hause herum, mißbrauchen die philoxenía,
das Gastrecht, sie verzehren schamlos das Gut eines anderen. Es ist eine verwilderte Jugend,
das Leben in der Stadt ist schlimm zerrüttet, seitdem der Herr fehlt. Der junge Sohn ist viel
zu schwach, um sich der frechen Eindringlinge zu erwehren. Der Vater Laertes ist viel zu alt und
müde; er kommt gar nicht mehr zur Stadt hinein, sondern plagt sich draußen auf seinem Gut, um
nur das Widerwärtige nicht zu sehen. Das Hausgesinde ist zerspalten. Die paar Getreuen müssen
sich ducken.
Als Odysseus von den schlimmen Zuständen zu Hause erfährt, während er mit der Göttin unter
dem Ölbaum sitzt, bricht von neuem die Not über ihn herein. Er fühlt sich verlassen. Auf welchen
von den Hausleuten kann er noch zählen? Aber die Göttin sagt ihm, dass er, bevor in die Stadt geht,
sich bei dem Sauhirten Eumaios, der draußen seine Schweine pflegt, über alles erkundigen soll.
Doch damit er sich zuhaus alles selbst ansehen kann, will sie ihn für jedermann unkenntlich machen.
Sie berührt ihm mit ihrem Stab und lässt ihn zu einem alten Mann zusammenschrumpfen,
steckt ihn in Lumpen, gibt ihm einen schäbigen Ranzen und einen Bettelstab in die Hand. So
genießt er den ewigen Vorteil der Bettler und Armen, dass er die Dinge und die Herzen schärfer
sieht. Er erkennt besser als jeder andere die Schlechtigkeit und die Güte und Treue der Menschen.
Im wilden, bergigen Waldgelände liegt das Gehöft des „göttlichen“ ( so heißt er bei Homer!)) Eumaios.
Odysseus steigt langsam den hohen Pfad zum Gehöft hinauf. Nur der scharfe Ruf des Sauhirten
hielt die Meute der Hütehunde davon ab, den alten Bettler zu zerreissen. Dann sitzen sich die
beiden Alten in der Hütte gegenüber. Eumaios ist einer, der sein Herz immer auf der Zunge trägt.
Er leidet wegen seines verschollenen Herrn und ist total böse über die Freier, die seine besten Eber
auffressen. Der unerkannte Herr sagt ihm, dass Odysseus bald zuhaus sein wird. Der Sauhirt will
davon nichts wissen. Denn ihn haben längst die Hunde und Vögel oder die Fische im Meer gefressen
und tiefer Sand deckt seine Knochen. In schmerzlicher Hoffnungslosigkeit hängt er an seinem
Herrn. Odysseus spürt, dass er in diesem ehrlichen und frommen Herzen in der Heimat lebt.
Aber als neugieriger Grieche möchte Eumaios die Geschichte dieses Alten hören.(vgl.XIV, 185 ff).
Und der listenreiche Odysseus voller Trug bindet ihm eine ins Niedrige gebogene Lebensgeschichte
auf.
Er sei ein K r e t e r,
(hört,hört- denken wir ans NT. Der Titusbrief (1,12) zitiert einen griechischen
Propheten- so nennt er den Epimenides , der die Kreter schon im 6.Jh vChr., „immer Lügner, wilde
Tiere und faule Bäuche“ genannt hat.- 1981 hat ein Finanzminister die Griechen in die EU
geführt! )
Sohn einer Kebse-eines Nebenweibes-, ein unruhiger Geist, regelmäßiger Arbeit ebenso abhold wie
dem regelmäßigen Genuß seines Besitztums, nur immer Schiffe, Waffen,Kriegshändel im Kopf, ein
Abenteurer in Ägypten, Phönikien und Libyen, Beutemacher, ein Korsar, bei welchem das, was
dem wirklichen Odysseus schuldloses Leid und Schicksal ist, bei ihm nur als Folge eines ewig
unruhigen Gemüts ist. Er erzählt sogar, dass er von Odysseus gehört habe. (321) Sein zerlumptes
Gewand hätten ihm fremde Männer verpasst. Eumaios reagiert erschüttert auf diese Lügenmärchen,
das aber Züge der Irrfahrt des wahren Odysseus trägt.
Ich finde das hochinteressant, dass Homer dem wahren Odysseus einen falschen gegenüber stellt.
Doch der ehrliche Eumaios ist auch skeptisch: „was brauchst du,Alter, vor mir auch so in den
Tag zu lügen.“(364 f) Seiner Überzeugung nach ist Odysseus ruhmlos von den Harpyien hinweggerafft
worden. Doch ich glaube, Eumaios ahnt irgendwie, dass sich hinter dem zerlumpten Alten
ein anderer, vielleicht sogar sein Herr verbirgt. Er umsorgt ihn so rührend wie ihn die Phäaken
umsorgt haben. Schweine-Leckereien und Wein und ein bestes warmes Lager am Feuer sind ihm
nicht zu teuer. Er schläft warm in der Hütte, während draußen der Regen strömt und der Westwind
heftig pfeift.

Allein die Göttin hat noch etwas anderes vor. Sie erscheint Telemachos im Traum, wie sie der
Nausikaa bei den Phäaken erschienen war, und beauftragt ihn, am nächsten Tag beim Sauhirten
nach dem Seinen zu schauen. (vgl. Gesang XV) So sorgt sie dafür, dass Vater und Sohn sich
wiederfinden werden.
Als dieser am nächsten Morgen kommt, ist sowohl der Sauhirt überrascht als auch der Vater erfreut
und gerührt. Telemachos begegnet dem Alten sehr liebevoll. Dieser weicht dem jungen Mann
vom Sitz;er nötigt aber den Bettler, dass er sitzen bleiben möge. Das ist nur eine der unendlich
vielen kleinen Szenen, von denen es bei Homer nur so wimmelt. Man sollte sie nie überlesen.
Vater und Sohn sind nun allein beisammen. Jetzt erlebt der junge Mann, wie der Zerlumpte ihm
zuspricht. Er ermahnt ihn, sein Sinnen und Trachten darauf zu richten, die parasitischen Freier,
von denen ihm der junge Mann berichtet hatte, zu töten und aus der Welt zu schaffen. Er solle
eindeutig ein Mann sein zum Ruhme durch die Nachwelt. Das Wort des Zerlumpten ergreift den
Jüngling wie das Wort des aus dem Meer Entstiegenen Nausikaa ergriffen hat.
Und eigentümlich: unter dem Wort seines unerkannten Vaters erwacht Telemachos zum Mann.
Er spürt die Macht, die von dem Fremden ausgeht. Er fragt sich, ob es wohl ein Gott ist, der zu
ihm spricht. Denn immer wieder spricht ein Gott, wir würden sagen: das Göttliche aus einem
Menschen. Das hat sich im Glauben der Religionen nicht geändert.
So kann sich Odysseus dem Sohn getrost entdecken(vgl.Gesang XVI). Telemachos erkennt den
Vater- eine ungeheure Szene. Nun besprechen sich Vater und Sohn, was zu tun ist. Odysseus wird
morgen ins eigene Haus kommen und für eine Weile den Bettler spielen. Sie werden ihn schmähen
und mißhandeln, nach ihm werfen. So wird am dritten Tag in Ithaka den Weg seiner Leiden noch
weitergehen. So wird er als Bettler wachsen. Es wird sich zeigen, dass sich Größe auf keinen Fall
verbergen lässt.
Doch der Herr des Hauses ist zunächst überrascht nach der Heimkehr von der Schönheit seines
Hauses, das er zwei Jahrzehnte entbehren musste. Kennen wir dieses Gefühl nicht auch bei der
Heimkehr nach eine kürzeren Reise- oder anderen Abwesenheit?
Und wieder eine kleine homerische Szene (vgl.XVII, 291 ff): im Hof auf dem Mist liegt verachtet
und verkommen ein alter Hund „von seinen Läusen zerfressen“ (300). „Argos, des Dulders Hund,
den er vorzeiten selber erzog... er aber erkannte Odysseus, und er wedelte mit dem Schwanz und
senkte die Ohren; aber er war zu schwach, dem Herrn entgegen zu laufen. Aber Odysseus sah es wohl und wischte verstohlen vor Eumaios die Träne vom Aug´...“
Und nun im Haus wieder eine ungewöhnliche Szene (vgl. Gesang XVIII):
Iros, der Bettler des Ortes betritt die Halle. Ein langer, feister Kerl, doch ohne Mark und Bein wie
man so sagt. Dieser plustert sich Odysseus gegenüber auf und provoziert ihn ähnlich wie einer der
Jünglinge der Phäaken. Ein Bettler-Zweiskampf- das verspricht einen Hauptspaß. Auf dem Feuer
liegen Bratwürste zum Grillen. Dem Sieger soll die schönste davon gehören. Die Stimmung
brodelt. Doch wie der Zerlumpte seine Lumpen abwirft, Schultern,Arme und Schenkel sichtbar
werden, staunt man: was hat der Alte Fleisch auf den Lenden. Athene hatte dem „Hirten der Völker“
(poiméni laón) die Glieder gestärkt (70)!
Iros schwindet der Mut, doch er muss ran. Odysseus schlägt nur sachte zu und Iros liegt blutend und
zappelnd auf dem Boden. Die Freier sterben vor Lachen. Amphinomos, Freier aus gutem Hause,
trinkt mit dem Becher ihm zu und hört mit Erstaunen die Antwort des Alten:
Der Mensch sei das elendigste Geschöpf auf Erden (vgl.130 -wir denken an Sophokles, s.o.S.6).
Geht es ihm gut und er ist guter Dinge, bildet er sich ein , es könne ihm nichts geschehen;doch
schicken die Götter ihm Unglück, so trägt er das nur widerwillig mit gedrücktem Herzen. Denn so
wie gute und böse Tage kommen, ist auch der Sinn des Menschen immer ein anderer. Darum soll
der Mensch niemals vom rechten Wege abgehen und still bei dem bleiben, was ihm die Götter
geben. Hier spricht der Weise. Dann aber der Prophet: die Freier treiben schlimme Dinge; Fressen
fremdes Gut und spotten der Gattin des fernen Herrn. Doch er bleibt nicht fern. Er naht schon. So
wetterleuchtet es aus den Worten des Bettlers. Amphinomos ahnt schlimmes Unheil.
Und nun führt Athene Schönes, eine ungeheure Überraschung, herbei. Odysseus soll seine ersehnte
Gattin nach all den Jahren das erstemal wiedersehen. Müssen wir da nicht an die unendlich
vielen Männer denken, die einen der furchtbaren Kriege überlebt haben, h e i m k e h r e n und die
geliebten Menschen, nach denen sie sich s o gesehnt haben, w i e d e r s e h e n?
Athene sorgt dafür, dass sie ihm nicht als Gramgebeugte, Leidzerstörte entgegentritt. Er soll sie
in einem höchsten Augenblick ihrer Schönheit und Klugheit vor sich sehen. Nun ist sie die Treppe
hinabgestiegen, zieht sich mit der Hand den Schleier vor die Wangen und steht am Pfeiler. Den
Männern im Saal zittern vor Verlangen nach ihr die Knie. Eurymachos preist sie: wie sie doch
weit und breit die schönste Frau ist!
Doch davon will sie nichts hören. Sie beklagt vielmehr ihr Leid und die Art, wie die Freier ihr
Gut verzehren . Der Bettler sieht und hört es. Athene hat ihm eine nochmalige Prüfung durch die
Freier auferlegt. Derselbe Eurymachos provoziert ihn gewaltig.Er schilt ihn arbeitsscheu und einen
nimmersatten Bauch. Da kocht es in Odysseus hoch. Er sollte ihn mal kennenlernen. Eurymachos
schmeisst ein Fußbank nach ihm, trifft aber einen Mundschenk am Arm; sein Krug fällt krachend zu
Boden. Jetzt fährt Telemachos dazwischen: Betrunken seid Ihr! Sie staunen über den Jüngling, was
der sich herausnimmt. Amphinomos beschwichtigt. Sie verlassen die Halle. Vater und Sohn nehmen
die Waffen von den Wänden und schaffen sie in die Waffenkammer, die sie verschließen.
Odysseus ist in der Halle zurückgeblieben. Und so sitzt Odysseus am Abend dieses Tages in der
leer gewordenen Halle Penelope im Kreise ihrer Mägde als unerkannter B e t t l e r gegenüber.
Sie hört von seinen Leiden, er hört von ihren. Aus beider wechselnden Worten ergibt sich eine
unerkannte Zuneigung. Sie fragt nach Namen und Herkunft. Er will darauf nicht antworten. Sie
sagt: ihr Glück sei vernichtet, seit Odysseus mit dem Heer nach Troja fuhr. Sie verrät und entdeckt
ihm, dass sie an dem Bahrtuch für den alten Laertes-Vater nachts wieder alles auftrennt, was sie
tagsüber gewebt hat. Noch einmal fragt sie nach seiner Herkunft. Da erzählt ihr Odysseus seine
Geschichte, aber nicht die wahre. Sie weint und schmilzt dahin. Dem Odysseus tut sie leid, wie
er sie weinen sieht. Doch als sie wieder gefasst ist, prüft sie ihn und fragt nach Kleidern, die
Odysseus damals getragen hat. Er beschreibt dieses Kleid genau. Es wurde spät,als sie so geredet
hatten.
-12-
Zur Nacht hat sie ihm dann ein Bett und Fußwaschung angeboten, wie es in der gesamten Antike
üblich gewesen ist durch Bedienstete und Sklaven. Und jetzt ereignet sich wieder wieder eine der
unendlich vielen,schönen homerischen Szenen (vgl.XIX., 350 ff):
sie beauftragt die alte Eurykleia, die schon Odysseus als Baby in den Händen gehalten hatte. Er
befürchtet, sie könne seine Narbe am Fuß entdecken, die er sich bei der Eber-Jagd einst zugezogen
hatte. Und genauso geschieht es. Sie erkennt ihn, vergießt das Wasser vor Schreck:
d u b i s t O d y s s e u s ! Er packt sie an der Kehle: Mütterchen, willst du mich verderben?!
Du kennst mich doch- ich bewahre dein Geheimnis!
Penelope hat von allem nichts mitbekommen. Am nächsten Tag ist Apollon-Fest, des Gottes, der
den Bogen führt. Der Bogen wird ja hier auch die Entscheidung bringen. Die Freier benutzen den
Tag wie immer, um zu schmausen. Odysseus ist noch der unbekannte, namenlose Bettler. Der Tag
der Entscheidung ist angebrochen. Opfer-Tiere werden gebracht. Sei werden geschlachtet. Fleisch
wird gebraten und Wein wird gemischt. Odysseus muss gleichsam am „Katzen-Tisch“ sitzen,
wenn das erlaubt ist so zu sagen. Die Opfer-Rituale beginnen. Das Bogen-Waffen-Spiel soll
beginnen: wer den Bogen des Odysseus spannt und mit dem Pfeil durch die Ösen der 12 Äxte
schießt, dem wird sie folgen.
Odysseus sieht aus dem Hintergrund die Erregung im Saal. Auch in Telemachos wogt es. Der Preis
für den Wettkampf ist eine Frau wie keine ganz Hellas. Der Kampf soll reihum im Saal beginnen.
Zuerst Leodesa. Er muss den wieder beiseite legen. Antinoos, der den Ersten höhnt, bringt es ebenfalls
trotz aller Schau nicht fertig, ihn zu spannen. Zuletzt legt Eurymachos den Bogen aus der
Hand. Sie bringen es alle nicht fertig ihn zu spannen. Ein Schlauer regt die Vertagung an: heute am
Fest trinken wir. Morgen wird der Bogen gespannt.
Für Odysseus ist der kairós, der Zeitpunkt gekommen, dass der Bogen in den starken Arm des
Herrn gelangt, dass aus Spiel Ernst wird. Das Unerhörte, Unfassliche geschieht: der Bettler, der
Zerlumpte, verlangt den Bogen. Riesige Empörung im Saal. Der Mensch ist betrunken, wahnsinnig!
Aber Penelope ist dafür, dass man ihm den Bogen gibt. Telemachos verlangt von der Mutter das
Vergaberecht des Bogens. Er winkt dem Sauhirten. Der nimmt den Bogen und geht mit ihm zu dem
Bettler. Legt ihm den Bogen in die Hände. Telemachos befiehlt der alten Dienerin Eurykleia, die
Türen zu schließen. Der Sauhirt hat inzwischen das Hoftür mit einem festen Seil verschlossen.
Odysseus hält den Bogen in der Hand und mustert ihn. Haben Würmer das Horn zerfressen?
Die Freier bemerken: er ist ein Kenner. Nun spannt er ihn ganz gemächlich, zupft dann mit der
Rechten an der Sehne und gibt einen Klang wie „Schwalbenzwitschern“( wie Homer so schön sagt
vgl. XXI, 411).
Er nimmt den nackten Pfeil, legt ihn auf den Bügel, bleibt ruhig auf dem Stuhl sitzen, zieht die
Sehne an, zielt, schießt und verfehlt keine einzige von den Äxten.
Jetzt wirft er seine Lumpen von sich, springt auf die Schwelle, entleert den vollen Köcher vor
sich auf den Bogen und ruft laut in die Halle hinein:
Das S p i e l ist aus ! J e t z t k o m m t e i n a n d e r e s Z i e l h e r a n! (outos men
de aethlos aaatos ektetelesthai - „dieser Wettkampf,der regelrechte,ist nun geendet!“
W.Schadewaldt, vgl.XXII,5)
Er richtet den Bogen auf Antinoos, der ahnunglos den goldenen zweihenkligen Krug zum Munde
führt. Da sitzt ihm der Pfeil mitten in der Gurgel und tritt am Nacken wieder heraus. Entsetzen
und Aufruhr im Saal. Diesen Schuß bezahlst du mit deinem Leben- tönt es laut im Saal. Man denkt,
er habe versehentlich getroffen. „...du kämpftest heute den letzten Kampf! Dich packt das jähe
Verderben!^Denn du erschlugst uns hier den Mann, der von allen der beste Held ( os meg´ aristos
kouron ein Ithaki )in Ithaka war. Drum sollen dich die Geier fressen!“ (XXII,27 ff). Der erfindungsreiche
Odysseus blickt sie an: „ Ihr Hunde, ihr glaubtet, ich käme nimmer nach Hause fern aus der
Troer Land. Drum habt ihr mein Haus hier gefressen, habt mit Gewalt bei den dienenden Frauen im
Bette gelegen, habt sogar um mein eigenes Weib, da ich lebte, geworben ohne die Götter zu
scheuen...jetzt seid ihr alle im Netz des Verderbens gefangen!“
Diese Worte schossen wie Blitze aus dem Himmel. Der Kampf mit den Freiern ist zu Ende. Alle
Entschuldigungen, alles Verstecken waren umsonst. Dennoch ermahnte Athene ihren Schützling
mit folgenden Worten: „ Hast du nicht mehr die beharrliche Kraft und Stärke, Odysseus, so wie
du einst um Helena kämpftest, die Edelgeborne, dort bei den Troern, durch neun Jahre, ohne zu
ruhen. Viele Männer hast du erschlagen im grausen Getümmel bis d e i n e r L i s t erlag des
Priamos ragende Feste.(V.224 ff) Außer dem Sänger und dem Herold entkam niemand. Sie liegen
hingestreckt in ihrem Blut. (vgl. Gesang XX)
Doch auch den untreuen Dienerinnen geht’s ans Leben. Zunächst muss das Haus gesäubert werden
vom Blut und Unrat der Verruchten. Odysseus lässt sie aufhängen. Die treuen Dienerinnen erkennt
er alle wieder. Unglaublich ist es, dass Penelope von all diesem grausigen Geschehen nichts mitbekommen
hat. Sie schlief in ihrer Kammer, ja sie schläft gleichsam der Erlösung von all i h r e m
Leid entgegen sowie Odysseus auf der letzten Seefahrt seiner H e i m a t und seiner
H e i m k e h r entgegenschläft. Auch der Schlaf ist wie der Mensch etwas Ungeheures.
Da kommt die alte Schaffnerin Eurykleia die Treppe hinaufgestiegen, die alten Füße überstürzen
sich und sie steht vor Penelopes Bett mit dem freudigsten Ausruf: „Auf Penelope, liebes Kind!
Odysseus l e b t, er ist gekommen und erschlug hier im Hause alle Freier!“
Die Alte denkt, sie wird vom Lager springen vor Freude. Doch nichts dergleichen, vielmehr die
antwort: „Mütterchen, bist du wahnsinnig geworden? Jagst mich mit deinem Ruf aus einem Schlaf,
wie ich ihn nicht mehr schlief, seitdem Odysseus nach Troja aufgebrochen ist.
Solangsam wallt die Freude in Penelope auf, sie fällt der Alten um den Hals und weint. Sie beginnt
sie auszufragen. Doch dabei kommt ein eigentümlicher Zweifel mit Glauben vermischt in ihr auf.
Ist es wirklich Odysseus oder etwa ein Gott, der herabgestiegen ist und den der Frevel der Freier
seit langem erzürnt hat? Die Alte erzählt von der Narbe des Fremden und sie Odysseus daran erkannte.
Aber Penelope will´s und kann´s nicht glauben, sie zweifelt immer noch. Sie will jetzt
und muss sich selbst überzeugen, hinabgehen und die toten Freier sehen und i h n, der sie erschlug.
(vgl.Gesang XXIII) -vgl. den Zweifel bei Sarah und Abraham.
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„... da lächelte still der göttliche Dulder Odysseus, wandte sich rasch zum Sohn und sprach die
geflügelten Worte: Lieber Telemachos, laß nur die Mutter hier im Hause mich prüfen; sie wird
sioch schon bald eines besseren besinnen. Jetzt, da ich schmutzig bin und trage die traurigen Lumpen,
achtet sie mich gering und glaubt, ich sei es nicht selber.“ (Vgl.V.111 ff)
Durch ein geheimes Zeichen will er sie prüfen: das Bett, das er selber gebaut hat, soll Eurykleia
hier in der Halle aufstellen und ihm hier das Lager bereiten lassen. Dieses Bett hat sich der
erfindungsreiche Dulder aus einem gewaltigen Ölbaum selbst gezimmert, just an der Stelle,
die er sich zum Schlafgemach ausersehn hatte. Nun weiß er nicht, steht es noch wie damals oder hat
es jemand an der Wurzel abgehauen, die die Pfosten des Bettes waren?
Penelope erkennt das Zeichen, ihre Kniee zittern, sie läuft weinend zu ihm, wirft die Arme um ihn
und küsst ihn: Sei mir nicht böse, Odysseus! Verstehe mich bitte! Die Götter raubten ihnen soviel.
Sie wurden um den Genuß ihrer Jugend betrogen. Wir denken hier unendlich vielen jungen
Menschen, die in den letzten Kriegen dasselbe Schicksal ertragen mussten.
Sie zitterte immer, dass ein Betrüger kommen würde und ihn hintergehen könnte. Ironie des
Schicksals: nun ist der listenreiche Betrüger der Ehegatte selbst. Er ist in Tränen aufgelöst, wie er
sie im Arm hat. Penelope ist aber wie einem zu Mute- so kann sich das Geschick umdrehen-, den
Poseidon im Meer sein Schiff zerschlug und der, nachdem er l a n g e gekämpft hatte, nun endlich
wieder festen Boden unter den Füßen hat.
Odysseus ist heimgekommen.
Eurynome und alte Dienerin, die Odysseus in ihren Armen getragen hatte, bereiten Penelope und
Odysseus das Lager, sie geleiten die beiden mit der Fackel in der Hand zur Kammer und diese
erreichen voller Freude und sicher großer Dankbarkeit das alte, aus der gewaltigen Olive
gezimmerte Bett.
Der letzte, XXIV. Gesang der Odyssee, der Gesang des Vertrags, endet mit folgenden Worten:
„... zu Odysseus sprach die Göttin Athene:
Göttlicher Sohn des Laertes, erfindungsreicher (polyméchan) Odysseus,
halte nun ein und laß von dem allverderbenden Kampfe,
dass dir Kroníon nicht zürne.
Sprach´s, die Göttin, und er g e h o r c h t e f r e u d i g e n H e r z e n s.
Sie aber setzte von neuem den heiligen Bund zwischen allen,
unter Mentors Gestalt, ihm gleich an Wuchs und Stimme.
Pallas Athene, die Tochter des Zeus, der die Aigis erschüttert.“ (V. 541 ff)
Ich beende meinen Vortrag mit Worten eines Deutsch-Griechen HerrnDipl.Ing.Eleftherios Pliatskas,
die er am Beginn seines Festvortrags zum 50 jährigen Bestehen der griechischen Metropolie 2013
in Düsseldorf -Eller in der Ajios Andreas-Kirche gesprochen hat:
„Ein markantes, man wäre geneigt zu sagen, ein schicksalhaftes Pathos unseres Volkes ist es,
dass Odysseus in der Seele jedes Griechen weiterlebt. Dies ist sicher eine Erklärung der Tatsache,
dass seit alten Zeiten ein guter Teil unseres Volkes überall in der Welt verstreut ist. Der andere
Grund dafür, sind die vielen, fast diachronischen Heimsuchungen des griechischen Volkes, vor
allem während des 2.christlichen Jahrtausends. Die vorletzte von diesen war der Zweite Weltkrieg
mit den anschließenden Wirren im Inneren unseres Landes, die neueste Heimsuchung ist die
ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise.“

Dr. Ekkhard Schendel, Essen