Studienreise ins Baltikum zur Zeit der Weißen Nächte 29. Juni -11. Juli 2000

1. Reisetag, Donnerstag 29. Juni

Pünktlich  brachen  wir  mit  dem  Bus  aus  Hardert  im  Westerwald  von  der  Matthäikirche zum  Flughafen  Frankfurt  auf.  Eine  kurze  Andacht,  durch  zwei  Choräle  eingerahmt, stimmte  uns  auf  die  Fahrt  ein.  In  einer  knappen  Einführung  betonte  Herr  Becks  den Beitrag,  den  deutsche  Siedler  über  Jahrhunderte  bei  der  Erschließung  und  dem  Aufbau der  baltischen  Länder  geleistet  hatten,  für  manche  von  uns  seien  die  Erinnerungen  an baltendeutsche Vergangenheit  noch lebendig.  Deutscher Verrat habe aber auch 1939 die jungen baltischen Nationen  der  Sowjetunion  ausgeliefert.  Wie  öfters  bei  Reisen  ins  europäische  Ausland,  empfand  ich  als Historiker zwiespältige Gefühle.

Der  Abflug  erfolgte  mit  leichter  Verspätung.  Als  wir  am  späten  Vormittag  nach  einem  Flug  von  110 Minuten die Wolkendecke bei Vilnius durchbrachen, bot sich ein Blick auf ausgedehnte Wälder, dann einen Fluss  -  die  Vilnius  durchfließende  Neris  -  Mietshäuser  und  Schrebergärten.  Die  Besiedlung  war  aufgelok- kert,  mit  sehr  viel  Grünflächen  durchsetzt.  Die  Abfertigung  durch  die  Zollbeamten  erfolgte  zügig,  freund­ lich und unbürokratisch.
Daiva,  unsere  Betreuerin  und  Begleiterin  in  den  nächsten  Wochen,  erwartete  uns  mit  Valentin,  dem Busfahrer,  am  Eingang  des  Flughafens.  Noch  auf  dem  Weg  zum  Hotel  Carolina  gab  uns  die  kompetente, sprachlich  gewandte  und  freundliche  Daiva  erste  praktische  und  historische  Informationen:  4  Litai  (Mehr­ zahl  von  litas)  entsprächen  1  DM,  ein  Bier  (0.5  1)  koste  8  Litai.  Drei  Arten  von  Supermärkten  seien  zu unterscheiden,  Maxima,  Media  und  Minima.  Eine  Maxima  befand  sich  in  unmittelbarer  Nähe  unseres Hotels  und  lehrte  uns  anschaulich,  wie  groß  die  Kluft  zwischen  dem  reichen  Warenangebot  und  den schmalen Portemonnaies der Litauer ist.

Drei Legenden - Legenden sind im Baltikum noch lebendig und beliebt - machten uns mit der Gründungs­ geschichte von Vilnius bekannt: (1) Fürst Gediminas hatte bei einem Jagdausflug einen Traum, in dem ihm ein  eiserner  Wolf,  so  laut  wie  100  Wölfe  heulend,  entgegentrat.  Des  Fürsten  Wahrsager  erklärten  die Erscheinung als Aufforderung zur Gründung einer Stadt, die später weit über ihre Grenzen berühmt werden sollte.  (2)  Bevor  Gediminas  jedoch  fremde  Kaufleute  einlud,  sich  in  der  Stadt  niederzulassen,  sollte  die Stadt  nach  dem  Wunsche  der  heidnischen  Priester  durch  ein  Menschenopfer  geweiht  werden.  Das  aus­ ersehene  Opfer,  ein  junger  Mann,  überlistete  sie  jedoch  durch  drei  Fragen.  (3)  Die  ihn  ersetzende  junge Frau wurde wundersam durch einen Blumenstrauß gerettet: Legenden mit happy ending - zur Erbauung und Beschwichtigung der Neuankömmlinge.

Ein  erster  Blick  auf  das  Wahrzeichen  der  Stadt,  den  Gediminasturm,  aus  fahrendem  Bus;  im  Tiergarten­ viertel  sahen  wir  manch  baufälliges  Holzhaus.  Wir  erfuhren  auch,  daß  knapp 60% der Bewohner von Vilnius (Gesamtzahl: 580.000) Litauer sind, 18% Russen und 19% Polen.

Eine Pause von 90 Minuten erlaubte uns, unsere Zimmer zu beziehen, Geld zu wechseln, erste Einkäufe in der Maxima zu machen. Dann erwarteten uns Daiva und  Irma,  eine  Germanistin  mittleren  Alters,  um  uns,  in  Gruppen  aufgeteilt, Vilnius zu zeigen.

Noch  bei  der  Anfahrt  zur  ersten  Kirche  bereicherte  Irma  unser  Wissen  über Vilnius/Wilna:
■  die “drei Perlen“ von Vilnius seien Gotik, Barock und Klassizismus;
■  Vilnius sei in das Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen;
■    der  wirtschaftliche  Rückgang  nach  dem  Zusammenbruch  des  Kommunismus (Verlust des russischen Marktes) habe hohe Arbeitslosigkeit hervorgerufen;
■  Vilnius habe seinen Namen vom kleinen Nebenfluss der Neris, der Vilnia.

Unsere  Besichtigungstour  begann  mit  der  Kirche  Sankt  Peter  und  Paul.  Von der  Magnatenfamilie  Pacas  in  Auftrag  gegeben,  wurde  sie  hauptsächlich  von italienischen Architekten und Künstlern (Frediani, Peretti, Giovanni Galli) zwischen  1668  und  1704  erbaut  und  ausgeschmückt.  Das  Innere  ist  mit  über 2000 Gestalten und Gesichtem in Stuck verziert, blieb aber letztlich unvollendet: ein Großaltar fehlt, einige Reliefs und Panneaus sind unvollständig. Die ‘wunder­ bare  Harmonie“  (Baedeker)  und  der  “überwältigende  Eindruck  des  Innenrau- mes“  (Baedeker,  Irma)  konnte  ich  nicht  nachempfinden,  auf  mich  wirkte  die Kirche kühl und ungemütlich.

In  der  Nähe  der  Freilichtbühne,  auf  dem  rechten  Ufer  der  Vilnia  besuchten  wir den  Hügel  der  Drei  Kreuze  (Trijy  Kryziy),  ein  stark  frequentierter  Aussichts­ punkt, von dem man nach Westen und Südwesten sehr gut die Stadt überblicken kann.  Kühle  Böen  verscheuchten  uns  aber  bald  von  dort.  Die  drei  Kreuze  er­ innern an drei hier im Mittelalter gekreuzigte Missionare, sind aber auch ein Mahnmal für die 600.000 litauischen Opfer des 2. Weltkrieges und der Sowjetherrschaft.

Die  Stanislaw-Kathedrale  war  unser  nächstes  Ziel.  Der  Kathedralenplatz  wurde  gerade  mit  einem  neuen ebenen Bodenbelag versehen. Rechts vor der Kathedrale steht der 57m hohe Glockenturm, ursprünglich ein Teil der Unterburg. Die Fassade der Kathedrale erinnert mit ihren 20m hohen Säulen und ihrem Giebelfeld an einen griechischen Tempel. Dort, wo seit dem 13. Jahrhundert mehrere Kirchenbauten nachweisbar sind, errichtete  zwischen  1783  und  1801  Laurynas  Stuola-Gucevicius  einen  klassizistischen  Bau.  Ein  wertvolles Zeugnis  des  Frühbarock  stellt  die  Kasimirkapelle  (1624-36)  in  der  Südostecke  der  Kathedrale  dar.  Sie wurde  nach  der  Heiligsprechung  (1602)  des  wundertätigen  Fürsten  Kasimir,  eines  Enkels  des  litauisch­ polnischen Königs Jogaila (polnisch Jagieflu), wahrscheinlich von einem Italiener erbaut.

Am Sitz des Präsidenten der Republik Litauen vorbei, dem   ehemaligen   Bischofspalais,   gingen   wir   durch mehrere  Höfe  der  Universität.  Sie  wurde  1572  als erste  Universität  im  Baltikum  von  König  Stefan  Bato­ry  gegründet.  1832  nach  der  Novemberrevolution in Polen und Litauen wurde sie vom Zaren geschlossen,weil  die  studentischen  Geheimgesellschaften  der  Philomaten  und  Philoreten  an  der  Universität  aktiv  an den  Aufständen  beteiligt  waren.  Erst  nach  dem  1. Weltkrieg konnte sie ihre Tore wieder öffnen. Beein­ druckend ist die wellenförmige Fassade der barocken Johanneskirche im Großen Hof.  Über  die  Burgstraße  (Pilius  Gatvö)  führte  uns  der  Weg  in  die  schöne  Bemhardinerstraße  (Bemadinu Gatvć),  wo  wir  in  einige  interessante  Hinterhöfe  schauten.  Im  Haus  Nr.  11  wohnte  1822  der  polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz (Adomas Mickieviöius). Die gotische Perle von Vilnius stellt das Ensemble  von  Annenkirche,  Bemhardinerkirche  und  ~kloster  dar. Großartig  mit  ihren  weißen  Blendfen- stem  die  Renaissancefassade  der  Bemhardinerkirche  (< Bernhard  von  Clairvaux),  die  relativ  kleine Annenkirche  beeindruckt  durch  ihre  kraftvoll  aufwärts  strebenden  und  sich  kreuzenden  Backsteinsäulen und -wülste: sie erweckte bei mir Assoziationen mit Antonio Gaudis Sagra Familia in Barcelona.

Ein  Besuch  in  der  südlichen  Altstadt  rundete  unser  Besichtigungsprogramm  ab: durch  das  AuSros-Tor  (Tor  der  Morgenröte),  unter  dessen  Bogen  viele  Männer und  Frauen  bettelnd  standen,  ging  es  in  die  Altstadt.  Auf  der  Innenseite  über dem   Torbogen   wird   ein   auf   acht   Eichenholztafeln   gemaltes   Muttergottesbild aufbewahrt,  das  als  wundertätig  gilt  und  bei  gutem  Wetter  durch  das  offene Fenster  sichtbar  ist.  An  der  Theresienkirche  (rechts),  dem  hübschen  spätbarok- ken  Basiliustor  und  der  Philharmonie  (1906)  (beide  links)  vorbei  gelangt  man zum klassizistischen Alten Rathaus (wie die Kathedrale von Guceviöius erbaut). Auch die nahe Stikliq Gatvć (Schneidergasse) ist gut restauriert; von ihr zweigt nach links die Judengasse ab. Hier und um die breite Vokieöiq-Straße (Straße der Deutschen) herum befand sich  vor  dem  Kriege  das  jüdische  Wohnviertel  von  Vilnius:  von  65000  dort  lebenden  Juden,  die  ein  Drittel der  Wilnaer  Bevölkerung  darstellten,  sind  63000  von  den  Nazis  umgebracht  worden,  das  Litauische Jerusalem mit seinen über 100 Synagogen war für immer ausgelöscht!

Der Abend klang mit einem gemeinsamen Abendessen aus, eine Pianistin spielte dezent klassische Musik.

Die wichtigsten Eindrücke des Tages:

  • Vilnius - eine grüne Stadt;
  • es ist seit 1975, also teilweise noch in sowjetischer Zeit, viel restauriert wor­den;  40%  der  Altstadt  war  im  Krieg  zerstört  worden;  238  Architekturdenkmäler  zählt  die  Stadt  trotz  massiver  Zerstörungen  durch  den  Zweiten  Weltkrieg,
  • eine fußgängerfreundliche Stadt (erst wenig Verkehr, Obusse);
  • Bettler  an  Kirchen  und  Stadttoren  weisen  auf  die  Not  älterer  Menschen  hin;
  • der  Stolz  der  beiden  Begleiterinnen  auf  ihr  junges  wiedererstandenes  Land;
  • die  ironische  Distanz  (Irma)  zur  sowjetischen  Vergangenheit  (‘unsere  Fami­lie' für die viele Völker vereinnahmende Sowjetunion);
  • das  Straßenbild  wird  von  vielen  jungen  Leuten  geprägt  (Universitätsstadt);
  • Daiva besticht durch ihre Beherrschung des Deutschen, das sie in der Schule gelernt  hat,  insgesamt  hat  sie  nur  vier  Wochen  in  Deutschland  verbracht!
  • die Übersetzung des litauischen Wortes für Deutsche (Vokietes) bedeutet “die Harten“  (Daiva):  der  Deutschritterorden  hat  seine  Spuren  hinterlassen,  so scheint es!

Fazit: ein an Eindrücken reicher Tag in der aufstrebenden Kapitale Litauens.

 

2. Reisetag, Freitag 30. Juni

Wir  wollen  Vilnius  nicht  verlassen,  ohne  zuvor  den  “Platz  der  Unabhängigkeit”  zu besuchen, der an einer Seite vom Parlamentsgebäude gesäumt wird. Vielen Zeitgenossen werden die Fernsehbilder vom 13. Januar 1991 noch in Erinnerung sein, als die Truppen des  sowjetischen  Innenministeriums  den  Femsehturm  und  das  Pressezentrum  besetzten und  damit  drohten,  auch  das  Parlamentsgebäude  zu  stürmen.  Mehr  als  100.000  Men­ schen bewachten damals das Gebäude, um das sie eine massive Betonmauer gezogen hatten. Wir stehen - bei  niedergehenden  Regenschauern  -  vor  den  Resten  der  Mauer,  die  zur  Erinnerung  an  die  damaligen Geschehnisse  erhalten  geblieben  sind.  Kreuze  und  eine  Tafel  mit  Texten,  Namen  und  Fotografien  der  in Vilnius  ums  Leben  gekommenen  unbewaffneten  Bürger  fordern  den  Betrachter  dazu  auf,  den  Kampf  um die Unabhängigkeit und die Toten nicht zu vergessen.

Wir  gehen  wenige  Schritte  hinüber  zum  großzügig  angelegten  „Platz  der  Unabhängigkeit”  und  schauen  auf den  prächtigen  Springbrunnen  und  den  repräsentativen  Gediminas-Prospekt,  der  von  diesem  Platz  seinen Ausgang  nimmt  und  die  Hauptachse  der  Neustadt  bildet.  Im  Angesicht  der  mächtigen,  dem  Parlament gegenüberliegenden  Nationalbibliothek  hören  wir  -  unter  Regenschirmen  stehend  -  von  Daiva,  welche Bedeutung  das  alte  Ostpreußen  für  die  Verbreitung  der  litauischen  Schriftsprache  hatte.  Schon  der  erste Katechismus in litauischer Sprache war 1547 in Ostpreußen gedruckt worden. In den Zeiten der zunehmen­ den  Polonisierung  als  Folge  der  Union  von  Lublin  (1569)  erschienen  im  Norden  Ostpreußens  litauisch­ sprachige  Bibeln  und  andere  Bücher.  Als  die  russische  Regierung  im  Jahre  1864  Bücher  in  lateinischer Schrift  verbot,  wurde  Tilsit Verlagszentrum  für  litauische  Bücher  und  Zeitschriften  in  lateinischer  Schrift. Bücherschmuggler brachten die Druckerzeugnisse - oft unter Lebensgefahr - über die Memel nach Litauen. Erst am 7. Mai 1904 wurde das Druckverbot aufgehoben. Heute feiert Litauen den 7. Mai als den „Tag des Buches“.

Auf  dem  Weg  nach  Trakai,  unserem  nächsten  Ziel,  fahren  wir  durch  den  Wald  von  Paneriai,  in  dem  die deutsche  Besatzung  1941  bis  1943  viele  Tausend  Juden  umbrachte.  Die  Fahrt  führt  weiter  durch  den „Nationalpark für Naturschutz und Geschichte, ein Gebiet reich an Wäldern, Wiesen und Seen und an ehemaligen  Herrenhäusern  litauischer  Adliger.  Die  Landschaft  gehört  zu  Hochlitauen,  der  größten  der  vier Regionen  des  Landes.  Hier  leben  auch  die  Karäer,  eine  Minderheit,  die  der  Großfürst  Vytautas  Ende  des 14. Jahrhunderts zwischen Trakai und Kaunas ansiedelte, die ihrem Ursprung nach wohl ein Turkvolk sind und streng nach dem Alten Testament leben.

Als  wir  Trakai,  die  frühere  Hauptstadt  Litauens,  er­reichen, sehen wir bereits die gotische Wasserburg aus rotem  Backstein  mit  ihren  massiven  Wehrtürmen  auf einer   Insel   inmitten   des   von   Wäldern   umgebenen Galve-Sees  liegen.  Über  eine  Holzbrücke  gelangen  wir auf  die  Burginsel  und  betreten  durch  einen  Torturm den großen Hof der mächtigen Anlage. Durch die Vorburg gehen wir über eine Brücke in den Innenhof der Hauptburg,  deren  einzelne  Stockwerke  über  hölzerne Galerien erreichbar sind.

Daiva erzählt uns die Geschichte der Burg: Sie ist eine Gründung des Vytautas (1350 bis 1430), seit 1392 Großfürst  von  Litauen  und  Vetter  des  zum  polnischen  König  gewählten  Jagiełło,  der  ihm  die  Herrschaft über  Litauen  überließ.  Vytautas  hatte  maßgebenden  Anteil  an  der  Schlacht  bei  Tannenberg  (1410),  in  der das  vereinigte  litauisch-polnische  Heer  den  Deutschen  Orden  besiegte  und  damit  den  Grenzverlauf  zwi­ schen  dem  litauischen  GroßfÜrstentum  und  dem  Ordensgebiet  für  lange  Zeit  sicherte.  Die  Burg  steht  auf den  Grundmauern  einer  früheren  Burg;  sie  war  mit  15  Kanonen  bestückt,  beherbergte  120  Soldaten  und wurde - so Daiva - nie erobert.

Wir  gehen  durch  die  einzelnen  Räume  der  Burg:  das  Schlafgemach  des  Vytautas  mit  der  Kopie  eines Gemäldes der Schlacht von Tannenberg und Portraits des Helden; die Schatzkammer und den ursprünglich mit Fresken bemalten Thronsaal, in dem schon in den alten Zeiten gehobene Lebenskultur gepflegt wurde - laut Daiva gutes und manierliches Essen mit Messer und Gabel. Heute feiert man hier im August ein Burg- Trakai-Festival.  Wirsehen  eine  Ausstellung  mit  Dokumenten  und  Gegenständen  aus  dem  18.  Jahrhundert, als  der  Kreis  Trakai  unter  der  Leitung  des  Fürsten  Ogiński  stand.  Weitere  Räume  stellen  die  Zeit  der Unterdrückung der Litauer durch das Zarenregime im 19. Jahrhundert dar, ferner die Zeit der Unabhängig­ keit  nach  dem  ersten  Weltkrieg,  die  Zeit  der  Zugehörigkeit  von  Südlitauen  und  Vilnius  zu  Polen  und schließlich Gegenstände aus den früheren Herrenhäusern der Umgebung.

Die  Weiterfahrt  nach  Kaunas  verkürzt  uns  Daiva  mit  Ausführungen  über  die  Geschichte  Litauens,  seine Verfassung,  Politik  und  Geographie,  über  Probleme  der  Privatisierung  sowie  mit  dem  Atomkraftwerk Ignalina und über die seit 1999 laufenden Verhandlungen mit dem Ziel einer Aufnahme Litauens in die EU.

Mittags  erreichen  wir  bei  zwar  kühlem,  aber  zunehmend  von  der  Sonne  aufgehelltem  Wetter  Kaunas  und unser im Zentrum der Stadt gelegenes Hotel Neris, benannt nach dem Fluss, der hier in die Memel (Nemu- nas) mündet. Kaunas - im Jahre 1361 als Handelsplatz gegründet - ist die zweitgrößte Stadt Litauens, eine Industriestadt  mit  420.000  Einwohnern,  mehreren  Universitäten,  Fachhochschulen,  Forschungsinstituten, sechs Theatern und zahlreichen Museen, darunter ein Teufelsmuseum. Laut Daiva beherbergt die Stadt so gut  wie  keine  nationalen  Minderheiten.  Sie  war  mehrere  Jahre,  nämlich  in  der  Zeit  der  Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen, provisorische Hauptstadt der Republik Litauen.

Am  Beginn  unseres  Nachmittagsprogramms  steht  ein  Besuch  des  Ćiurlionis-Museums.  Das  1936  er­ richtete  Gebäude  gilt  als  Meisterwerk  der  klassischen  Moderne.  In  ihm  sind  litauische  Kunst  und  Volks­ kunst  untergebracht,  darunter  dreihundert  Gemälde  des  litauischen  Künstlers  Mikalojus  Konstantinas Ćiurlionis  (1875  bis  1911).  Wie  uns  unsere  kunstsachverständige  regionale  Führerin  erzählt,  besuchte Ćiurlionis  -  Komponist  und  Maler  -  die  Kunstschule  des  Fürsten  Ogiński,  die  Musikkonservatorien  in Warschau  und  Leipzig  und  schließlich  die  Warschauer  Kunstakademie.  Die  letzten  Jahre  seines  kurzen Lebens verbrachte er in St Petersburg. Zu Lebzeiten nicht anerkannt, machten ihn nach seinem Tode die in Tempera  und  Pastellfarben  gemalten  Bilder  weltberühmt.  Die  Bilder  mit  ihren  vielfältigen  Meeres-  und Waldmotiven stellen - so unsere Führerin - eine Synthese zwischen Musik und Malerei dar und zwingen angesichts  ihrer  Symbolik  zum  Nachdenken.  Bevor  wir  die  einzelnen  Bilder  betrachten,  hören  wir  in  einem kleinen Konzertsaal ein Musikbeispiel aus Wiurlionis symphonischer Dichtung „MiXke” (=Im Wald).

Unseren  Rundgang  durch  die  Altstadt  beginnen  wir  bei  der  am  Ufer  der  Neris gelegenen  Burg,  die  ihre  heutige  Gestalt  im  16.  Jahrhundert  erhielt  und  später durch  Überschwemmungen  einen  Teil  ihrer  Bauten  einbüßte.  Wir  gehen  hinüber zum  Rathausplatz,  einem  der  größten  Litauens,  umsäumt  von  gotischen  Häusern. Der  Platz  mit  seinem  Kopfsteinpflaster  wird  beherrscht  vom  weiß  angestrichenen barocken  Rathaus  (1771  -  1780)  und  dessen  aus  fünf  Stockwerken  bestehenden Turm.   Gegenüber   liegen   die   gotischen   Gildehäuser.   Das   Rathaus,   „Weißer Schwan“  genannt,  ist  bevorzugter  Ort  für  standesamtliche  Hochzeiten.  -  An  der östlichen  Ecke  des  Platzes  sehen  wir  die  Kathedrale  und  Pfarrkirche  St.-Peter-und-Paul mit ihrem massiven 55m hohen Glockenturm. Sie ist das größte gotische Bauwerk Litauens; im Inneren überwiegen spätbarocke Formen.
Bald darauf stehen wir südlich vom Rathausplatz vor dem in den sechziger Jahren restaurierten   Perkunas-Haus   (vermutlich   16.   Jahrhundert),   das   als   eines   der wertvollsten Denkmale der gotischen bürgerlichen Architektur Litauens gilt. Das Haus wurde im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach umgebaut, doch die reich gegliederte Hauptfassade blieb gotisch. Für die Giebelgestaltung verwendete man sechzehn verschiedene Arten von Profilsteinen. Es bleibt umstritten, weshalb das Haus seinen Namen nach dem in der litauischen Mythologie beheimateten Gott des Donners, des Wetters, der Fruchtbarkeit und Hüter des Rechts erhielt; jedenfalls fand man bei Grabungs­ arbeiten eine bronzene Statue, die Perkunas darstellen soll.

Vom  Perkunas-Haus  sind  es  nur  wenige  Schritte  bis  zur  Vytautas-Kirche,  über dem  Ufer  der  Memel  gelegen.  Um  1400  wohl  auf  Anordnung  des  Großfürsten Vytautas  erbaut,  gehört  sie  zu  den  ältesten  Kirchen  Litauens.  -  Wir  gehen  hin­ unter zur Memel und schauen auf ihr südwestliches Ufer, das infolge der dritten polnischen  Teilung  im  Jahre  1795  an  Preußen  fiel,  während  unsere  rechte  Me­ melseite zum zaristischen Rußland gehörte.

Wir  gehen  zurück  zum  Rathausplatz  und  werfen  dort  noch  einen  kurzen  Blick auf  die  barocke  Jesuitenkirche  mit  ehemaligem  Jesuitenkloster  und  -kolleg  (18. Jahrhundert).  Hier  unterrichtete  von  1819  bis  1823  der  polnische  Dichter  Adam Mickiewicz,  dessen  Hauptwerk  “Herr  Thaddäus“  zum  polnischen  Nationalepos wurde.  -  Nur  wenige  Schritte  trennen  uns  am  Ende  unseres  Rundgangs  von  dem  Masalskis-Palast.  Das 1634  errichtete  Haus  gehört  mit  der  Trinitatiskirche  (ebenfalls  1634)  zum  Ensemble  des  Klosters  der Bemhardinerinnen.  Den  Bauauftrag  erteilte  der  in  Kaunas  ansässige  Aristokrat  A.  Masaiskis.  Heute beherbergt das Haus ein Priesterseminar.

Den  Abend  verbringen  wir  im  rustikalen  Restaurant  „Zalias  Ratas”.  An  Holz­ tischen auf langen Bänken sitzend, genießen wir beim heimischen Bier litauische Spezialitäten.  Eine  Folklore  -  Gruppe  -  Akkordeon,  Geige,  Tuba,  Schlagzeug  - spielt flotte ländliche Musik, vorwiegend litauischer Provenienz; dazu singt die hübsche   Akkordeonspielerin.   Herr   Hanslik   legt   zur   Freude   der   Beifall   klat­ schenden  Gäste  gemeinsam  mit  einer  der  jungen  Kellnerinnen  gekonnt  eine rasante Polka aufs Parkett. Damit bricht er das Eis und ermutigt uns, ebenfalls das Tanzbein zu schwingen.

Einige  Mitglieder  unserer  Gruppe  beschließen  den  erlebnisreichen  Tag  mit  einem  Bummel  durch  die  trotz der  späten  Stunde  noch  recht  belebte  Laisvćs  alćja,  die  gemeinsam  mit  der  Vilnius  gatvd  als  großzügige Fußgängerzone  angelegt  ist,  laut  Daiva  die  erste  in  der  damaligen  Sowjetunion.  Die  Allee  ist  mit  Linden bepflanzt,  wird  deshalb  auch  „Unter  den  Linden“  genannt  und  soll  sogar  länger  sein  als  das  Berliner Original, worauf - wie es heißt - die Kaunaser mächtig stolz sind.

Lothar Weber

3. Reisetag, Samstag 1. Juli

Der erste Blick aus dem Hotelfenster läßt hoffen. Jetzt bekommen wir doch besseres Wetter, das wir uns gerade heute für die geplante Fahrt auf der Memel wünschen. Und schon um sieben Uhr hat sieh zu unserem Frühstück ein junger Mann an das Klavier gesetzt, der Tag fängt gut an!
Der Bus bringt uns aus der Innenstadt von Kau­ nas  auf  das  rechte  Memelufer,  wo  etwas  versteckt  unterhalb  einer betonierten Laderampe die “Rakete“, ein schnelles Tragflächen­ boot, auf uns wartet. Etwa vier Stunden wird die Fahrt dauern, bis wir flussabwärts das Kurische Haff und dann die Nehrung in Nidden erreichen.  Noch  einmal  Klick  mit  dem  Auslöser:  Von  fern  grüßen die  Türme  der  malerischen  Altstadt  -  ein  Panoramablick  fehlt  nämlich  noch  -,  und  das  Schiff  mit  seinen  Passagieren  muss  natürlich auch abgelichtet werden.

Um  neun  Uhr  wird  der  lautstarke  Motor  angelassen,  es  kann  losgehen!  Die  meisten  Passagiere  haben  im geschützten  Schiffsinneren  Platz  genommen,  ich  will  dem  Lärm  und  Wind  im  offenen  Heck  trotzen,  die Kamera allseits bereit. Gilt es doch, Erinnerungen aus dem Sommer 1995 wachzurufen. Damals sind meine Frau  und  ich  schon  einmal  auf  der  Memel  gefahren,  und  zwar  von  Tilsit  aus  stromaufwärts  in  die  Gilge hinein,  ihren  südlichen  Mündungsarm.  Aber  davon  später.  Erst  einmal  vertreibt  uns  die  Besatzung  ins Bootsinnere. Der niedrige Wasserstand und Sandbänke lassen es wohl ratsam erscheinen, die Lasten mehr in  den  durch  den  rasanten  Antrieb  gehobenen  Bug  zu  bringen.  Nicht  auszudenken,  wenn  wir  dem  Affen­ zahn ‘mal Grund bekommen würden; dann wären wir die Raketen!

Aber  Gebote  kann  man  ja  auch zu  umgehen  versuchen,  beispielsweise durch  häufige  Toilettengänge  nach achtem. Das ist das Gute. Das Schlechte ist, daß das Wetter wechselt. Nieselregen kommt auf.

Nach  einer  halben  Stunde  das  erste  nennenswerte  Örtchen  auf  der  rechten  Seite.  Vilkija  grüßt  mit  seiner zweitürmigen,  neugotischen  Kirche.  Im  Mittelalter  soll  es  hier  eine  Zollstation  gegeben  haben,  die  alte Handelsstraße von Vilnius nach Königsberg führte durch den Ort.

“Wo die Memel zwischen Weiden, Wäldern und Hügeln fließt“, so wird in meinem Reiseführer der Beginn eines  litauischen Gedichtes  zitiert. Und  wer  trotz  fehlender  Romantik  an diesem Tag  etwas sehen will, der kann  hin  und  wieder  ein  Schwanenpaar  am  Uferrand  beobachten.  Grau-  reiher  fliegen  auf,  Flussseeschwalben  kurven  um  ihre  Niststätten,  weidende  Rinder  stieben  bei  unserem  Nahen  auseinander.  Und  ab und zu ein Bagger in der Fahrrinne, der mit Sirenengeheul von der Rakete begrüßt wird. Sonst ist niemand unterwegs an diesem Morgen.

Die  Spannung  steigt  jetzt  für  mich,  denn  gleich  werden  wir  hinter  Schmallenningken  linker  Hand  die ehemalige  Grenze  Deutschlands  zu  Litauen  bzw.  Rußland,  unser  Ostpreußen,  erreichen.  Knapp  zwei Stunden  sind  vergangen,  nun  taucht  der  hohe  russische  Wachtturm  am  Ufer  des  Kaliningradskaja  Oblast, dem Königsberger Bezirk, auf. Die Memel teilt jetzt das Land. Links wachen die Russen, rechts die Litauer.

Eine Landschaft präsentiert sich je nach Wetterlage ganz unter­ schiedlich.  Düster  wirken  die  Kiefernwälder  um  Ragnit,  aus  der maroden Zellstoffabrik fließen schaumige Abwässer in den Fluss. Trostlos auch der Anblick von Tilsit, an dem wir jetzt vorbeidonnem.  Vor  fünf  Jahren  wirkte  das  rauchgeschwärzte  Sandsteinportal viel freundlicher, nun ist alles grau.

Zehn  Minuten  nach  Tilsit  zweigt  die  Gilge  ab.  Im  Schiffsinneren sind  meine  Frau  und  Bergknechts  -  Frau  Bergknecht  stammt  aus dem  nun  links  vor  uns  liegenden  alten  Kreis  Elchniederung  -  über eine große Karte gebeugt: Ostpreußen im Maßstab 1: 300 000. So
etwas hat man natürlich bei sich, wenn es in die alte Heimat geht. Und dann komme ich mit der Eilmeldung: “Der Kirchturm von Kuckerneese ist in Sicht!“

1928  hatten  sich  hier  der  Königsberger  Kaufmann  Artur  Tollkühn  und  die  Bauemtochter  Ida  Besemer, deren  Vorfahren  zweihundert  Jahre  zuvor  aus  dem  Salzburgischen  kommend  vom  Preußenkönig  ins  Land geholt worden waren, das Ja-Wort gegeben. Einige verblaßte Fotos aus dieser und späterer, unwiederbring- barer Zeit halten in uns das Andenken lebendig; zeigen die Eltern und Großeltern, den Hof, das Blumenkind Hannelore bei der Hochzeit seiner Tante vor der Kirche von Kuckemeese im Jahr 1935.

Als  diese  Hannelore  mit  ihrem  Man  Hans-Peter  Geck  und  Cousine  Margitta,  1941  in  Neu-Sköpen  bei Kuckemeese  geboren,  hier  1995  auf  Spurensuche  waren,  schrieb  ich  anschließend  in  unsere  Familien­ chronik:  “Mit  Hilfe  des  Meßtischblattes  0895  /  Kuckemeese  von  1938  und  Hannelores  Gedächtnis  hatten wir schon vorher die Lage des Hofes Besemer genau lokalisieren können und suchten nun nach ihm. Aber nichts war mehr zu sehen. Wie überall weit und breit hatten spätestens in der Ära Leonid Breschnews die Sowjets alles geschleift, buchstäblich weggeschoben, was an deutsche Bauern hätte erinnern können. Jetzt im Sommer sorgt die Natur für ein blühendes Leichentuch, zwischen blauen Disteln und weißer Kamille ist hie und da noch ein Stück Ziegelstein zu finden.

Zurück in die Gegenwart. Wir halten kurz in Ruß, wo sich das Flussdelta nochmals verzweigt. Bald danach die Windenburger Ecke, eine Halbinsel, auf der einst eine Ordensburg stand. Hermann Sudermann läßt hier in seiner  “Reise  nach  Tilsit"  Indre  und  Ansas  vorbeifahren:  “Nur  drüben  die  Nehrung  steht  dunkelrot  im Morgenschein..." Stimmt jetzt nicht. Das Haff ist sehr bewegt, kurze Wellen klatschen gegen das Boot. Bei Ankunft in Nidden regnet es in Strömen. Im Eilschritt geht es zur Mittagspause ins Quartier.

Das  alte  Fischerörtchen  Nidden  auf  der  Kurischen  Nehrung  verbinden  wir  mit  der  Hohen  Düne  zum  Haff, mit  dem  Badestrand  der  Ostsee,  der  Künstlerkolonie  mit  dem  Gasthof  Blöde  als  Mittelpunkt  und  Thomas Mann. Aber erst einmal ist das Gold der Balten dran. Im Gänsemarsch bewegt sich unsere Reisegruppe zu einem  kleinen  Bemsteinmuseum,  das  auch  sehr  ansprechende  Verarbeitungsstücke  wie  Ketten,  Broschen und  Ringe  zum  Verkauf  bereithält.  Aller  Augen  sind  hellwach,  eine  junge  Frau  erläutert  Entstehung  und Eigenschaften des magischen Edelsteins, der hier in vielen Farbnuancen zu bewundern ist. Zum Schluß gibt es  noch  einen  Bemsteinschnaps.  Ob  sich  das  auch  im  Verkaufserfolg  niedergeschlagen  hat,  kann  der Protokollführer nicht vermelden.

Der kleine Friedhof gleich neben der ehemals evangelischen Kirche ist nächstes Ziel. Er gibt Auskunft über die Menschen der verschiedenen Kulturen, die hier gelebt haben: Kuren, Deutsche und Litauer. Die Gräber schmücken schöne, aus dicken Brettern geschnitzte Kreuze mit Tier- und Pflanzenomamenten.

Im  Stil  der  Fischerhäuser  auf  der  Nehrung  ist  auf  dem  Schwiegermutterberg  “Onkel  Toms  Hütte”  gebaut. So  nannten  die  Einheimischen  das  Refugium,  das  sich  Thomas  Mann  1929  über  dem  Haff  errichten  ließ. Aber  nur  drei  Sommer  konnte  die  Familie  -  Thomas  mit  Katja  und  sechs  Kindern  -  die  Idylle  mit  “Italien­ blick” genießen, dann emigrierte sie in die USA.

Das braune, reetgedeckte Haus  hat einen neuen Anstrich bekommen und hebt sich freundlich vom regen­ nassen Kiefemwäldchen, in das es eingebettet ist, ab. Im Innern ist alles liebevoll mit finanzieller Hilfe des litauischen  Kulturministeriums  und  der  deutschen  Botschaft  restauriert.  Bücher,  Fotos  und  Zeitungsaus­ schnitte  lassen  die  Zeit  vor  siebzig  Jahren  wieder  lebendig  erscheinen.  Thomas-Mann-Festivals  und Lesungen  mit  litauischen  Germanistikstudenten  sollen  zudem  das  Vermächtnis  des  Dichters  wachhalten. Aber: “Was vergangen, kehrt nicht wieder.” So jedenfalls scheint es mir mit der Aussicht aus dem ehemali­ gen  Arbeitszimmer  des  Hausherrn  zu  sein.  Die  damals  jungen  Kiefern  sind  ansehnliche  Bäume  geworden und versperren nun den Blick in die Feme. Aber man hat ja Phantasie, es muss hier sehr schön gewesen sein!

Der Abend läßt noch keine Gedanken an Weiße Nächte aufkommen. Die Aktivitäten werden deshalb etwas gebremst.  Zur  Wahl  stehen  ein  Orgelkonzert  von  Bach  und  Liszt  mit  der  Tochter  des  ehemaligen  Prä­sidenten  Landsbergis  oder  aber  einfach  ein  Regenschirmspaziergang  Richtung  Hafen,  vorbei  an  schönen Häusern im Niddener Blau. Die Hohe Düne läßt jetzt nicht erkennen, dass sie sechzig Meter hoch ist. Aber morgen soll es ja besser werden.

Übrigens muss Margitta noch einen Kartengruß bekommen. Sie soll ja wissen, dass wir heute den Kirchturm von Kuckemeese gesehen haben!

Hans-Peter Geck

4. Reisetag, Sonntag 2. Juli

Eigentlich  waren  wir  am  Sonntag  -  Morgen  schon  wieder  im  Aufbruch,  -  der  gestrige Ankunftstag in Nidden wurde sogleich genutzt zur Besichtigung des Sommerhauses von Thomas  Mann auf  dem “Schwiegermutterberg“,  das  jetzt  ein  Museum  ist, - und wir waren  dort  oben  fasziniert  von  der  “unbeschreiblichen  Eigenart  und  Schönheit  dieser Natur“ (Zitat Th. Mann) und. des Blickes auf das Künsche Haff.

Heute, am Sonntag, lernten wir gleich in der Frühe etwas Neues kennen, - oder wußten Sie schon, wie köstlich ein Frühstück mit Schmand und Giumse schmeckt? (Statt Glumse gab‘s auch Plin­sen!).  Von  Milch  und  Sahne  gestärkt  rüsteten  wir  zur  Busfahrt  zur “Düne”  oder  besser:  “zur  litauischen  Sahara“  am  Rande  von  Nidden  im  Nationalpark  der  Nehrung  zwischen  Ostsee  und.  Haff.  Von hier aus ziehen sich auf der Innenseite Dünenwälle hin, z. T. 70 - 80  m  hoch,  denen  seewärts  feuchte  und  waldbedeckte  Niederungen  vorgelagert  sind.  Diese  Dünen  sind durch Waldvemichtung ins Wandern geraten, haben Siedlungen (z. B. die der sudetendeutschen Flüchtlinge um  1784)  überlaufen,  sind  jetzt  aber  zum  größten  Teil  festgelegt.  Das  alte  “Meyer‘s  Konversations- Lexikon“  von  1888  berichtet  von  der  Bedrohung  von  Rossitten  und  von  dem  “unausgesetzten  Vorbewegen der Sanddünen (jährlich etwa um 51/2 m), so daß sie in 300 - 500 Jahren das Haff ausfüllen werden, wenn eine  Aufhaltung  derselben  nicht  gelingt.“  Nun,  im  Sommer  2000,  war  die  Straße  zu  dem  Denkmal  neben der  Düne  von  Nidden  noch  breit  und  gut  befahrbar,  die  Sonne  strahlte  vom  locker  bewölkten  Himmel  auf Meer und Haff und wir lauschten der Predigt von Pfarrer Becks. Es konnte keine schönere Stelle irgendwo geben:  Hier  waren  Natur  und  Gott  eins!  “Gottheit  und  Menschheit  vereinen  sich  beide,  Schöpfer,  wie kommst du uns Menschen so nah!“ (Zitat von Joh.L.K.Allendorf aus dem Losungsheft)

Mag  sein,  daß  ich  nicht  ganz  konzentriert  den  Worten  folgte  bzw. mitsang,  denn  ich  wurde  von  “besorgten“  Mitwissern  um  meine persönliche  “Sendung“  hier  auf  der  Nehrung  gemahnt,  besser  jetzt gleich,  hier  an  Ort  und  Stelle  der  auslaufenden  Riesendüne  mein Säckchen  mit  weißem  Sand  zu  füllen  (“...und,  bitte,  für  mich  auch ein  Schäufelchen  mit!“),  denn  wer  weiß,  wie  sich  die  Weiterfahrt über die 120 km lange Wegstrecke Richtung Memel gestaltet... Das war  dann  beinahe  eine  kultische  Handlung,  überwacht  und  gut­ geheissen von den “Eingeweihten“.

Wir  begegneten  der  Düne  wirklich  nicht  wieder,  sangen  für  Frau  Krauter  von  der  Landschaft  und  der Andacht  noch  tiefbewegt  die  “Geburtstags“-Lieder  “Land  der  dunklen  Wälder“  und  “Wildgänse  rauschen durch die Nacht“, - das bleibt für uns alle in Erinnerung und rührte an manches Vergangene...

Davon möchte ich jetzt berichten, damit Sie verstehen, warum ich Herrn Döpfer bat, mir den Rückblick auf diesen Nehrungs-Vormittag zu überlassen: Dieser 4. Reisetag war mein wichtigster, denn im Sommer 1939 war  ich,  damals  knapp  17  Jahre  alt,  mit  meinen  Eltern  schon  einmal  dort.  Mein  Vater,  geboren  und  viele Jahre gelebt in Helouan bei Kairo, sehnte sich nach der Heimat und beschloss, nachdem im Frühjahr 1939 das  Memelland  annektiert  wurde,  als  “Ersatz“  in  die  “litauische  Sahara“  zu  fahren.  Manche  in  unserer Reisegruppe haben auch Sahara-Sand in den Schuhen gehabt und sie können bestätigen, daß der Dünen­ sand sehr ähnlich ist. So verstehen Sie auch, was ich zusammen mit meinen Eltern auf der “Suche nach der Heimat“ empfand und in einem Tagebuch auf Pergament damals schrieb:

An einem heißen, ausgetrockneten Mittag machten wir uns auf, am Haffent/ang. Nachdem Vatis Bemühungen, zwei Fischer, die Aalbesteck mit langen Netzen aus dem flachen Wasser zogen, auf dem Film zu verewigen, endlich geglückt waren, fühlten wir uns auch am Ende unserer Kräfte. Durstig panschten wir durch das lauwar­me Wasser und verwünschten die Hitze. Da plötzlich fühlten wir eine kalte Stelle, eisiges Wasser rieselte durch den leuchten Send. Eine Quelle - hier in der lautlosen Einsamkeit! Das war etwas für mich: Mit beiden Händen wühlte ich im Sand, doch vergebens - das Loch fiel immer wieder ein. Endlich, als eine kleine Grube kunst­gerecht gestützt war, sammelte sich das Quellwasser an, und mit dem Deckel unserer Niveacreme-Büchse schlürften  wir  abwechselnd  das  kühle  Nass.  Erfrischt  schieden  wir  von  dieser  Oase,  und  nun  begann  der Aufstieg’ in die Sandwüste. Weiß wie Schnee, nur viel weicher, rieselte der Sand unter unseren Schritten den steilen Abhang hinunter. Gewiss wer das Klettern hier nicht leicht, denn nur selten fand die Hand einen Halt am Strandgras, aber immer höher stiegen wir In diese neue Welt hinauf. Selbst Vati erkannte hier die afrikanische Wüste wieder mit der heißen Sonne, dem gelblich weißen Sand und den Pyramiden. Ja, auch diese hatte die Natur hier geformt- Steile, hohe Berge ragten auf, mit grotesken Formen, vom Sturm gezeichnet Wir fühlten uns in Vatis Heimat...

Zurück zum Jahr 2000:

Unsere  Busfahrt  ging  auf  einer  gepflegten  Landstraße  durch  den  Wald  rasch  vorwärts,  am  Rande  grüßten uns  Wildschwein-Familien,  Fischreiher  und  Kormorane  flogen  aus  ihren  Nestern,  -  natürlich  schauten  wir nach  Elchen  aus,  vergebens.  Und  deshalb  fuge  ich  dem  Bericht  wieder  einen  Ausschnitt  aus  meinem Tagebuch bei, denn es gibt ihn noch, den Elch mit dem prächtigen Geweih!

"Haben Sie den Elch gesehen? Nein? Na, dann haben Sie aber etwas versäumt!" Aber wir sahen ihn doch noch, ihn, der der Inhalt aller Gespräche war, den Elch. An einem Abend der letzten Woche war er wieder einmal nach vielen Tagen am Haff erschienen. Majestätisch und ruhig riss er die grünen Weidentriebe ab und hielt die neugierige  Menge  in  einem  würdigen  Abstand  von  sich  ab.  Er  brauchte  nur  den  Kopf  mit  dem  prächtigen Geweih zu wenden oder sich zwei Schritte zu nähern, so wich alles um das Doppelte zurück. Vati war schon beim zweiten Film, als der Elch sich trollte, über die Dorfstraße in den Wald hinein. Bis dorthin durften wir ihn begleiten, dann setzte er sich aber in Trapp, schüttelte alle Verfolger ab und verschwand in der Dunkelheit.

In  Schwarzort  gab  es  einen  kurzen  Halt,  -  hübsche  bunte  Bauernhäuser,  eine  renovierte  Kirche  auf  dem menschenleeren  Platz  (vermutlich,  weil  Gottesdienst  war),  keine  Touristen  außer  uns,  ein  Blick  auf  das Haff,  eigentlich  auch  keine  “Erinnerung”,  -  erst  in  Memel  auf  dem  Marktplatz  mit  dem  “Ännchen  von Tharau”  kam  sie  wieder  auf:  Es  war  damals  ein  Samstag,  es  war  Markt!  Und  weil  wir  das  Schauspiel diesmal  nicht  erlebten,  füge  ich  den  Bericht  von  1939  über  “Memel  damals“  bei  bevor  ich  die  Schilderung des Rundganges durch die Altstadt von Memel und den weiteren Verlauf des Reisetages an Herrn Döpfer weitergebe.

Zuerst  mussten  wir  natürlich  Schwarzort  einer  gründlichen  Besichtigung  unterziehen,  d.  h.  unsere Neugier war gestillt, denn es gibt dort nicht viel zu sehen. Das ganze Dorf besteht nur aus einer Straße, zieht  sich  dafür  aber  über  einen  Kilometer  hin.  An  dem  einen  Ende  ist  die  Anlegebrücke,  auf  der  sich alles  Leben,  auch  das  sonntägliche,  abspielt,  am  anderen  die  kleine  Fischerkirche.  Das  Dorf  hat  einen fremden  Einschlag;  die  Häuser  ähneln  sehr  dem  russischen  Stil.  Wenn  die  Fischer  unter  sich  sind,  dann reden  sie  alle  litauisch.  Sie  haben  aber  auch  viele  Litauer  in  den  deutschen  Dienst  übernommen.  Mit wahrem Heißhunger stürzten sich die Feriengäste auf die Sahne und die Butter, die es in Hülle und Fülle gab.  Und  dann  die  Sahnebonbons  und  die  Schokolade!  Mir  läuft  noch  jetzt  das  Wasser  im  Mund  zu­sammen,  wenn  ich  daran  denke!  Noch  größerer  Überfluss  war  in  Memel.  Wir  fuhren  am  Sonnabend Morgen  mit  dem  Dampfer  von  Schwarzort  hinüber.  Es  war  gerade  Markttag  und  Bauern  und  Fischer hatten  sich  hier  zusammengefunden.  Auf  dem  Marktplatz  standen  immer  je  zweiWagenreihen  mit  dem Ende  zu  einander  gekehrt  sich  gegenüber,  und  von  oben  herab  verkaufte  die  Bäuerin  ihre  Ware.  Natür­lich  ging  das  nicht  ohne  Feilschen,  Schimpfen  und  gelegentliches  Bemogeln  ab  (denn  die  wenigsten konnten  richtig  rechnen).  Da  standen  Kübel  und  Fässchen,  bis  an  den  Rand  mit  dicker,  gelber  Sahne gefüllt,  dahinter  Wagen  neben  Wagen  mit  Eiern;  und  die  Käufer  gingen  von  einem  zum  anderen  und suchten sich die besten heraus, als ob das gar nichts Besonderes wäre. (Aber ab Herbst gibt es auch hier Butterkarten u. s. w.).

Dann kamen wir in eine große Halle: Stand neben Stand, Brote, runde, viereckige, weiße, schwarze, und dann Butter, Butter und Käse. Die Bäuerin hat ein ganz dummes Gesicht gemacht, als wir schüchtern und bescheiden  nur  ein  Viertel  Pfund  Butter  verlangten!  Und  so  ging  es  weiter,  die  Hauptstraße  entlang.  Auf diese  Weise  lernten  wir  Memel  kennen,  Memel,  die  deutsche  Stadt.  Auch  hier  sind  die  Häuser  im  russi schen Stil, klein und schmutzig. Oft hört man noch die litauische Sprache. Siglinde Herzog-Heltzel

Rund  10  Minuten  benötigte  die  moderne  Autofähre  um  von  Smiltyne  /  Sandkrug  am nördlichen  Zipfel  der  Kurischen  Nehrung  über  das  sog.  Memeler  Tief,  Wasserstraße zwischen  dem  Kurischen  Haff  im  Osten  und  der  Ostsee  im  Westen,  nach  Klaipeda  / Memel überzusetzen. Der größte Teil unserer Reisegruppe war während der Überfahrt im Bus sitzengeblieben. Der kleinere Teil war ausgestiegen und beobachtete vom Deck des Fährschiffes aus interessiert den Übersetzvorgang. In der Mitte der Fahrrinne begegnete man der Gegenfähre,  die  von  Klaipeda  an  dieser  schmälsten  Stelle  zur  Kurischen  Nehrung  übersetzte  und  mit  zahlreichen PKW's  und  Sonntagsausflüglem  besetzt  war.  Sowohl  in  Richtung  Künsches  Haff  als  insbesondere  in Westrichtung  zur  Ostsee  hin  konnte  man  eine  Reihe  von  fahrenden  Frachtschiffen  wahmehmen.  Zur Linken,  also  westwärts  in  Richtung  offenes  Meer,  konnte  man  ferner  am  südlichen  Stadtrand  von Klaipeda zahlreiche  Hafenkräne  und  Werften  mit  Schwimmdocks  sowie  Erdöltanks  erkennen,  während  Richtung Haff die Schornsteine eines Kraftwerks sich erhoben.

Unsere charmante und sehr kompetente Reiseführerin Daiva, die selbst in Klaipeda beheimatet ist, erklärte, daß  im  Zuge  der  marktwirtschaftlichen  Reformen  in  Litauen  jetzt  eine  Privatisierung  des  bis  dahin  staatli­ chen Fährschiftbetriebes erfolge.

Klaipeda  /  Memel  wurde  im  Jahr  1252  vom  livländischen  Schwertbrilderorden  unter  dem  Deutschmeister Eberhard von Seyne von Kurland aus zunächst als Burg gegründet. Die spätere Stadt, die einst lange Zeit zu  Ostpreußen  gehörte,  ist  sogar  drei  Jahre  älter  als  die  ehemals  ostpreußische  Hauptstadt  Königsberg, heute  Kaliningrad.  Eine  Siedlung  hat  jedoch  vermutlich  schon  vor  dieser  Zeit  an  dieser  Stelle  bestanden (westbaltische  Kuren),  da  das  Memeler  Tief  mit  der  Dane-  /  Dange-Mündung  einen  vorzüglichen  und natürlichen Schutzhafen für den damals schon regen Schiffsverkehr bot.

Unsere  Stadtführerin  in  Klaipeda,  die  wir  kurz  nach  der  Ankunft  in  der  Stadt  am  heute  größten  und modernsten Hotel “Klaipeda“ an Bord unseres Busses nahmen, stellte sich mit Regina Stephanaos vor. Sie ist  Deutschlehrerin,  die  schon  unsere  ständige  Reiseleiterin  Daiva  in  ihrer  Schulzeit  auf  einem  Gymnasium in Klaipeda in diesem Hauptfach mit großem Erfolg unterrichtete. Dem Vernehmen nach ist Daiva eine sehr gelehrige  und  fleißige  Schülerin  gewesen,  die  später  dann  Volkswirtschaft  studierte  und  promovierte  und jetzt beruflich junge Dozentin an der Universität Klaipeda ist

Als  wir  mit  der  Stadtführung  begannen,  war  es  kurz  nach  11.00  Uhr  und  die  sonst  so  betriebsame  Stadt war  -  da  Sonntag  -  relativ  menschenleer,  auch  der  Autoverkehr  hielt  sich  in  Grenzen.  Auffallend  war  nur, daß an wichtigen Stellen Polizisten das Straßenbild belebten, die - wie Daiva berichtete - wegen eines am Nachmittag  stattfindenden  Fußballspiels  mit  einer  englischen  Mannschaft  aus  Sorge  vor  evtl,  auftretenden Hooligans verstärkt patrouillierten.

Klaipeda  ist  heute  mit  etwas  über  200.000  Einwohner,  davon  sind  über  60%  Litauer,  die  drittgrößte  Stadt der  baltischen  Republik  Litauen.  Sie  liegt  an  der  Mündung  der  Dane,  deutsch  Dange  in  das  Kurische  Haff bzw.  Memel-Tief  am  Fuß  der  Memelburg.  Diese  Burg  -  so  zeigt  ein  historischer  Rückblick  -  wurde  ab 1312  zur  Überwachung  des  Haffeingangs  und  der  Küstenstraße  von  Preußen  nach  Livland  zu  einer  der stärksten  Befestigungen  des  Deutschen  Ordens  ausgebaut  und  ist  bis  1525  Sitz  eines  Ordenskomturs gewesen.  Die  unmittelbar  neben  der  Burg  entstehende  Siedlung  erhielt  bereits  1257  Lübecker  Stadtrecht und  wurde  zum  „Memele  castrum“  (Memelburg).  1328  trat  der  livländische  Schwertbrüderorden  Memel  an den Deutschen Orden ab, die Burg und Siedlung wurde zur nordöstlichsten Stadt des Ordens - und später - Preußenstaates. Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts hatte Memel die zerstörerischen Auswirkungen der wiederholten kriegerischen Auseinandersetzungen des Ordens mit den Litauern zu ertragen (Zielsetzung des Ordens:  Christianisierung  der  letzten  heidnischen  Völker  in  Europa).  Die  Stadt  wurde  immer  wieder zerstört  und  wieder  aufgebaut.  Nach  der  verlorenen  Schlacht  bei  Tannenberg  im  Jahr  1410  zwischen  dem Orden und dem Vereinigten Königreich Polen und Litauen, die den langsamen Niedergang des Ordensstaa­ tes  einleitete,  wurde  1422  im  Frieden  von  Melnosee  die  Grenze  des  Ordensstaates  festgelegt.  Ab  diesem Zeitpunkt ist die Ostgrenze des späteren Ostpreußen unter Einschluß von Memel zum Russischen Reich bis 1919  unverändert  geblieben.  Sie  war  eine  der  ältesten  und  beständigsten  unter  den  Landesgrenzen  in Europa.

Wichtige Daten in der Stadtgeschichte für Memel waren die Jahre 1474, in dem die Stadt das sog. „Kulmer Recht', das Recht der preußischen Landstädte erhielt, und das Jahr 1541, in dem der erste Schiffbau in Memel  durch  holländische  Einwanderer  erfolgte.  Im  30-jährigen  Krieg  erhielt  die  Stadt  für  sechs  Jahre (1629-35)  eine  schwedische  Besatzung.  Im  Nordischen  Krieg  wurde  1678  Memel  völlig  eingeäschert,  der Wiederaufbau  dauerte  Jahrzehnte.  Infolge  der  Pest  waren  1709  -  11  große  Bevölkerungsverluste  im nordöstlichen Preußen  zu beklagen.  Durch  die  preußischen Könige  wurde die Entvölkerung  mit protestanti­ schen  Religionsflüchtlingen  (Hugenotten,  Salzburger)  und  starken  Einwanderungen  litauischer  Bauern ausgeglichen.  Während  des  Siebenjährigen  Krieges  lag  sechs  Jahre  lang  (1756-62)  eine  russische  Besat­ zung  in  Memel.  Eine  deutliche  wirtschaftliche  Aufwärtsentwicklung  erlebte  die  Stadt  in  der  2.  Hälfte  des 18. Jahrhunderts durch die Holzausfuhr und die beginnende holzverarbeitende Industrie.

Anfang  des  19.  Jahrhunderts  wurde  Memel  Schauplatz  einiger  wichtiger  historischer  Ereignisse:  Im  Jahr 1802  fand  hier  das  Zusammentreffen  des  preußischen  Königs  Friedrich  Wilhelm  III.  mit  Zar  Alexander  I. von  Rußland  statt.  Nach  der  Besetzung  Berlins  durch  die  Truppen  Napoleons  im  Jahr  1807  flohen  der preußische Königshof und die Regierung über die Kurische Nehrung nach Memel, das dadurch bis 1808 zur provisorischen  Hauptstadt  des  Königreichs  Preußen  wurde.  König  Friedrich  Wilhelm  m.  und  seine Gemahlin  Königin  Luise  residierten  in  dieser  Zeit  im  heute  noch  erhaltenen  alten  Rathaus  am  Dane- Flußufer,  an  dem  unsere  Reisegruppe  während  der  Besichtigung  vorbeigeführt  wurde  (Erinnerungstafel). In der damals einzigen von Napoleon nicht besetzten Stadt Preußens entstanden die ersten Ideen, die in die Reformen des preußischen Staates und in die Befreiungskriege einmündeten. Der König erließ dort u. a. die Order zur Abschaffung der Leibeigenschaft in Preußen. 1807 empfing er hier nochmals den Zaren.

Nach  einem  verheerenden  Großbrand  1854,  der  weite  Teile  der  Stadt  zum Opfer  fielen, setzte  ein  zügiger Wiederaufbau  ein.  Zu  dieser  Zeit  gehörte  Memel  zum  Regierungsbezirk  Königsberg.  Die  weitere  Entwick­ lung Memels innerhalb Preußens und ab 1871 des Deutschen Reiches ist gekennzeichnet durch den Bau der Eisenbahnlinie  von  Memel  nach  Tilsit  (1875),  die  Entwicklung  eines  bedeutenden  Segelschiffbaus  sowie einer Reederei, die Errichtung des Fischereihafens (1900) und der Aufbau weiterer Industriebetriebe.

Nach  der  Niederlage  Deutschlands  im  1.  Weltkrieg  trennten  die  Siegermächte  1919  Memel  und  das  sog. Memelgebiet  (Landkreis  Memel,  Heydekrug  und  Pogegen)  von  Deutschland  ab.  Durch  den  Versailler Vertrag  wurde  das  Gebiet  zunächst  unter  Völkerbundsmandat  gestellt  bis  im  Februar  1920  Frankreich  die Verwaltung  übernahm  (Französische  Besatzung  bis  Januar  1923).  Auch  die  Republik  Litauen,  die  am  16. Februar  1918  die  Selbständigkeit  wiederherstellen  konnte,  erhob  Ansprüche  auf  Memel.  Als  diese  ohne Erfolg blieben, besetzten litauische Freischärler Mitte Januar 1923 das Gebiet und erreichten den Abzug der Franzosen.  Nach  langwierigen  Verhandlungen  durch  den  Völkerbund  wurde  im  Frühjahr  1924  in  Paris  eine Konvention  unterzeichnet,  das  sog.  „Memelstatut“,  das  die  Übergabe  des  Memelgebietes  an  Litauen beinhaltete.  Die  Stadt  wurde  nun  als  Zentrum  der  autonomen  Region  von  Klaipeda  Bestandteil  Litauens. Bereits  1923  setzte  ein  Volkstumskampf  ein  (Litauen  verhängt  am  17.12.  1926  im  Memelgebiet  den Belagerungszustand),  der  sich  mit  Unterbrechungen  bis  1938  hinzieht.  Die  Nationalsozialisten  betrieben nach  der  Machtergreifung  in  Deutschland  den  Anschluß  des  Gebietes  an  das  Reich.  Einem  deutschen Ultimatum  gab  die  litauische  Regierung  schließlich  nach.  Aufgrund  eines  Staatsvertrages  gab  sie  am 23.März  1939  Klaipeda  -  nunmehr  wieder  Memel  -  und  die  Region  an  Deutschland  zurück.  Das  Memel­ gebiet wurde wieder der Provinz Ostpreußen eingegliedert. Litauen erhielt in Memel eine Freihafenzone. Im vorletzten  Jahr  des  2.  Weltkrieges  1944  hatte  Memel,  so  berichtete  unsere  Stadtführerin  Regina,  etwa 50.000  Einwohner,  davon  seien  ca.  60%  Deutsche  und  40%  Litauer  gewesen.  Bis  Ende  Januar  1945 wurden  beim  Vordringen  der  Roten  Armee  zwischen  60-70%  der  Stadt  zerstört;  insbesondere  durch wochenlangen  Artilleriebeschuß,  es  blieben  fast  keine  Einwohner  mehr  dort.  Über  90%  der  Memeldeut- schen waren schon im Winter 1944/45 vor dem russischen Sturmangriff geflohen. Klaipeda und die Region wurden  wieder  litauisch,  nun  aber  im  Verband  der  UdSSR  (Litauische  Sowjetrepublik  LTSSR  ab  7.4. 1948-März  1990).  Nach  der  Perestrojka  und  dem  Beginn  des  Zerfalls  der  Sowjetunion  wurde  am  II.  März 1990 die Unabhängigkeit der wiedererstandenen Republik Litauen erklärt.

Während  unserer  Rundfahrt  bzw.  anschließenden  Rundgang  durch  die  relativ  kleine  Altstadt  von  Klaipeda, die  im  Norden  von  der  Dane,  im  Westen  vom  Memeler  Tief  und  im  Osten  und  Süden  von  Resten  der städtischen Schutzwällen umgeben ist, nannten zuerst Daiva später auch Regina weitere interessante Fakten über  die  jüngste  Entwicklung  und  auch  Vergangenheit  der  Stadt.  (Aus  zahlenmäßigen  Gründen  hatte  sich unsere  Reisegesellschaft  beim  Spaziergang  in  zwei  Gruppen  geteilt).  So  erfuhren  wir,  daß  in  der  un­ mittelbaren  Nachkriegszeit  im  Stadtgebiet-  von  den  Sowjets  befohlen  -  sechs  Kirchen  vollständig  zerstört und  abgetragen  wurden.  Heute  schmückt  erst  ein  Kirchturm  wieder  die  Stadt,  der  katholischen  Friedenskir- che.  Zwei  weitere  Kirchen  befinden  sich  zur  Zeit  im  Aufbau.  Aus  der  eher  gemütlichen  mittelgroßen  Stadt der  Vorkriegszeit  ist  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  eine  moderne  große  Hafen-  und  Industriestadt geworden.  Klaipeda  ist  heute  der  einzige  große  Hafen  Litauens  und  mit  einem  großen  Terminal  für  Fähr­ schiffe,  insbesondere  einer Eisenbahnfähre nach Mukran auf der Insel Rügen, ausgestattet.  Diese moderne Verkehrsverbindung  stellte  ab  1986  für  die  Sowjets  eine  störungsfreie  Nabelschnur  zur  ehern.  DDR  dar. Nach  der  Loslösung  Litauens  aus  der  Ex-Sowjetunion  und  der  Wiedervereinigung  Deutschlands  Anfang der  90-iger  Jahre  steht  fest:  Der  Hafen  von  Klaipeda  als  Litauens  Tor  zur  Welt  kann  zum  wichtigen Aktivposten  im  deutsch-litauischen  Direktverkehr  und  Außenhandel  werden.  Übrigens  ist  Klaipeda  auch Heimatbasis  der  Fischfangflotte  Litauens.  Auch  die  Industrie  von  Klaipeda  ist  eng  mit  dem  Meer  verbun­ den:  Drei  Reparaturwerften,  die  Schiffsbauwerft  „Baltija“  (Fischereischiffe  und  Schwimmdocks)  sowie  ein fischverarbeitender  Betrieb  sind  die  wichtigsten  Arbeitgeber.  Außerdem  gibt  es  hier  verschiedene  Zweige der  Nahrungsmittelindustrie,  Textilbetriebe,  die  traditionelle  holzverarbeitende  Industrie  (  Papier  und Möbel)  u.  a.  m.  Der  wichtige  Industriestandort  Klaipeda  erzielt  heute  ein  großes  Steueraufkommen  und ist  deshalb  von  besonderer  Bedeutung  für  den  Staat  Litauen.  Die  Arbeitslosigkeit  ist heute  in Klaipeda  mit nur 3,8% außerordentlich niedrig.

Wir  überquerten  den  Dane-Fluss.  Der  alte  Stadtkern,  der  von  den  Zerstörungen  des  2.  Weltkrieges besonders  betroffen  war,  zeichnet  sich  durch  die  planmäßige  Anlage  in  Meinen,  rechteckigen  Vierteln  und geraden  schmalen  Straßen  aus.  Handel  und  Gewerbe  bestimmten  Architektur  und  Struktur.  Neben  Wohn­ häusern  -  oft  aus  Fachwerk  -  finden  sich  viele  Lagerhäuser  (Speicher),  Kontore  und  Werkstätten.  Bauten der  Gotik  und  Renaissance  sucht  man  vergeblich.  Regina  wies  daraufhin,  daß  die  Altstadt  als Kulturdenk­ mal  seit  einiger  Zeit  unter  Schutz  steht.  Das  Kopfsteinpflaster  über  das  wir  gingen,  sei  mehr  als  zwei­ hundert  Jahre  alt.  Im  17.  Jahrhundert  wären  viele  Holzhäuser  errichtet  worden,  die  vielfach  der  letzten großen  Brandkatastrophe  von  1854  zum  Opfer  fielen.  Die  bereits  seit  1971  begonnene  Rekonstruktion  der Altstadt  wird  heute  verstärkt  fortgesetzt.  Jetzt  privatisiert  man  wieder  Häuser  (etagenweise).  Zahlreiche Bauten stehen nun unter Denkmalschutz.

Unsere  Gruppe  betrat  den  Theaterplatz,  den  ehemaligen  Marktplatz  der  Stadt.  Bereits  Mitte  des  17. Jahrhunderts war mit der Gestaltung dieses Platzes begonnen worden. Schon vor 180 Jahren errichtete man hier ein Theaterhaus im Stil der Neorenaissance, das jedoch bei der Brandkatastrophe von 1854 ausbrannte und neu erbaut werden musste. Das Stadttheater wurde in jüngster Zeit renoviert und erhielt einen Anbau, der  den  Platz  nun  zu  einem  geschlossenen  Altstadtbereich  macht.  Es  beherbergt  heute  das  „Litauische Schauspielhaus“, das - wie Regina erklärte - sehr modern eingerichtet sei und in der Mitte eine Drehbühne habe.  In  der  Mitte  des  dreieckigen  Hauptsims  des  Theatergebäudes  und  über  dem  großen  Theaterbalkon, auf  dem  Adolf  Hitler  am  23.  März  1939  seine  “Anschlußrede“  hielt,  konnten  wir  das  alte  Memeler  Stadt­ wappen  erkennen,  das  über  die  Jahrhunderte  immer  gleich  geblieben  ist.  Es  zeigt  eine  mittelalterliche Burganlage,  links  und  rechts  flankiert  von  zwei  Wehr-Türmen.  Das  Boot  im  unteren  Teil  symbolisiert  den Fährbetrieb zwischen der Kurischen Nehrung und der Burg. Zwei Kinderfiguren halten das Wappen.

Mittelpunkt  und  Hauptattraktion  des  Theaterplatzes  ist  der  Simon-Dach-Brunnen,  ursprünglich  1912 aufgestellt  und  mit  einer  großen  Feier  eingeweiht.  Das  Denkmal  ehrt  den  1605  in  Memel  geborenen  und 1659 in Königsberg verstorbenen Professor für Poesie und evangelischen Liederdichter Simon Dach, dessen berühmtestes  Werk  das  allseits  bekannte  Lied  vom  „Ännchen  von  Tharau“  ist,  mit  einem  Relief.  Die Bronzefigur von Ännchen, ein Wahrzeichen der Stadt, krönt den Brunnen. Die erste Zeile des Liedes ist zu ihren Füßen eingemeißelt. Als wir uns dem Brunnen näherten, spielte dort gerade ein Ziehharmonikaspieler die  uns  allen  vertraute  Melodie  des  Ännchen  von  Tharau  und  sang  dazu  in  deutscher  Sprache.  Wie  wir erfuhren,  war  die  ursprünglich  von  Bildhauer  Alfred  Künne  (Berlin)  geschaffene  Figur  im  2.  Weltkrieg verloren  gegangen.  Die  Anregung  von  Heinz  Radziwiłł,  einem  deutschen  Reiseleiter  in  den  80-iger Jahren, den  Simon-Dach-Brunnen  am  Theaterplatz  wiederherzustellen,  war  in  Klaipeda  zuerst  skeptisch  zur Kenntnis  genommen  worden,  dann  interessiert  verfolgt  und  schließlich  engagiert  -  im  positiven  Sinn  - diskutiert  worden.  In  der  Bundesrepublik  wurde  1987  auf  Initiative  von  Radziwiłł  eine  ,Ännchen-von- Tharau-Gesellschaft* gegründet, die sofort begann Gelder für die Wiederherstellung zu sammeln. Es gelang sogar,  eine  Kopie  der  Skulptur  von  Ännchen  ausfindig  zu  machen,  die  eine  authentische  Nachbildung gestattete. Der Berliner Bildhauer Arnold Haacke goß daraufhin ein neues Standbild. Klaipeda hatte damals -  noch  zur  Sowjetzeit-  einen  „vernünftigen  Bürgermeister“,  so  Regina  (Litauer,  kunstfreundlich,  er  leitete ca. 20 Jahre die Geschicke der Stadt, ist später an Krebs gestorben), der die Zustimmung zur Realisierung dieses  damals  noch  ungewöhnlichen  Projektes  durchsetzte.  Das  „Ännchen  von  Tharau  II“-  ein  Symbol  der Liebe-  wurde  auf  dem  Seeweg  von  Deutschland  nach  Klaipeda  gebracht.  Es  war  das  erste  rein  deutsch restaurierte  Denkmal  im  Baltikum,  -  in  der  Ex-Sowjetunion  -  eine  vor  wenigen  Jahren  noch  undenkbare kulturelle  Öffnung,  die  dies  möglich  machte.  Anläßlich  der  Denkmals-Einweihung  des  neuen  Simon-Dach- Brunnens  mit  der  Büste  des  Ännchen  von  Tharau  fand  Mitte  November  1989  auf  dem  Theaterplatz  ein großes  Fest  statt.  Nach  den  schweren  Wunden,  die  die  nationalsozialistische  und  kommunistische  Diktatur unter Hitler und Stalin in beiden Ländern geschlagen haben, war dies ein symbolträchtiger Akt für die neue deutsch-litauische  Freundschaft.  Bei  der  Fortsetzung  unseres  Rundganges  sahen  wir  in  der  alten  Fischer­ straße  einige  restaurierte  Speicherhäuser,  die  ursprünglich  aus  dem  17.  Jahrhundert  stammten.  Wir  gingen anschließend  in  das  historische  Handwerkerviertel  hinein,  das  aus  drei  parallel  verlaufenden  Straßen besteht, nämlich die frühere Schmiede-, Schuster- und Bäckerstraße. Letztere weist die größten Häuser auf. Regina  berichtete,  daß  nach  dem  Krieg  und  seinen  Zerstörungen  hier  zunächst  sehr  arme  Familien  mit vielen  Kindern  angesiedelt  wurden.  Viele  meist  einstöckige  Häuser  sind  -  jetzt  nach  der  Privatisierung  - wieder  restauriert  und  farbenfroh  verputzt  worden.  In  ihnen  befinden  sich  neben  Wohnungen,  Geschäfte, Werkstätten, Kneipen und Büros. In einem der Häuser der ehemaligen Schmiedestraße würden jetzt abends die  besten  Jazzspieler  auflreten,  teilte  sie  uns  mit.  Auf  einem  kleinen  Platz  erblickten  wir  ein  modernes Denkmal eines einheimischen Bildhauers in Form eines hohen quadratischen Ofens, auf dem ein Drachen - in  Richtung  Osten  blickend  -  liegt.  Das  Denkmal,  das  auf  der  einen  Seite  das  Bildnis  Marieichens  als Friedensfigur  aufweist,  soll  die  Geschichte  des  Landes  symbolisieren:  Litauen,  das  noch  immer  vom Nachbarn im Osten bedroht wird. Wir erreichten dann die alte Marktstraße, eine auf beiden Seiten mit Bäu­ men bewachsene breite Straße, an deren nördlichen Ende einst die völlig zerstörte evangelische Johanniskir- che stand. Nur das alte Pfarrhaus sei noch vorhanden, in dem jeden Sonntag jetzt Gottesdienste abgehalten würden, so berichtete Regina. In diesem Zusammenhang bemerkte sie, daß heute 90% der Litauer sich zum katholischen Glauben bekennen würden. An einem größeren Eckgebäude der alten Marktstraße, das immer als  Bankhaus  diente  und  heute  die  „Industrijos  Bankas”  (Litauische  Industriebank)  beherbergt,  konnte  man in  den  Eisengitterstäben  vor  den  großen  Fenstern  im  Erdgeschoß  Reste  der  alten  Initialen  der  Deutschen Bank erkennen. Bevor wir zum Theaterplatz zurückkehrten, wo der Bus auf uns wartete, zeigte uns Regina in  der  alten  Hohen  Straße  (heute  Aukstoji  genannt)  eines  der  ältesten,  besonders  schön  restaurierten Gebäude  der  Stadt,  das älteste  Postamt von  Memel mit einem schmalen Giebel. In dieser Straße befindet sich  auch  einer  der  markantesten  Fachwerkbauten  der  Altstadt,  ein  mehrstöckiger  Speicher,  der  nach  der Rekonstruktion  für  Ausstellungszwecke  ausgebaut  wurde.  Nachdem  wir  Regina  zum  Hotel  “Klaipeda“ zurückgebracht  und  mit  Dank  für  ihre  interessante  Stadtführung  verabschiedet  hatten,  setzten  wir  -  nach kurzer  Erfrischungspause  -  die  Weiteneise  fort.  Wir  fuhren  nun  durch  das  eigentliche  Stadtzentrum  in  der Neustadt  über  den  Viltis-Platz  (Platz der  Hoffnung),  an  dessen Ostseite  das in  den  60-iger Jahren  erbaute Kulturhaus  mit  dem  darin  befindlichen  Musiktheater  steht.  Wir  passierten  in  der  Lindenstraße  (heute  Liepu gatve)  zunächst  das  Uhrenmuseum  im  neoklassizistischen  Stil  auf  dessen  Grundstock  einst  das  Haus  der Familie  Argelander  stand.  (Anm:  Der  spätere  berühmte  Astronom  Friedrich  Wilhelm  August  Argelander  - Sohn  -  wurde  im  März  1799  in  Memel  geboren.  Er  siedelte  später  nach  Bonn  über,  wo  er  als  Astronom 1852-61  die  sog.,Bonner  Durchmusterung“  einführte,  einen  Stemenkatalog  von  mehr  als  324.000  Sternen. Er  starb  in  Bonn  am  17.2.1875).  Einer  der  markantesten  Bauten  der  Neustadt  befindet  sich  direkt  neben diesem  Museum,  nämlich  das  Hauptpostamt  der  Stadt  -  ein  im  neogotischen  Stil  gehaltener  roter  Backsteinbau - mit einem 42 m hohen Turm, von dem zu jedem Stundenschlag ein Glockenspiel ertönt, drunter auch  die  Melodie  des  ,Ännchens  von  Tharau“.  Wie  Daiva  erzählte,  wurde  der  Entwurf  des  im  Jahre  1893 errichteten Hauptpostamts vom damaligen preußischen König selbst gefertigt.

In  rascher  Folge  machte  uns  Daiva  beim  Vorbeifahren  auf  eine  Reihe  von  bemerkenswerten  Denkmälern, Gebäuden  und  Anlagen  aufmerksam:  So  das  Denkmal  des  litauischen  Klassikers  Kristijonas  Donelaitis,  der als  erster  Dichter  in  der  Literatur  Litauens  rangiert,  das  Jugendstilgebäude  des  früheren  Mädchenlyzeums (heute  staatliches  Konservatorium)  sowie  ein  russisches  Ehrenmal  in  einer  Anlage,  in  der  etwa  500 Soldaten  bestattet  sind.  Wir  fuhren  dann  am  ehemaligen  Städtischen  Friedhof  vorbei,  der  nach  dem  2. Weltkrieg eingeebnet und zu einem großen Skulpturenpark in dem mehr als hundert Werke litauischer Bild­ hauer aufgestellt sind, umgewandelt wurde. Daiva wies daraufhin, daß in diesem Park jetzt sogar einige alte Grabstätten - soweit bekannt - wieder hergerichtet worden sind. Unweit des Bahnhofs, der aus zwei Teilen besteht (alter Teil aus gelben Bauziegeln, neuer Teil aus Betonteilen), der Klaipeda mit Linien nach Kaunas, Vilnius,  Riga,  St.  Petersburg  u.  a.  m  verbindet,  erblickten  wir  einen  massiven  Bau  im  neogotischen  Stil (ehemalige  Aufbauschule),  in  dem  heute  ein  Pädagogisches  Institut  (Lehrerseminar  mit  sechs  Fakultäten und  ca.  5.000  Studenten)  untergebracht  ist.  Auf  der  Hauptausfallstraße  von  Klaipeda  nach  Libau/Liepaja kamen wir dann auf der rechten Seite an einem großen Gebäudekomplex vorbei, der eine sehr wechsel volle Geschichte  hat:  ursprünglich  eine  deutsche  Kaserne,  dann  von  der  Sowjet-Armee  genutzt,  ist  jetzt  -  neu renoviert  -  der  Sitz  der  Universität  Klaipeda.  Ein  Stück  weiter  auf  der  linken  Seite  befindet  sich  ein deutscher Soldatenfriedhof aus dem 1. Weltkrieg, der zur Sowjetzeit eingeebnet wurde und in jüngster Zeit vom  Volksbund  Deutscher  Kriegsgräberfürsorge  wiederhergerichtet  wurde.  Bevor  wir  die  Außenbezirke Klaipedas  verließen,  sahen  wir  auf  der  linken  Seite  einige  größere  Krankenhausbauten,  von  denen  das modernste  in  der  Mitte  liegt  und  in  der  Sowjetzeit  ausschließlich  für  die  Behandlung  und  Heilung  von Seeleuten bestimmt war.

Auf  Anregung  von  Frau  Becks  wurde  quasi  als  Abschiedsgruß  unseres  Besuchs  in  Memel/Klaipeda  das berühmte  Lied  des  ostpreußischen  Dichter  Simon  Dach  „Ännchen  von  Tharau“  gesungen.  (Übrigens  war dieses  Lied  ursprünglich  in  niederdeutscher  Sprache  von  Simon  Dach  in  siebzehn  Versen  verfaßt  worden. Johann Gottfried Herder war es, der den Text ins Hochdeutsche übertragen hat.)

Unser nächstes Fahrtziel war der ca. 30 km nördlich von Klaipeda liegende größte und beliebteste Badeort Litauens  Palanga  (deutsch  Polangen).  In  zügiger  Fahrt  durchfuhren  wir  zunächst  den  nördlichsten  Zipfel des  früheren  Memelgebietes.  Daiva  erinnerte  daran,  daß  früher  18  km  nördlich  von  Memel  an  der  Ostsee das  nördlichste  Dorf  Deutschland  mit  dem  Namen „Nimmersatt“  lag. Es  habe eine  Redewendung  gegeben: “Nimmersatt,  wo  das  Deutsche  Reich  ein  Ende  hat!“  Unweit  davon  verlief  mehrere  hundert  Jahre  die Grenze zwischen dem Deutschen und dem Russischen Reich.

In  historischen  Schriften  sei  Palanga  schon  früh  erwähnt  worden,  berichtete  Daiva  weiter.  Danach  habe dort bereits im 11. Jhdt. eine Festung und eine kleine Siedlung (Baltenstamm der Kuren) bestanden. Damals wurde  dort  schon  mit  Bernstein  gehandelt  Im  17.  Jahrhundert  ist  Palanga  zu  einer  wichtigen  Hafen-  und Handelsstadt  geworden,  es  war  lange  Zeit  der  einzige  Seehafen  Litauens.  Im  Nordischen  Krieg  (1701) hatten jedoch die Schweden den Hafen zerstört. Nach der Aufteilung von Litauen und Polen im Jahr 1793 (2. Polnische Teilung) kam Palanga, das zwei Jahre zuvor das Magdeburger Stadtrecht erhielt, unter russi­ sche  Herrschaft.  Größere  Bedeutung  gewann  Palanga  wieder  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  als  das  Baden und  Kuren  in  Mode  kam.  Graf  Tiskevicius  kaufte  1824  die  ganze  Stadt  auf  und  ließ  sie  zum  Badeort umbauen.  Eine  Seebrücke  aus  Holz  wurde  angelegt,  die  sich  über  hundert  Meter  weit  ins  Meer  erstreckte und  bei  den  Badegästen  als  beliebte  Promenade  galt  Wegen  Baufälligkeit  musste  sie  1992  geschlossen werden.  Auf  starken  Betonstützen  entstand  1998  eine  neue  Seebrücke,  die  breiter  und  länger  (470 m) als die  alte  ist.  Wir  bekamen  bei  unserem  mehrstündigen  Aufenthalt  in  Palanga  die  Gelegenheit  diese  See­ brücke selbst in Augenschein zu nehmen.

Als  wir  uns  Palanga  näherten,  eine  Stadt  mit  heute  ca.  20  000  Einwohnern,  konnten  wir  den  Turm  der neugotischen  Kirche  der  Himmelfahrt  Mariens  ausmachen,  die  -  wie  Daiva  berichtete  -  1907  von  dem deutsch-baltischen  Architekten  Schrandmann  erbaut  wurde  (Kirche:  Schenkung  des  Grafen).  Wir  sahen, daß  im  Zentrum  von  Palanga  die  meisten  Gebäude  schöne  alte  Holzvillen  sind.  Unser  Bus  parkte  in  der Nähe  des  Eingangs  zum  Botanischen  Garten.  Jeder  konnte  die  verspätete  Mittagspause  zunächst  nutzen, um  sich  zu  verköstigen  und  den  Bade-  und  Kurort  individuell  zu  erkunden.  Mehrere  unserer  Gruppe  ent­ schlossen  sich  bis  zur  Seebrücke  zu  gehen.  Viele  Kaffeehäuser,  Restaurants,  Diskotheken,  Klubs  u.  a.  m. säumen die schöne Basanaviciaus-Allee, die durch das Zentrum der Stadt zur Seebrücke und zum Ostsee­ strand  führt.  Scharen  von  Menschen  und  Familien  mit  Kindern  bevölkerten  an  diesem  Sonntagnachmittag die Straße. An einer Ecke - kurz vor dem Strand- konnte man eine moderne Skulptur „Juratę und Kastytis“ (1959  von  dem  litauischen  Künstler  N.  Gaigulte  geschaffen)  erblicken.  Sie  erinnert  an  die  schöne  altli- tauische  Sage,  die  uns  später  beim  Besuch  des  Bemsteinmuseums  erzählt  wurde,  von  der  großen  Liebe zwischen  der  Meeresgöttin  Juratę  und  dem  einfachen  Fischer  Kastytis,  über  die  sich  Göttervater  Perkunas so erzürnte, daß er das Bemsteinschloß seiner Tochter zertrümmert. Die Bruchstücke und die verflossenen Tränen Jurates um den Geliebten werden noch heute an die Ostseestrände gespült - der Bernstein.

Wir  sahen,  daß  der  kilometerlange  Sandstrand,  der  von  der  Stadt  durch  einen  schmalen  Kiefernwald getrennt  ist,  sehr  gut  besucht  war.  Daiva  berichtete,  daß  nach  dem  Wiederaufbau  des  Kurortes  Ende  der achtziger  Jahre  Palanga  zum  bedeutendsten  Seebad  der  Sowjetunion  wurde  (über  '/2  Million  Kurgäste  pro
Jahr).  Nach  der  Wende  sind  einige  neue  Hotels  gebaut  worden.  Man  hat  weitete  Mineralwasserquellen erschlossen.  Palanga  erfreut  sich  heute  auch  als  Luftkurort  wachsender  Beliebtheit.  Inzwischen  ist  ein stärkerer Zustrom von Gästen aus westlichen Ländern zu beobachten.

Unsere  Reisegruppe  versammelte  sich  um  14.45  Uhr  wieder,  um  gemeinsam  das  mitten  im  Botanischen Park von Palanga liegende Bernsteinmuseum zu besuchen. Der große Park mit seinen Blumenanlagen und Gewächshäusern,  der  zu  den  schönsten  in  Litauen  zählt,  wurde  von  dem  namhaften  französischen  Land­ schaftsarchitekten  Edouard  Andre1  (1840-1911)  entworfen  und  angelegt.  Über  zweihundert  Pflanzenarten,
ein  Rosarium  mit  80  Rosenarten,  mehrere  Teiche  und  Springbrunnen  erfreuen  den  Spaziergänger.  Am Eingang  des  Parks  gingen  wir  an  einer  modernen  Skulptur  „Egle,  die  Nattemkönigin“  vorbei.  Im  Zentrum des Botanischen  Gartens  erblickten  wir ein  Schloß  im Neorenaissance-Stil,  das der Graf Feliksas Tiskevici- us  (1865-1932)  zwischen  1897  und  1902  nach  Entwürfen  des  deutschen  Architekten  Franz  Schwechten erbauen  ließ.  Im  Jahr  1963,  so  erzählte  unsere  Museumsführerin  ist  das  ehemalige  Schloß  in  ein  Bem- steinmuseum  umgewandelt  worden.  Das  Museum,  die  besondere  Attraktion  von  Palanga,  ist  aus  der umfangreiche  Privatsammlung  von  Bernstein  des  Grafen  hervorgegangen.  Es  hat  heute  fast  25000  Stücke im Fundus, deren schönste - ca. 4.500 Exponate - in zwei Abteilungen über die natürliche Entstehung des Bernsteins  und  seiner  Bedeutung  für  die  Kulturgeschichte  in  fünfzehn  thematisch  geordneten  Sälen ausgestellt  sind.  Wir  wurden  hier  nicht  nur  mit  der  Entstehung  des  Bernsteins  (er  ist  fossiles  Harz  von riesigen  Kiefern,  die  es  heute  nicht  mehr  gibt,  zwischen  55  -  40  Millionen  Jahre  alt),  sondern  auch  mit seiner  Verarbeitung  und  Verwendung  sowie  seinen  morphologische  Abarten  vertraut  gemacht.  Die Sammlung  enthält  u.  a.  siebzig  Stücke  Rohbemstein  -  das  größte  wiegt  3.698  Gramm  -  und  ca.  15.000 Inklusen  (Bernsteineinschlüsse).  Die  wertvollsten  Inklusen  -  Tausendfüßler,  Eidechsen  -  es  gibt  hier  nur drei  davon  auf  der  Weit  -,  Ameisen,  Mücken,  Fliegen,  Spinnen,  Insekten  aller  Art  -  sind  hier  ausgestellt. Pflanzliche Einschlüsse sind dagegen sehr selten (nur 0,3 %) zu finden, lange Kiefemnadeln haben lediglich Löcher  im  Harz  hinterlassen.  Außerdem  findet  man  Beispiele  fossilen  Harzes  aus  anderen  Erdregionen, prähistorischen  Schmuck  und  wunderschöne  Schmuckstücke  und  Gegenstände  aus  verschiedenen  Kulture- pochen  sowie  Bearbeitungswerkzeuge.  Seit  dem  17.  Jahrhundert  gab  es  in  Palanga  Bemsteinwerkstätten, die den Rohbemstein geschliffen haben.

Vor den schönen Blumenbeeten vor dem Museum befindet sich ein neues  Christus-Denkmal  des  Bildhauers  Zirgules  (altes  war  in  der Sowjetzeit  beseitigt  worden).  Wir  sahen,  daß  in  seinem Sockel das Bibelwort  “Christus  spricht:  Kommt  her  zu  mir  alle,  die  ihr  mühse­lig  und  beladen  seid,  ich  will  euch  erquicken“  (Matthäus  11,28)  zu lesen  war.  Zufällig  war  dies  der  Wochenspruch  für  den  2.  Sonntag nach  Trinitatis  (2.7.2000),  genau  der  Tag,  an  dem  wir  Palanga
besuchten.

Um  16.45  Uhr  traten  wir  die  Weiterfahrt  nach  Liepaja/Libau  in  Lettland,  unserem  Tagesziel  an.  Einige Kilometer  nördlich  der  Stadt  passierten  wir  dann  den  kleinen  Flughafen  von  Palanga,  der  von  Klein­ flugzeugen  aus  Berlin,  Hamburg,  Stockholm  und  weiteren  Städten  des  In-  und  Auslands  angeflogen  wird. Kurz  vor  der  Grenze  befindet  sich  in  der  Nähe  von  Butinge  ein  Erdölterminal  mit  größeren Weiterverarbeitungs-  und  Verladekapazitäten.  Er  wurde  in  den  letzten  Jahren  errichtet  und  soll  weiter ausgebaut  werden.  Daiva  berichtete,  daß  die  US-Gesellschaft  Williams  International  sich  hier  investitions­ mäßig  stark  engagiert  habe.  Es  sei  allerdings  ein  für  die  litauische  Seite  ungünstiger  Kaufvertrag  abge­ schlossen  worden,  der  die  jetzige  litauische  Regierung,  insbesondere  den  amtierenden  Ministerpräsidenten, in  Schwierigkeiten  gebracht  hätte.  Wegen  der  Grenznähe  und  von  den  Raffinerien  ausgehenden  möglichen Gefahren  für  die  Umwelt  seien  auch  mit  Lettland  zeitweise  Streitigkeiten  (Einwendungen  der  dortigen Grünen Partei) aufgekommen.

Kurz  nach  17.00  Uhr  erreichten  wir  die  litauisch-lettische  Grenze.  Hier  gibt  es  noch  keine  gemeinsame Grenzstation  mit Lettland. Dementsprechend  lange dauerten auch die Grenzformalitäten (ca. 1 'A Stunden). Wir hatten jetzt noch 53 km bis Liepaja zu fahren. Daiva nutzte die Zeit, uns einiges Grundsätzliches über Lettland, das zweite Land des Baltikums, das wir besuchten, mitzuteilen. Lettland, das mit ca. 64 600 qkm Fläche fast  so groß wie die Litauens ist zählt gegenwärtig nur etwas mehr als 2,4 Mio. Einwohner, wovon etwa ein Drittel in der Hauptstadt Riga leben. Nur 54 % aller Einwohner sind Letten, die Russen stellen mit einem  Anteil  von  ca.  34%  die  größte  ethnische  Minderheit.  Wahlrecht  haben  in  Lettland  nur  solche Staatsbürger,  die  Nachfolger  der  Staatsbürger  von  1940  sind.  Daher  besitzen  ca.  30%  der  sog.  ständigen Einwohner  -  als  Folge  der  50-jährigen  sowjetischen  Okkupation  -  keine  Staatsbürgerschaft  und  damit  auch nicht das Wahlrecht. Seit etwa zwei Jahren kann jeder ständige Einwohner Lettlands die Staatsbürgerschaft erwerben,  sofern  er  die  lettische  Sprache  beherrscht  und  über  Verfassung  und  Geschichte  Lettlands Bescheid  weiß.  Wiederholt  sind  durch  diese  spezifische  Situation  Schwierigkeiten  mit  den  Russen  ent­ standen.  Lettland  besteht  aus  drei  Provinzen,  nämlich  Kurland  (westl.  Teil),  Livland  (Vidzeme,  Küsten­ streifen  und  Hinterland  nördlich  von  Riga)  und  Lettgallen  (Latgale,  Ostlettland  nördl.  der  Daugava  = Düna).  Lettland  ist  im  Gegensatz  zum  überwiegend  katholischen  Litauen  vorwiegend  protestantisch.  Nur in  Lettgalen,  das  einst  zu  Polen  gehörte,  ist  der  Katholizismus  stark  vertreten.  Die  russisch-orthodoxe Kirche  stellt  die  drittgrößte  Religionsgemeinschaft  dar.  -  Lettisch  gehört  zur  Sprachgruppe  der  indo­ europäischen  Sprachen.  Die  baltische  Sprachgruppe  umfaßt  neben  dem  Lettischen  das  Litauische,  so  daß sich  Letten  und  Litauer  sprachlich  verhältnismäßig  gut  verständigen  können,  denn  ein  Drittel  des  Wort­ schatzes ist sehr ähnlich. Beide Sprachen haben keine direkte Verwandtschaft zu den slawischen Sprachen.

Lettland  ist  stark  bewaldet  (ca.  35%  der  Bodenfläche),  wovon  wir  uns  auf  der  Weiterfahrt  nach  Liepaja überzeugen  konnten.  Da  die  Zeit  schon  weit  vorangeschritten  war,  passierten  wir  den  hübschen  Ferienort Nica  (dt.  Niederbarthau)  ohne  anzuhalten.  Gegen  19.00  Uhr  erreichten  wir  Liepaja  /  Liebau,  die  dritt­ größte  Stadt  Lettlands,  ca.  96.000  Einwohner.  Wir  steuerten  sofort  unser  Übemachtungshotel  „Liva“  an, das an einem Platz im Zentrum der Stadt in der Nähe der evangelischen Dreifaltigkeitskirche und gegenüber dem  Pädagogischen  Institut  liegt.  Mit  einem  gemeinsamen,  besonders  guten  Abendessen  im  gerade neurenovierten obersten Stockwerk des Hotels beschlossen wir den ereignisreichen und interessanten Tag.

Walter Döpfer

5. Reisetag, Montag 3. Juli

Nach  dem  Frühstück  im  Hotel  Liva  nahmen  wir  Abschied  von  der  Stadt  Libau  /  Liepa­ ja,  die  insgesamt  keinen  sehr  angenehmen  Eindruck  hinterließ.  Die  sehr  herunterge­ kommene,  graue  Industriestadt  weist  wenige  Reize  auf,  enthält  jedoch  sicherlich  eine Menge  verborgener  Schätze,  die  für  den  Tourismus  erschlossen  werden  müßten.  Al­ lerdings werden die vorhandenen geringen Mittel vorzugsweise in Riga und nicht in den Landstädten eingesetzt.

Die  ganze  Gegend  an  der  Ostseeküste  war  durch  rücksichtslose  sowjetische  Wirtschaftspolitik  nachhaltig geschädigt  worden.  Weite  Teile  Kurlands  galten  seit  dem  2.  Weltkrieg  als  militärisches  Sperrgebiet.  Libau war  ein  wichtiger  russischer  Marinestützpunkt  (mit  Atom-U-Booten).  So  wirkt  wegen  der  jahrzehntelangen Isolation  diese  Landschaft  recht  rückständig.  Während  der  Fahrt  über  Aizpute  /  Hasenpot  auf  Goldingen zu erfuhren wir von Frau Daiva mancherlei Neues. So erklärte sie z.B. die Farben der lettischen Fahne: Die zwei breiten roten Streifen mit dem kleineren weißen in der Mitte sollen an den Freiheitskampf des Volkes erinnern;  das  Laken  eines  Verwundeten  sei  rot  von  Blut  gefärbt  worden,  nur  der  Mittelteil,  auf  dem  er gelegen habe, sei weiß geblieben.

Viele Wälder säumen den Weg, ab und zu gibt es kleinere Siedlungen. In Lettland sind nach der Wende bei der  Landreform  im  Gegensatz  zu  Litauen  größere  Bauernhöfe  gebildet  worden;  mit  den  landwirtschaftli­ chen  Produkten  gibt  es  jedoch  Absatzschwierigkeiten.  Auf  den  Weiden  grasen  nur  wenige  Rinderherden; meist  stehen  nur  einzelne  Kühe  angepflockt  auf  der  Wiese.  Weite  brachliegende  Flächen,  Sümpfe,  Wälder und  ab  und  zu  ein  paar  Getreidefelder  prägen  die  Landschaft.  Störche  waten  durchs  feuchte  Gras  oder grüßen aus ihren Nestern; zieht ein Paar nur einen Jungstorch auf, dann ist mit einem warmen, trockenen Sommer zu rechnen, während mehrere kleine Störche im Nest viel Regen und kühle Temperaturen erwarten lassen.

Aizpute / Hasenpot mit alter Ordensburg, Wassermühle und Kirche war längst passiert, dann kamen wir auf schmaler,  holperiger  Straße  nur  langsam  voran.  Schließlich  erreichten  wir  Goldingen  /  Kuldiga  und schlenderten  überden  Marktplatz  am 1860 erbauten  Rathaus  vorbei zu  einer wenig belebten  Fußgängerzo­ ne. Jetzt konnten wir Geld umtauschen und erhielten für 100 DM etwa 28 Lats.

Die  Stadt  wirkt  alt  und  gebrechlich,  so  als  hielte  sie sich nur mühsam aufrecht. Es war schwer vorstellbar, daß  hier,  in  der  ehemals  heimlichen  Hauptstadt  Kur­lands,  König  Karl  XII.  von  Schweden  Hof  gehalten hatte;   damals,   im   Nordischen   Krieg,   soll   hier   die schwedische  Kriegskasse  aufbewahrt  worden  sein.  In der   Katharinenkirche,   die   etwa   350   Jahre   alt   ist, bewunderten  wir  besonders  den  Altar  und  die  Kanzel und  ließen  uns  die  Katharinenlegende  erzählen:  Vor
mehr als 700 Jahren errichteten die  Ordensritter hier eine Burg, darum entstand die  Stadt,  die  jedoch  keine  Kirche  besaß.  Dem  Waisenkind  Katharina  [Die Legende der Hl. Katharina von Alexandrien scheint hier nach Kurland verlegt zu sein. (Anm. d. Druckers)] erschien Christus im Traum und forderte das Mädchen auf,  für  ein  Gotteshaus  zu  sorgen.  Mit  großem  Geschick  fertigte  Katharina schöne  Handarbeiten  an  und  verwahrte  alles  ersparte  Geld  in  einer  Truhe.  Weil sie keine Werbung eines Mannes annahm, wurde sie angeklagt, mit dem Teufel Umgang zu haben; so musste sie unschuldig die Todesstrafe auf dem Rad erleiden, ihr Geld aber hatte sie einem  Priester  anvertraut,  so  dass  bald  nach  ihrem  Tod  der  Kirchenbau  begonnen  werden  konnte.  Als Schutzheilige  dieser  Kirche  und  der  Stadt  wird  sie  noch  heute  verehrt;  im  Wappen  der  Stadt  ist  ihr  Bild enthalten.

Natürlich  betrachteten  wir  noch  die  Stromschnelle  der  Venta  und  die  berühmte  Backsteinbrücke  über  den Fluss (165 m), bevor wir die Fahrt fortsetzten, und zwar nun ins “Fircks-Land“ hinein.

Während  der  Fahrt  über  Talsen  /  Talsi  in  östliche  Richtung  berichtete  Frau  Marissa  von  Fircks  über Nurmhusen  /  Nurmuiza  der  Patronatskirche  der  Familie  v.  Fircks.  1994  ist  zum  400.  Jahrestag  der  Grün­ dung dieses Gotteshauses durch den Gutsherrn Georg v. Fircks die Renovation des fast verfallenen Gebäu­ des abgeschlossen worden. Sehr viele Mitglieder der weitverzweigten Sippe waren anwesend, und Hunderte von Gästen nahmen an dem Ereignis teil.

Von weit her erblickt man den 47 m hohen, sehr spitzen Turm; bei näherem Hinsehen erkennt man darauf eine Kugel, einen Hahn und ganz oben ein Kreuz.

Nach  dem  1.  Weltkrieg  hatte  die  Familie  v.  Fircks  den  ausgedehnten  Besitz Nurmhusen  sowie  die  Patronatsrechte  verloren.  Eine  überlieferte  Prophezeiung besagte,  die  Kirche  werde  verfallen,  wenn  eine  Birke,  die  auf  dem  Dach  ge­ wachsen sei, Armesdicke erreicht habe. Dies war nach 1980 tatsächlich eingetre­ ten.  Auf  einer  Tafel  von  1620  steht  geschrieben:“...  Die  ganze  Nachkommen­ schaft  wird  gebeten,  dieses  Bauwerk,  wie  auch  immer  das  Bild  der  Zeit  sein möge, in gutem Zustand... zu bewahren...“. Dieser Aufgabe fühlten sich die Mitglieder der Familie v. Fircks auch nach der Enteignung verpflichtet. Mit bewundernswerter Energie haben sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft die Wiederherstellung der Kirche betrieben.

Überrascht ist der Besucher von der barocken Ausgestaltung des Kirchenraumes. Besonders  lenken die reich verzierte Kanzel und der prachtvolle Altar die Blicke des Betrachters auf sich. Sehr beeindruckend ist die große Grabplatte mit den gut
erhaltenen  Figuren  Georgs  von  Fircks,  der  den  Besitz  Nurmhusen  erworben hatte  und  die  Kirche  1594  errichten  ließ,  sowie  seiner  Gemahlin  Anna.  Auf besonderen  Tafeln  sind  die  Namen  aller  Patronatsherren  sowie  der  Verlauf  der  Renovation  vermerkt. Beachtenswert sind auch die Orgel, die Leuchter, das Taufbecken und die Ölgemälde. Die völlig verwüstete Krypta wurde wieder zu einer würdigen Familiengruft umgestaltet.

Wo  sonst  als  in  der  Nurmhusener  Kirche  wurden  wir  Fahrtteilnehmer  stille  zur  Andacht.  Pfarrer  Becks erläuterte  den  Monatsspruch  Psalm  36,6  sowie  die  Tageslosung  im  Sinne  des  Gotteslobs,  das  nicht  allein durch  Worte,  sondern  vor  allem  durch  Taten  zum  Wohle  der  Mitmenschen  zum  Ausdruck  kommen  sollte. Mit dem Lied “Lobe den Herren, o meine Seele“ klang die Besinnung aus.

Danach  folgten  wir  gern  der  freundlichen  Einladung der   lettischen Kirchengemeinde   zu   Kaffee,   Kuchen und den schmackhaften Piroggen. Anschließend über­ gaben Frau Becks und Frau Klein als Leiterinnen des Kreativen     Arbeitskreises der Matthäikirche eine Spende   von   eintausend   DM   an   die   Kirchenvorsteherin, Frau Aida Smilgzieda, und Herrn Pastor Berzins zur Verwendung bei der Frauenarbeit. Frau Baronin Fircks  konnte  die  Spende  des  PfBA  Matthäikirche  in  Höhe  von  weiteren  eintausend  DM  zur  Unterstützung der Bedürftigen und Kranken der Gemeinde überreichen. Mit großer Freude wurden auch die mannigfachen guten  Kleidungsstücke,  die  die  Fahrtteilnehmer  mitgebracht  hatten,  entgegengenommen.  Die  Dankesworte waren überwältigend und bewegten Geber und Beschenkte.

Weiter  ging  die  Fahrt  auf  schmalem  Weg  nach  Nogalien  /  Nogale;  dieses  Jagd-  und  Sommerschloß  war 1880  von  Frh.  v.  Fircks  in  neuklassizistischem  Stil  erbaut  und  prächtig  ausgestattet  worden.  Die  letzte Besitzerin  (Marie  v.  Nolcken)  wurde  1920  enteignet.  Die  Lage  des  Anwesens  ist  bezaubernd.  Von  der Freitreppe  aus  schweift  der  Blick  hinab  zu  dem  kleinen,  verschwiegenen  See,  der  umgeben  ist  von  einem verwunschenen  Park  mit  mächtigen  Eichen.  Was  soll  nun  aus  dem  Gebäude  werden?  Der  Besitzer  einer Rigaer  Geschirrfabrik  hat  Nogallen  erworben  und  läßt  zunächst  eine  Mauer  um  das  Gelände  errichten, bevor  mit  der  Renovation  des  Hauses  begonnen  wird.  Mit  viel  Phantasie  kann  man  sich  vorstellen,  wie dieser Ort in ein paar Jahren aussehen wird. Dann mag wohl die Mutter des Eigentümers, die uns gestattete, die  Innenräume  zu  besichtigen,  nicht  mehr  so  recht  ins  Bild  eines  vornehmen  Hotels  oder  einer  schicken Spielhölle passen.

Ein  kurzer  Halt  in  Talsen  /  Talsi  konnte  genutzt  werden  zum  Eintritt  in  die  1567  erbaute  evangelische Kirche.  Dieses  Gotteshaus,  das  im  2.  Weltkrieg  nicht  beschädigt  wurde,  besitzt  typische  Kennzeichen kurländischer  Architektur  im  vereinfachten  romanischen  Stil:  Halbrundbogenfenster  und  pyramidische Turmspitze.  Bemerkenswert  sind  vor  allem  die  modernen  Glasfenster,  das  Altarbild  (Christi  Himmelfahrt), die Orgel und die Deckenleuchter. Ansonsten blieb uns die Stadt fremd; weder Burgenreste noch besondere städtische Bauwerke oder Museen wurden angesteuert, denn der Weg nach Riga war noch weit.

Durch das ehemalige Urstromtal der Abava führte uns der Weg zur Hauptstadt Lettlands an der Düna, der mit  etwa  einer  Million  Einwohnern  größten  Stadt  des  Baltikums.  Im  Hotel  Maritim  fühlten  wir  alle  uns  sehr gut untergebracht und sahen dem nächsten Tag mit großer Erwartung entgegen.

Wolfgang Knörr lieh

Nurmhusen: Verlorene Heimat - Erhaltene Tradition und Pflicht

Die Geschichte der Kirche zu Nurmhusen ist undenkbar ohne die Gutsanlage des gleich­ namigen Schlosses der Barone von Fircks in Kurland.

“Ein  vortrefflich  erhaltenes  Baudenkmal  mit  der  charakteristischen  Rechteckanlage  im Gesamtgrundriß  ist  Schloß  Nurmhusen,  nahe  Talsen.  Es  ist  als  festes  Haus  für  landwirtschaftliche Verwaltungszwecke  und  nicht  aus  strategischen  Gründen  vom  Orden  gegen  Ausgang  des  Mittelalters erbaut  worden.  Nurmhusen  ist  das  Stammhaus  der  kurländischen  Freiherm  von  Fircks,  die  es  vor  fast vierhundert  Jahren  erwarben  und  in  deren  Besitz  es  bis  zur  Enteignung  der  großen  Ländereien  geblieben war. Die vierflügelige Gebäudegruppe mit dem eingeschlossenen Hof in der Mitte ist als solche deutlich auf der  Gesamtansicht  von  Osten  zu  erkennen.  Mit  dem  Hause  in  Verbindung  stand  eine  Kapelle,  deren wunderhübsche  Gewölbe  gut  erhalten  sind.  Der  Raum  dient  heute  als  Bibliothek.  [Wie  neue  Studien  der Nurmhusener  Dokumente  im  Staatsarchiv  Riga  ergaben,  bestimmte  Georg  von  Fircks  den  Raum  mit Kreuzgewölbe  nicht  als  Kapelle,  sondern  für  seine  Frau  als  Witwenwohnung.  Anm.  d.  Verfassers].  An einigen Fenstern im Erdgeschoß sind Reste einer aus der Renaissance stammenden, in farbiger Putztechnik ausgeführten,  geometrisch  gemusterten  Umrahmung  gefunden  worden.  Das  in  klassizistischer  Strenge ausgefuhrte Portal ist aus späterer Zeit“. (‘Das Baltische Herrenhaus“, Pirang 1930).

Nurmhusen  (‘Nurrri  bedeutet  auf  Livisch  ‘Acker’,  'Feld1-,  Lautierte  auf  Lettisch  ‘die  Felder“)  war  Rittergut, Kajorat,  und  umfaßte  14.043  ha  Hofsland  (das  vom  Gutherren  selbst  genutzte  Gutsland,  im  Gegensatz  zu dem von den Hauern genutzten Bauernland) und dazu 1.491 ha Hofs-land von Sehnjen, 6 Beigüter, 3 Krüge und  3.446  ha  Bauernland.  Ein  Teil  der  Kreisstadt  Talsen  lag  auf  Hofsland  von  Numhusen  und  zahlte Grundzins.  Schon  1387  erwähnt,  war  Nurmhusen  bis  1560  wertvollste  Domäne  der  Ordensvögte  von Kandau.

Im  Jahr  1306  wird  mit  dem  Ritter  Gerhard  von  Ferckis  das  Geschlecht  erstmals  in den  damals Dänemark gehörenden  estländischen  Landschaften  erwähnt.  Um  1610  erlischt  das  Geschlecht  in  den  nördlichen Provinzen, umso kräftiger blüht es aber dann in Kurland, wo vor 1494 Jurgen Virkus mit einem Landbesitz bei  Goldingen  belehnt  wird.  1505  kauft  er  zwei  Güter  im  Kirchspiel  Talsen,  die  späteren  Stammgüter  des Geschlechtes in Kurland, Okten und Scheden.

Die  Kirche  zu  Nurmhusen  erbaute  Georg  v.  Fircks  (t  1600)  nur  einen  Kilometer  vom  Schloß  entfernt  und umgab  sie,  seinem  Verständnis  der  gutsherrlichen  Fürsorgepflicht  folgend,  mit  Pastorat  (380ha),  Schule, Krankenstation und Armenhaus.

In  der  Rezension  über  “Geschichte  des  Gutes  Nurmhusen  in  Kurland“  von  Vaida  Kvaskova  (Staatsarchiv Riga),  hrsg.  und  ergänzt  von  Wolf  Lackschewitz,  heißt  es:  “War  ein  solches  Gut  doch  weit  mehr  als  nur bloßes “Umland“ des Gutshauses. Es war u.a. eine geschlossene, weitgehend autonome Verwaltungseinheit mit  eigenen  Polizei-,  Gerichts-  und  Selbstverwaltungsorganen,  mit  eigener  Schule,  medizinischer  und seelsorgerlicher  Betreuung.  Zugleich  war  es  ein  autarker  Wirtschaftsbetrieb,  dessen  tägliches  Funktionieren als  organisatorische  Spitzenleistung  bewertet  werden  muss...  Diese  Gutsgeschicht  ein  lebendiges  Bild baltischer Lebenskunst und -kultur vermitteln hilft.“

Glieder des Geschlechtes der Barone v. Fircks waren stets loyal gegenüber ihrem Lehnsherren und Land, ob herzoglich  oder  zaristisch.  Im  ehemals  östlichsten  Land  des  Deutschtums  bewahrten  sie  Tradition  in Pflichterfüllung.  Wir, die Nachfahren dieser Familie,  sind verpflichtet, diese Werte - auch ohne Landbesitz - an unsere Nachkommen weiterzugeben.

Baronin Marissa v. Fircks

6. Reisetag, Dienstag 4. Juli

In der gläsernen Restauranthalle des Hotel Maritim, vor einigen Jahren war es noch ein schäbiges Touristenhotel, empfängt uns Daiva, unsere litauische Guide, mit den Worten: „Unser  Bus  wurde  in  do-Nacht  ausgeraubt!“  Aufgebracht  ist  sie  über  die  Untätigkeit  der Wachleute,  die  sich  nur  für  den  Innenbereich  des  Hotels  zuständig  erklären.  Was  war geschehen?

In  der  Nacht  waren  die  Radkappen  des  Busses  abmontiert  worden.  Glücklicherweise  entdeckte  man  sie später  in  Hotelnähe,  und  Valentin,  unser  Fahrer,  konnte  sie  wieder  anbringen.  Daiva  führt  den  glimpflichen Ausgang auf die Kerzen zurück, die wir am Vortag in der Kirche von Talsi aufgestellt hatten.

Mit  Marina  und  Natalie,  den  beiden  örtlichen  Stadtführerinnen, brechen  wir  bald  zur  Besichtigung  auf.  Da  ihre  Informationen  nicht immer gut verständlich waren, hier einige allgemeine Daten:

Riga  ist  die  größte  Stadt  des  Baltikums  und  Hauptstadt  der  Re­publik  Lettland.  Zur  Sowjetzeit  hatte  sie  1  Mill.  Einwohner,  jetzt etwas weniger. Der Fluss Daugowa, dt. Düna, teilt die Stadt in zwei Teile.  Nach  ca.  15  Kilometern  mündet  die  Daugowa  in  die  Rigaer Bucht.  Es  leben  in  Riga  33%  der  Gesamtbevölkerung  Lettlands, davon sind 39% Letten und 47% Russen.

Die Stadt war einst Zentrum des Ordensstaates, lange mächtige Hansestadt, und Brücke zwischen West und Ost. Es gibt noch Spuren der jahrhundertelangen Anwesenheit der Deutschen welche die Stadt als Bischöfe, Ordensmeister und Kaufleute beherrschten. Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es 46% Deutsche in Riga.

Berühmt als Park- und Gartenstadt verfügt sie über 70 innerstädtische Parks und Grünanlagen. 1997 wurde Riga  wegen  seiner  hervorragenden  Jugendstilhäuser  in  das  Weltkulturerbe  der  UNESCO  aufgenommen.  - Die  Stadt  ist  ein  Zentrum  von  Politik  und  Wirtschaft,  und  hat  einen  internationalen  Fughafen.  200  Zeitun­ gen und Zeitschriften erscheinen regelmäßig. Von den 33 Hochschulen des Landes sind 28 hier angesiedelt. - Es gibt fast zehn Theater, mehrere Konzertsäle sowie 50 Museen und Ausstellungsräume. Alle fünf Jahre wird  das lettische  Sängerfest  hier abgehalten, das nächste im Jahre 2001, wenn die Stadt ihr 800-jähriges Bestehen feiert.

Und  so  verlief  die  Geschichte:

1201:  Mit  einem  Kreuzfahrerheer  gründet  der  Bremer  Bischof  Albert  die  Stadt  an  der  Stelle  eines  livisch­ lettischen  Fischerdorfes.  -  1202:  Albert  und  Theoderich  von  Treiden  gründen  den  Schwertbrüderorden. Dieser  schließt  sich  1237  an  den  Deutschen  Orden  an.  Bischof  Albert  verliert  jetzt  an  Einfluss.  Jahrelange Konflikte  um  die  Macht  sind  die  Folge.  1282: Beitritt  zur Hanse.  Vorher  wurde die Zuwanderung deutscher Kaufleute  und  Handwerker  gefördert.  1330:  Sieg  der  Ordensritter.  1352:  Gründung  der  „Kleinen  Gilde“  der deutschen  Handwerker.  Letten  hatten  keinen  Zutritt.  1354:  Gründung  der  „Großen  Gilde“,  der  Kaufmanns­ bruderschaft  der  Schwarzhäupter.  Ihr  Schutzpatron  war  der  hl.  Mauritius.  Er  war,  wie  unsere  Bonner Stadtheiligen  Cassius  und  Florentius,  ein  Märtyrer  der  Thebäischen  Legion,  die  aus  Nordafrika  stammte und  deren  Soldaten  überwiegend  schwarz  waren.  Die  Schwarzhäupter  mussten  jung,  ledig  und  reich  sein, und sie mussten aus dem Ausland stammen, „Nichtdeutsche“ hatten nur niedere Arbeit zu verrichten. 1558 - 1583:  Livländischer  Krieg,  die  Ordensritter  werden  von  Rußland  geschlagen.  1562:  Abdankung  des  letzten Ordensmeisters,  Gotthard  von  Kettler.  1581:  Einzug  der  Polen.  1621:  Vertreibung  der  Polen  durch  die Schweden.  1656:  Vergebliche  Belagerung  durch  die  Russen.  1660:  2.Hauptstadt  Schwedens.  1710:  Im „Nordischen  Krieg“  von  den  Russen  erobert.  1714:  Rigaer  Gouvernement.  1812:  Napoleon  zieht  auf seinem  Weg  nach  Moskau  an  den  angezündeten  Vorstädten  vorbei.  1861:  wichtigste  Hafenstadt  des Zarenreichs.  1866:  Aufhebung  des  Zunftzwangs.  Auch  Letten  können  jetzt  Handel  und  Gewerbe  treiben. 1905:  Revolution  in  Rußland,  Großdemonstrationen  werden  zusammengeschossen.  1915  -  1917:  Im  1. Weltkrieg  werden  mit  Herannahen  der  Front  die  Fabriken  mit  200.000  Arbeitern  und  ihren  Familien  nach Rußland  verlagert.  Nach  der  russischen  Februarrevolution  ist  Lettland  geteilt.  Riga  gehört  kurzfristig  zum Deutschen  Reich.  Nach  der  deutschen  Novemberrevolution  wurde  am  18.11.1918  ein  unabhängiges Lettland proklamiert. 1919: Truppen der Roten Armee erobern die Stadt. Regierung von Petris Stucka. Die bürgerliche  Partei  mit  Karlis  Ulmanis  behält  die  Oberhand.  Janis  Rainis,  der  hochverehrte  lettische Schriftsteller, ist nach längerer Exilzeit jetzt Minister. Später trennt er sich von Ulmanis, weil er mit dessen Politik  nicht  einverstanden  ist.  Ulmanis  selbst  stirbt  1940  in  russischer  Verbannung.  1940:  Sowjettruppen marschieren  in  Riga  ein.  Dies  wurde  durch  ein  geheimes  Zusatzprotokoll  des  Hitler-Stalin-Pakts  legitimiert. Der  NKWD  verbreitet  Terror.  1941;  Deutsche  Soldaten  „befreien“  die  Stadt.  „Wir  wurden  in  unserer Geschichte nie erobert, sondern immer befreit“, sagen die Menschen dort mit Selbstironie.

In  der  Moskauer  Vorstadt  wird  für  Juden  ein  Ghetto  errichtet.  In  der  Folgezeit  werden  dort  durch Verhun­ gern  und  Erschießen  60.000  Menschen  umgebracht,  darunter  auch  Juden  aus  Deutschland.  Orte  in  den Wäldern  um  Riga,  wie  Bikemicki,  Schmärly  und  Rumbula  sind  zu  Orten  des  Grauens  geworden.  Die Deutschen  fanden  auch  in  lettischen  Nazis  tatkräftige  Helfer.  Aber  meines  Erachtens  ist  dies  hier  ein Thema, worüber man nicht spricht.

1944  Eroberung  durch  die  Rote  Armee.  Zehntausende  Menschen,  vor  allem  Intellektuelle  werden  nach Rußland  deportiert.  Zerstörung  der  Petri-Kirche  und  des  Schwarzhäupterhauses.  Es  werden  die  häßlichen Plattenbausiedlungen  in  den  Vorstädten  errichtet.  1983:  Restaurierungsbeginn  der  Altstadt.  1987: 1  .Demonstration  zur  Erinnerung  an  die  Deportationen.  1988:  Gründung  der  lettischen  Volksfront. 20.01.1991:   Russen   erstürmen   das   lettische   Innenministerium.   Fünf   Menschen   werden   erschossen. 21.01.1991: Ausrufung der Unabhängigkeit.

Wanderung durch die Altstadt
Auf  dem  ehemaligen  Rathausplatz  bekommt  man  zunächst  einen  Schock.  Er war  1944vollständig  zerstört  und  später  mit  gesichtslosen  Zweckbauten,  der Technischen  Universität  und  dem  Okkupationsmuseum  verunziert  worden. Zur Zeit ist man dabei, einiges davon abzu­ reißen. Drei hünenhafte braune Gestalten, die drei lettischen Schützen, geben dem Platz jetzt seinen Namen. Sie sollen an die 10.000 lettischen  Schützen  in  der  Russischen  Armee erinnern,  die  bei  den  Weihnachtskämpfen  im „Verdun Lettlands“ im Januar 1917 gegen die Deutschen gefallen waren. Doch an der nächsten Ecke ist man wieder versöhnt, man steht vor dem wiederaufgebau­ ten   „Schwarzhäupterhaus“.   Nach   dem   Vorbild   flämischer   Zunfthäuser   ist sein  Giebel  mit  Skulpturen  und  Reliefs  reich  geschmückt.  Es  erstrahlt  in Rot und Gold und wird von einer Reitergruppe gekrönt.

Die  Petrikirche,  als  Kirche  der  Bürger  erbaut  und  von  ihnen  alleine  finanziert,  wurde  1209  erstmals urkundlich erwähnt. Sie bekam 1352 die erste Stadtuhr. Ein Jahr später wurde ein Wächter eingestellt, der vor Feinden, Bränden und nichtgelöschten Herdfeuem warnen musste. Der erste Turm stürzte 1666 ein. Den zweiten traf 1721 der Blitz. Zar Peter der Große, der gerade in der Stadt weilte, half persönlich beim Löschen  des  Brandes  und  befahl  den  sofortigen  Wiederaufbau  des  Turms.  1941  wurde  dieser  durch Kriegseinwirkung  zerstört.  Der  jetzige  Turm,  ein  kupfergedeckter  Stahlbau,  hat  drei  Plattformen.  Mittels eines Aufzugs kann man in 72 Meter Höhe die schöne Aussicht über die Stadt genießen. Die Kirche wurde mehrmals umgebaut. Drei barocke Dolomitportale sind noch sehenswert. Innen gibt es einige Epitaphien und ein Roland-Standbild. Heute dient die Kirche als Ausstellungsraum.

Nördlich der Petrikirche sieht man in einer Häuserreihe ein kleines Kirchen­ schiff  mit  zwei  romanischen  Fenstern.  Es  ist  die  Georgskirche  mit  dem Heiliggeistspital.  Es  sind  Reste  einer  Burg  des  Schwertbrüderordens,  die 1202 errichtet und 1297 von den Rigaern bis auf die Kirche niedergerissen wurde. Seit 1554diente sie als Lagerhaus, jetzt als Museum.

Hinter   der   Georgskirche   liegt   der   Konventhof,   das ehemalige  Spital  zum  Heiligen  Geist.  Ihre  Ursprünge gehen  auf  das  Jahr  1226  zurück.  1330  wurde  es  am jetzigen  Standort  errichtet.  1556 wird  es  eine  Stiftung der großen Gilde. 1936 ist es ein Viertel für Altstadt­ bewohner.  Nach  dem  totalen  Verfall  wird  es  ab  1995 wieder   aufgebaut,   durch   das   lettisch-deutsche   Ge­meinschaftsunternehmen  REHO,  Hotel  de  Rome.  Die ehemaligen  Wohn-  und  Speicherhäuser  tragen  noch Namen  wie  „Haus  der  Grauen  Schwestern,  der  Wei­ßen  und  Schwarzen  Tauben“,  der  „Stall“  ist  jetzt  ein  feines  Hotel.  Das  gelb gestrichene  Haus  an  der  Ecke  heißt  nicht  wegen  seiner  zufälligen  Ecklage  “Eckens  Konvent”,  sondern  der Patrizier  Nikolaus  Eck  hat  hier  1596  aus  einem  Nachtasyl  ein  Haus  für  dreizehn  bedürftige  Witwen  der Kleinen  Gilde  geschaffen.  Eine  Inschrift  „Ziel  meines  Lebens  ist  Christus“  erinnert  an  den  Stifter.  Das Relief  „Christus  und  die  Sünderin  könnte  auch  die  „Witwe  mit  dem  Scherflein“,  oder  die  „blutflüssige Frau“ bedeuten, meint Herr Becks.

Die  Johanniskirche  aus  dem  13.  Jahrhundert  mit  dem  gotischen  Stufengiebel aus  Backstein  war  die  Hauskapelle  des  ersten  Bischofshofes  und  des  späteren Dominikanerklosters.  Von  diesem  ist  nur  ein  Tor,  “Eselsbrücke”  genannt,  mit einem  gotischen  Bogen  erhalten.  An  der  Südffont  der  Johanniskirche  sind  zwei Masken mit offenem Mund eingelassen. Waren es Lautsprecher? Oder predigten durch  diese  die  beiden  Mönche,  die  während  der  Reformation  hier  bei  Wasser und Brot eingemauert gewesen sein sollen? Die Johanniskirche ist geschlossen. Eine Skulptur der Bremer   Stadtmusikanten   erinnert   auf   dem   Vorplatz an  die  Partnerstadt.  Wir  kommen  am  Richard-Wagner-Saal  vorbei.  Der  Kom­ponist  wirkte  hier  am  ehemaligen  Deutschen  Theater  zwei  Jahre  als  Kapell­meister.  Wegen  Schulden  soll  er  1839  vor  seinen  Gläubigem  über  die  Ostsee geflohen  sein.  Dabei  seien  ihm  die  Motive  zum  „Fliegenden  Holländer“  eingefallen.  Aber  auch  Musiker  wie Anton  Rubinstein,  Hector  Berlioz  und  Clara  Schumann  gastierten  hier.  Am  Theaterplatz  im  Haus  der Großen  Gilde  ist  heute  die  Philharmonie  untergebracht.  Die  Kleine  Gilde  war  Kulturhaus  der  Gewerksc­ haften  und  Verwaltungssitz.  Ansichten  und  Wappen  von  Partnerstädten  schmücken  das  jetzt  im  Tudorstil erbaute  Haus.  -  Eine  scheißende,  eiserne  Katze  als  eine  Geste  der  Verachtung  für  den  unfreundlichen Nachbarn thront auf dem Turm des gegenüberliegenden Hauses.

Das  Russische  Dramatische  Theater  ist  mit  Bienenkorbgalerien  ausgestattet.  Mittelalterlichen  Ursprungs sind  die  kleinen  Häuser,  die  sich  einst  an  die  Stadtmauer  schmiegten.  Beim  weiteren  Gang  durch  die Altstadt  kommen  wir  an  prächtigen  Jugendstilhäusern  und  renovierten  Barockbauten  vorbei.  Das Dannenstern- und Mentzendorffhaus gehören dazu.

Die  Kaufmanns-  und  Gewerbehäuser  des  Speicherviertels  stammen  noch  aus  dem  16./17.  Jahrhundert, Riga  war  damals  Zentrum  eines  blühenden  Getreide-,  Hanf-  und  Leinenhandels.  Einige  der  Speicher  sind abgesichert und werden wahrscheinlich langfristig restauriert.

Vom  Schwedentor,  welches  im  17.  Jahrhundert  durch  ein  Wohnhaus  gebrochen worden  war  und  dem  danebenliegenden  Scharfrichterhaus,  kommt  man  an einem  Stück  renovierter  Stadtmauer  vorbei.  Außer  dem  wiederaufgebauten Ramerturm  gibt  es  am  Ende  der  Mauer  den  mächtigen  Pulverturm.  Er  hat einen Durchmesser von 14,5 m bei 2,5 m Wandstärke. Er diente mit seinem Anbau zu verschiedenen Zeiten als Kriegs/Revolutions- und jetzt als Museum für die lettische Unabhängig­ keit. Die ehemaligen Jakobskasernen rechts sind gelb herausgeputzt, und man kann dort stilvoll essen und einkaufen gehen.

An  der  Saima,  dem  lettischen  Parlament,  vorbei  kommen  wir  zur  Jakobikirche  mit  ihrem  gotischen Kirchturm. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und hat vier mal die Konfession gewechselt. Heute ist sie Sitz  des  katholischen  Erzbischofs.  Einer  Legende  zufolge  hatte  sie  eine  Außenglocke,  die  immer  dann läutete,  wenn  eine  untreue  Ehefrau  vorbeiging.  Als  sie  eines  Tages  überhaupt  nicht  mehr  aufhörte  zu läuten, stiegen die Frauen in den Turm und warfen die Glocke in den Fluss. Von untreuen Ehemännern wird nichts erzählt.

Die  Drei  Brüder  sind  sehenswerte  Häuser  aus  dem  15.  Jahrhundert.  Das  älteste  besitzt  noch  einen gotischen  Stufengiebel.  Wegen  der  Lichtsteuer  waren  die  Fenster  sehr  klein.  Die  Waren  wurden  im  Keller und  unter  dem  Dach  gestapelt.  Die  Bewohner  lebten  in  einem  Hofanbau.  Die  beiden,  jetzt  schönsten Fassaden, wurden zur Barockzeit erneuert.

Die  Mittagspause  verbringen  wir  am  Domplatz  in  der  Nähe  der  Rozenastraße. Sie  ist  mit  nur  drei  Meter  Breite  die  schmälste  Gasse  Rigas.  Zwei  Damen  mit Reifföcken  konnten  hier  nicht  aneinander  Vorbeigehen.  Fast  so  schmal  ist  auch die  Troksnniela  in  der  Nähe  des  Schwedentors.  Im  historischen  „Cafe  mit  den 13 Stühlen“ ist es etwas knapp.

Gleich in der Nähe lassen wir uns nieder und Frau Krauter spendiert uns einen Balsam, weil sie heute Geburtstag hat. In diesem lettischen Nationallikör sind dreiunddreißig verschiedene Kräuter und Gewürze enthalten. Er soll schon Katharina der Großen, der russischen Zarin, wieder auf die Beine geholfen haben.

Man  genießt  den  Balsam  pur,  mit  Kaffee  oder  Tee,  oder  verdünnt ihn  mit  Wodka.  Nun  kommt  ein  Straßenmaler  vorbei.  Wen  wun­dert es nicht, daß wir uns alle porträtieren lassen wollen. Aber die Wahl  des  Künstlers  fällt  auf  Herrn  Becks.  Sein  Gesicht  ist  am schönsten.  Umgehend  veranstaltet  Herr Bergknecht  eine  Sammlung  für  das  Honorar.  Ob  das  Ehepaar  Becks  in  Buschhoven  zwischen  Ikonen, Safarows  „Türkischem  Cafe“,  und  dem  Linnicher-Glasbild  noch  Platz  für  dieses  Konterfei  hat?  Schön wär's.

Später  können  wir  uns  endlich  dem  Dom  zuwenden.  Dieser  größte Kirchenbau   des   Baltikums   wurde   von   1211-1226   unter   Bischof Albert  von  Bremen  erbaut.  Zur  gleichen  Zeit  wurde  auch  die  Ma­rienkirche  zu  Lippstadt  unter  Edelherr  Bernhard  EL  zur  Lippe  er­richtet.   Beide   Kirchen  sind  sich  sehr  ähnlich.  Vermutlich  waren lippstädter  Steinmetze  am  Rigaer  Dom  beschäftigt.  Bernhard  warnämlich  später  Zisterziensermönch  und  Abt  in  Livland.  Außerdemwurde er von seinem Sohn zum Bischof von Selonien, einem Nachbarbistum  von  Riga,  geweiht.  Daß  er  elf  Kinder  hatte,  von  denenvier  Bischöfe  und  vier  Äbtissinnen  wurden,  war  für  die  damalige Einflussnahme auf die kirchliche Bautätigkeit nur förderlich.

Ursprünglich  war  der  Dom  eine  romani­sche   Hallenkirche.   Kloster   und   Kreuz­ gang  aus  der  Entstehungszeit  sind  noch teilweise  erhalten.  Die  Seitenschiffe  und ihre  Kapellen  kamen  in  der  Gotik  hinzu. Der Turm mit seinem barocken Helm hat eine Höhe von 90 Metern. Es sind einige Epitaphien erhalten. Je näher sie zum Altar lagen, desto teuer waren sie. Die Fenster, welche 1883-1885 in München gefertigt wurden, stellen unter anderem Bischof Albert, den Ordensmeister Wolter von Plettenberg und König Gustav II Adolf dar.

Weltbekannt  ist  die  Orgel  wegen  seines  schönen  Prospekts  und  den  7000  Pfeifen  mit  den  124  Registern. Die Firma Walker in Ludwigsburg hat sie 1884 gebaut. Wegen der wunderbaren Akustik finden sehr häufig Orgelkonzerte  statt.  Die  verschiebbaren  Rückenlehnen  zur  Orgel  oder  zum  Altar  sind  hier  eine  Beson­ derheit.  Es  gab  auch  schon  Überschwemmungen  im  Dom.  Seit  1988  werden  auch  wieder  Gottesdienste gefeiert.

In  der  Nähe  des  Doms  steht  das  Herder-Denkmal.  Mit  20  Jahren  kam  dieser  nach  Riga  und  wirkte  als Lehrer  an  der  Domschule.  In  den  fünf  Jahren  seiner  Tätigkeit  übersetzte  er  lettische  Volkslieder  ins Deutsche.  Am  Nachmittag  fahren  wir  mit  dem  Bus  durch  das  neue  Zentrum  und  sehen  viele  markante Gebäude  und  Plätze  der  Stadt.  Die  Freiheitsstatue,  auch  liebevoll  Kognakdame  genannt,  wurde  1931-1935 gebaut. Mir 43 Metern ist es das höchste Denkmal Europas.

Frau  Milda,  die  nach  Westen  schaut  und  auch  auf  einem  Geldschein  abgedruckt  ist,  hält  drei  Sterne  in hochgehobenen  Händen.  Sie  symbolisieren  die  drei  lettischen  Provinzen  Livland,  Kurland  und  Lettgalen. Das  Geld  dafür  wurde  von  der  Gesamtbevölkerung  aufgebracht  und  es  liegen  immer  frische  Blumen  hier. Lenin, der Ihr den Rücken zudrehte und nach Osten schaute, wurde nach der Sowjetzeit demontiert.

Am  Basteiberg,  einer  schönen  Parkanlage  am  Stadtkanal,  gibt  es  die  Nationaloper,  die  Universität  und verschiedene  Museen.  Eines  davon  ist  für  Krisjanis  Barons.  Dieser  lettische  Schriftsteller  sammelte vierzeilige Volkslieder, die Dainas. 36.000 werden hier aufbewahrt.

Ein  Hochhaus,  das  Hotel  Latvija  sticht  ins  Auge.  Es  wird  zur  Zeit  renoviert.  In  der  Nähe  des  Esplanade- Parks  gibt  es  die  Kunstakademie,  das  Kunstmuseum  und  das  Nationaltheater.  Zwei  Orthodoxe  Kirchen, die  Christi-Geburt-Kathedrale  und  die  klassizistische  Alexander-Newski-Kirche,  liegen  ebenfalls  hier. Die  Kathedrale  wurde  zur  “Familienzeit”,  so  nennen  manche  Stadtführerinnen  die  Sowjetzeit,  zum  Planeta­ rium  umfunktioniert.  Die  schlanke,  weiße  Peter-und-Paulkirche,  auch  ehemals  orthodox,  ist  heute Konzertsaal.

Als   letzteres   besichtigen   wir   gemeinsam   die Albertstraße    und    sind    überwältigt    von    der Ansammlung   der   Jugendstilfassaden.   Michail Eisenstein, der Vater des berühmten Filmregis­seur Sergeij Eisenstein, schuf um die Jahrhun­ dertwende  viele  dieser  prachtvollen  Stadthäu­ser. Sie quellen über von Omamentffiesen, Vo­luten,  Girlanden,  Löwenköpfen  und  Medusen­ häuptern.    Auch    ein    bemaltes    Treppenhaus können wir von innen sehen. So bereichert von allem Schönen kommen wir noch am Schloß, der ehemaligen Ordensburg vorbei. Es ist heute Amtssitz  der  Staatspräsidentin  Vike  Freiberga und  beherbergt  noch  die  Museen  für  lettische Geschichte,   für   ausländische   Kunst   und   das
Janis-Rainis-Mueum.   Dieser   Schriftsteller   und Dichter  war  für  die  Letten  bei  ihren  Unabhängikeitsbestrebungen wichtig.

Am  späten  Nachmittag  gehen  wir  vom  Platzder   lettischen   Schützen   über   die   Akmens-Brücke  auf  das  linke  Daugava-Ufer  zu  unse­rem Hotel. Es ist so ähnlich, als wenn man von Bonn nach Beuel geht. Nur ist der Fluss hier breiter und rechts sieht man die Vansu-Brücke, die im Volksmund Balaleika heißt,  da  sie  an  Stahlseilen  aufgehängt  ist.  Auf  der  Zakusala,  einer  grünen Insel links im Fluss, steht der 368 Meter hohe Femsehturm. In 97 Meter Höhe gibt es eine Aussichtsplattform.

Eine   Eisenbahnbrücke,   ähnlich   der   Kölner   Hohenzollembrücke,   überspannt ebenfalls  die  Düna.  Beim  Blick  zurück  erkennt  man  mindestens  fünf  große Markthallen.  Sie  waren  während  des  2.  Weltkriegs  als  Luftschiffhangars  erbaut worden.  Ins  Blickfeld  bekommt  man  ebenfalls  das  Hochhaus  der  Akademie  der Wissenschaften.  Es  war  1958  im  sozialistischen  Zuckerbäckerstil  erbaut  wor­den, und wird vom Volksmund Stalintorte genannt. Es sollte zunächst als Unter­ kunft für sowjetische Landarbeiter dienen.

Wir  machen  noch  einen  Schlenker  am  sowjetischen  Ehrenmal  für  die  Befreier  von  der  deutschen  Besat­ zung, 1985 errichtet, vorbei. Es liegt in der Nähe unseres Hotels und ist ziemlich ungepflegt. Ein 79 Meter hoher  Obelisk  wird  umgeben  von  zwei  Skulpturen,  „Mutter  Heimat“  und  die  „Befreier“.  Hier  versammeln sich noch immer Menschen, die den Zerfall der Sowjetunion und ein unabhängiges Lettland nicht akzeptie­ ren können.

Der  Tag  geht  zu  Ende  und  mir  kommt  der  Titel  eins  Fernsehfilms  in  den  Sinn:  “Ach  Riga  -  Du  Schöne!“ Und ich möchte hinzusetzen, aber auch „Du Geschundene“.

Maria Winden

7. Reisetag, Mittwoch 5. Juli

Bus-Abfahrt  war  um  neun  Uhr.  Wir  fuhren  in  Richtung  Bauska  durch  die  fruchtbare Ebene von Semgallen, in der viele Störche zuhause sind. Eine wunderschöne Landschaft mit kleinen Anwesen, keine starke Besiedelung.

Bauska,  am  Zusammenfluss  der  Memel  /Memele  und Muße  / Müsa  gelegen, 1443 -1456 wurde  hier  auf  einem  vier  Meter  hohen  Granitfelsen  eine  der  letzten  Ordensburgen errichtet zur Absicherung des Handelsweges nach Litauen und der südlichen Grenze des Reiches (heutiges Lettland und Estland). Die Burg war Sitz des Ordensvogts, heute noch eine
imposante Ruine. Von einer daneben liegenden späteren Burg sind noch zwei Rundtürme und die hohen Mauern des Kastellbaues gut erhalten. Der 22 m hohe Hauptturm  kann  bestiegen  werden.  Von  dort  bietet  sich  eine  gute  Sicht  auf  die beiden Flüsse und die Stadt.

Nach  einer  Fahrt  von  etwa  zehn  Kilometer  kamen  wir  zum  eigentlichen  Aus­flugsziel  dieses  Tages,  zum  Barockschloß  Ruhenthal  /  Rundäle,  das  zu  den berühmtesten  historischen  Bauten  des  damaligen  Kurlands  zählt.  Das  Schloß  ist heute zum Teil Museum.

Wir  wurden  vom  Direktor  des  Museums,  Herrn  Dr.  Lancmanis,  begrüßt  und durch  Vermittlung  von  Freifrau  von  Fircks  von  ihm  persönlich  durch  alle  bisher restaurierten Räume des Schlosses geführt. Die Führung dauerte fast drei Stun­den. Es war ein Erlebnis besonderer Art!

Zur Geschichte: Nachdem im 15. Jh. die Burg Bauska erbaut war, konnte eine Besiedelung  des  umliegenden  Landes  erfolgen.  So  entstand  das  Gut  Ruhenthal/Rundäle, das erstmals urkundlich 1505 erwähnt worden ist. 1735 erwarb Graf  Emst  Johann  Biron,  Günstling  der  russischen  Zarin  Anna,  dieses  Gut  und ließ durch den berühmten italienischen Baumeister Rastrelli dort einen Sommer­sitz  erstehen.  Rastrelli  war  Hofbaumeister  der  Zarin.  Er  baute  das  Winterpalais in St. Petersburg, eines der prächtigsten Paläste in Europa.

Es kamen Mengen von Facharbeitern aus Rußland nach Ruhenthal, 1736 waren es  schon  mehr  als  tausend.  Alleine  vier  Millionen  Ziegelsteine  wurden  aus  dem hochwertigen  Semgallener  Lehm  hergestellt.  Dazu  mussten  zwölf  Ziegelbrennereien gebaut werden. Steine für das Fundament des Schlosses bekam man, indem man das alte Schloß/Gut abbaute. Für alle notwendigen Arbeiten mussten täglich über vierhundertunddreißig Pferdewagen eingesetzt werden.

Das Projekt zeigt das Ausmaß einer Herrscherresidenz, die Ideen von Versailles. In  der  Grafischen  Sammlung  Albertina  in  Wien  sind  acht  Blätter  des  Bauent­ wurfs  erhalten.  Schon  1737  konnten  die  Ausstattungsarbeiten  beginnen.  Die einzigartigen  blau  bemalten  Kachelöfen  fertigten  in  den  errichteten  Töpfereien Meister  aus  Danzig  und  Rußland.  An  den  besonders  prächtigen  vergoldeten Öfen  arbeiteten  österreichische  Meister.  Eine  große  Tischlerwerkstatt  wurde eingerichtet,  damit  u.  a.  alle  Treppengeländer  mit  den  ausnahmslos  prächtigen Schnitzereien  gefertigt  werden  konnten.  Gleichzeitig  wurde  von  Rastrelli  der Park  projektiert.  Er  wurde  angelegt  mit  328.185  Linden,  45.004  Kastanien, 1.885 Eichen.

1737  wurde  Emst  Johann  zum  Herzog  ernannt  und  durch  die  kurländische Ritterschaft  zum  neuen  Regenten  Kurlands  gewählt.  1740  starb  Zarin  Anna. Herzog  Emst  Johann  fiel  in  Ungnade  und  wurde  22  Jahre  nach  Sibirien  ver­ bannt. 1763 konnte er unter der Zarin Katharina II. aus der Verbannung zurück­ kehren.  Ihm  wurde  der  Titel  des  Herzogs  von  Kurland  wieder  zuerkannt  und  er konnte seinen zweiten Regierungsabschnitt in Kurland beginnen.

Das  Schloß  hatte  durch  die  lange  Zeit  des  Stillstands  sehr  gelitten,  war  fast verwahrlost.  Wiederum  unter  Rastrelli  wurde  es  von  1763  -  1768  umgebaut  und restauriert.  Die  Treppenhäuser  und  die  Galerien  blieben.  (Die  Treppenstufen sind  heute  noch  die  gleichen.)  Die  Wohnräume  wurden  von  den  Paraderäumen getrennt  und  bekamen  einen  neuen  Dekor  im  Rokokostil  in  Anlehnung  an  die Schlösser Charlottenburg und Potsdam.

Für  die  Ausführung  der  künstlerischen  Arbeiten  wurden  der  Meister  der  Technik vergoldeter  Stukkaturen  und  Bildhauer  Johann  Michael  Graff  aus  Berlin  und  die in  St.  Petersburg  wirkenden  ital.  Maler  Francesco  Martini  und  Carlo  Zucchi gewonnen.  Diese  Künstler  waren  ausschlaggebend  für  das  hohe  Niveau.  Es wurde  das  kurländische  Versailles  geschaffen.  Graff  arbeitete  fünfzehn  Jahre hier, ging dann an den polnischen Hof und verstarb dort.

Hundertachtunddreißig  Räume  hat  das  Schloß  auf  zwei  Stockwerken.  Die Repräsentationsräume  sind  im  Ostflügel,  die  Gemächer  des  Herzogs  im  West­ flügel und die der Herzogin, ihrer Gäste, der Hofdamen und Kavaliere im West­ flügel.  Auf  dem  Weg  zum  herzoglichen  Schlafzimmer  hängen  Porträts  der Dynastie  Biron  und  der  damaligen  europäischen  Herrscher.  Das  Porträt  von Herzog Emst Johann befindet sich hier zwischen dem russischen Zaren Peter I. und  dem  preußischen  König  Friedrich  II.  und  symbolisiert  so  die  politische  Lage Kurlands zwischen beiden Großmächten.

Der  Goldene  Saal  oder  Thronsaal  blieb  im  Lauf  der  250  Jahre  besser  als  alle anderen.  Schloßräume  in  Ruhenthal  erhalten.  Es  liegt  z.B.  noch  der  originale
Fußboden.  Die  Wände  sind  mit  künstlichem  rosa  und  blauem  Marmor  verkleidet und  mit  goldenen  Stuckarbeiten  von  Graff  verziert.  (Der  künstliche  Marmor  war sehr  viel  aufwendiger  herzustellen,  als  wenn  Natur-Marmor  verwendet  worden wäre,  sollte  aber  in  der  Wirkung  den  natürlichen  Marmor  übertreffen.)  Das prächtige  2oo  m2  große  Deckengemälde  von  Martini  und  Zucchi  stellt  die  herr­ schaftlichen  Tugenden  dar,  nach  der  damaligen  Vorstellung.  Es  ist  der  prunk­vollste Raum im Schloß. Beim Goldenen Saal befindet sich ein ovales Porzellan­kabinett.  Auf  45  Rocaille-Konsolen  von  Graff  stehen  kostbare  chinesische  und japanische Porzellanvasen aus der Zeit.

In  der  Großen  Galerie  wurden  die  offiziellen  Bankette  veranstaltet.  Die Gemälde haben  die  Nacht  und  die  Morgendämmerung  zum  Inhalt.  Die  Große  Galerie  als ein  Beispiel  der  italienischen  Monumentalmalerei  ist  eine  Rarität  im  ganzen Baltikum.
Der  für  Hofbälle  vorgesehene  Weiße  Saal  sollte  eine  leichte  und  heitere  Stim­ mung  schaffen.  Er  ist  der  größte  Raum  des  Schlosses.  Der  helle Eindruck  wird noch  durch  die  fünf  Spiegelfenster  verstärkt,  die  die  dreizehn  echten  Fenster ergänzen.  Graff  hat  in  diesem  Saal  die  lebendigste  und  schönste  seiner  Raum- schöpfüngen verwirklicht. Der bildhauerische Dekor bedeckt Wände und Decke.

Berühmt  ist  das  Storchennest  in  der  zentralen  Deckenrosette  geworden.  Es  ist aus  echten  Zweigen  geflochten,  die  nur  ein  wenig  vergipst  sind.  Seit  1992  (!) nistet  auf  dem  Schornstein  des  Nordwestflügels  eine  echte  Storchenfamilie, deren Nest durch das Fenster des Weißen Saales zu sehen ist.

Der  prächtigste  Raum  im  Südflügel  ist  das  Rosenzimmer.  Über  die  Wandver­ kleidung  aus  rotem  Kunstmarmor  ranken  sich  unzählige  Girlanden  aus  Rosen und anderen Blumen. Ausgeprägter als irgendwo im Schloß sind hier die belieb­ ten  Motive  der  Rokokoschlösser  Berlin  und  Potsdam  verwendet  worden,  die ihrerseits  den  Geschmack  Friedrichs  des  Großen  widerspiegeln.  Der  wunderbare Kronleuchter ist in einer kurländischen Glashütte in dieser Zeit hergestellt.

Johann Michael Graff hat in dem reich geschmückten Boudoir der Herzogin eine Diwan-Nische  in  Form  einer  Muschel  geschaffen.  1769  dankte  der  Herzog zugunsten seines Sohnes Peter ab. Herzog Peter hatte eine wunderschöne Frau, Herzogin  Dorothea, Tochter  des letzten  Reichsgrafen  von Medem, und vier sehr schöne  Töchter.  Ein  Porträt  der  Herzogin  hängt  im  Vorraum  des  Goldenen Saales  und  zieht  alle  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Herzog  Peter  vergötterte  die Malerin  Angelika  Kauffmann  (1741-18o7:  klassische  Bildnisse  und  mythologi­ sche  Szenen  von  anmutiger  Empfindsamkeit)  und  erwarb  18  Gemälde.  Zwei davon  sind  im  Schloß  zu  sehen.  (Gemälde  von  Angelika  Kauffmann  hängen  in der  Eremitage,  im  Louvre,  in  Wien,  Dresden  und  München.)  Die  Königl.  Por­ zellanmanufaktur  Berlin  (KPM)  brachte  1790  das  “Kurland-Muster“  heraus. Herrliche Stücke aus dieser Zeit sind in den Vitrinen zu bewundern.

Herzog  Peter  war  keine  führende  Persönlichkeit,  hatte  nicht  die  Energie  des Vaters.  So  kam  es,  daß  er  1795  das  Herzogtum  für  eine  Abfindung  von  zwei Millionen Rubel und eine Rente auf Lebenszeit an Rußland abtrat. Damit kam es zur  Aufhebung  der kurländischen  Unabhängigkeit  und  zum  Anschluß  an  Ruß­ land. Herzog Peter zog auf seine schlesischen Güter.

Für  das  Schloß  begann  eine  wechselvolle  Geschichte  mit  Verwüstungen,  Plün­ derungen,  Zweckentfremdungen.  1972  wurde  ein  selbständiges  Schloßmuseum gegründet und mit einer Restaurierung des Schloßensembles begonnen, die noch andauert.  Das Schloßmuseum  hat  viel  angekauft,  viel  von  anderen  Museen erhalten und auch Schenkungen bekommen, so daß eine Einrichtung aus dem 18. Jh. gezeigt werden kann, die der seinerzeitigen entspricht.

Dem Schloßmuseum  gehört  eine große  Sammlung von Werken der Malerei und der  angewandten  Kunst  und  es  besitzt  einen  großen  Bestand  kirchlicher  Kunst Lettlands.  Auf  einem  Plakat  am  Eingang  des  Schlosses  war  zu  lesen:  “Aus­stellung  im  Schloß  Rundäle  vom  12.  Juni  bis  31.  Oktober  2000  -  Kurland  in Europa - Herzog Peter - Das Haus Biron und die kurländischen Legenden“.

In der größeren der ehemaligen Küchen wirkt jetzt das Schloßrestaurant. Dorthin konnten wir uns nach der Führung begeben und die überaus leckeren Vorbestel lungen genießen.
Aber damit war der Tag für uns noch nicht zu Ende! Im Anschluß an die Erho­lungspause fuhren wir weiter über Elley / Elega nach Mitau /Jelgava.

Elley  /  Elega:  Im  Mittelalter  verlief  hier  der  wichtigste  Handelsweg  zwischen Riga  und  Königsberg.  In  späteren  Jahren  gehörte  das  Schloß  den  Grafen  von Medern. Wir wanderten durch den Park auf verwehten Spuren. Von dem einst so prächtigen Besitz ist fast nichts mehr zu finden.

Mitau  /  Jeljava  hat  heute  74.00o  Einwohner.  -  Der  Livländische  Orden  begann 1265 mit dem Bau einer Burg. 1573 Verleihung der Stadtrechte, seit 1617 ständi­ ge Residenz der Herzöge von Kurland, ab 1642 offizielle Hauptstadt. Bis weit in das 19. Jh. führte die Poststrecke zwischen St. Petersburg und Westeuropa durch Mitau.

1737 entwarf ebenfalls Rastrelli im Auftrag von Herzog Emst Johann ein prächtiges Barockschloß. Das Schloß sollte am Standort der alten Ordensburg, auf einer Insel  zwischen  den  Flüssen  Lielupe  und  Driksa  entstehen.  Damit  musste  auf einen  Park  verzichtet  werden.  Es  wurde  die  Burgruine  gesprengt  und  1738  der Grundstein  zum  Schloß  gelegt.  Johann  Michael  Graff  übernahm  die  bildhauerischen Arbeiten wie in Ruhenthal.  Das Schloß  wurde repräsentativer als das von Ruhenthal. Durch die Verbannung des Herzogs kamen auch hier die Bauarbeiten zum Erliegen. 1763 konnte weitergebaut werden und auch dieses Schloß erhielt - wie  Ruhenthal  -  klassizistische  Züge.  Als  Folge  der  vielen  Brände  blieb  fast nichts von der ehemals prunkvollen Innenausstattung erhalten.

Das Schloß hat zwei Vemichtungswellen über sich ergehen lassen müssen: 1920 und  1944.  In  der  Gruft  der  kurländischen  Herzöge,  der  Dynastien  Kettler  und Biron,  wurden  Körper  und  Kleider  verstreut  gefunden.  Man  hat  nach  besten Erkenntnissen  alles  zugeordnet,  Holzsärge  angefertigt  und  jeweils  in  die  restaurierten  Sarkophage  eingesetzt.  Glanzstück  ist  der  1587  entstandene  Prunksarg des ersten Herzogs von Kurland, Gotthard Kettler.
1955 - 1961 wurden Restaurierungsarbeiten im Inneren des Schlosses vorgenommen.  Heute  ist  die  einstige  herzogliche  Residenz  Sitz  der  Lettischen Landwirtschaftsakademie  mit  7ooo  Studenten.  -  Der  Öffentlichkeit  zugänglich sind  die  Vestibüle  und  Gewölbegänge  aus  der  ersten  Bauperiode  und  die  Gruft.

Mit  einer  Fülle  von  Eindrücken  und  um  so  vieles  bereichert,  fuhren  wir  zurück nach Riga in unser Hotel. Dort haben wir nach unserem gemeinsamen Essen den Tag teilweise auch nachdenklich ausklingen lassen.

Eleonore Krauter

8. Reisetag, Donnerstag 6. Juli

Nach  drei  stationären  Tagen  im  Hotel  Maritim  in  Riga  verstauen  wir  unsere  Koffer wieder  im  Bus  und  fahren  in  nordöstlicher  Richtung.  Daiva  ist  “stinkig”  mit  dem  Fahrer Valentinas, der nicht auf sie gehört hat und nun den Weg allein finden muss.

Nach  40  km  Fahrt  erreichen  wir  Sigulda,  das  alte  Siegenwald,  mit  der  berühmten Rodel-  und  Bobbahn.  Wir  jedoch  suchen  “Altes”  aus  der  Geschichte.  Die  Kirche  aus dem  13.  Jh.,  in  recht  schlechtem  Zustand,  bleibt  für  uns  verschlossen.  Aber  neben  dem  Tor  zur  alten Zwingburg  aus  dem  13.  Jh.  graben  ehrenamtliche  junge  Frauen  und  Männer,  und  wir  können  auf  das Gelände  hinter  den  Burgresten  gelangen.  Ein  neues  Freilichttheater  neben  den  Ruinen  animiert  unsere Künstlerin Renate Kistenbrügge zu einem Balladenvortrag. Ein Stück weiter des Weges bietet sich der Ausblick  über  das  Gauja-Tal  auf  die  alte  Burganlage  von  Turaida  am  anderen Ufer. Nun geht es im Bus über eine Brücke auf das andere Ufer, wo bald linker Hand  die  Gutmannshöhle  liegt  (12  m  breit,  10  m  hoch  und  19  m  tief).  Der Legende  nach  ist  hier  auf  tragische  Weise  durch  eine  verwickelte  Liebesge­ schichte  die  wunderschöne  Maija  -  genannt  Roze  von  Turaida  -  ums  Leben gekommen. Seitdem entspringt hier eine 6° warme Tiefquelle, deren Wasser alle menschlichen Beziehungen günstig beeinflussen soll. In den weichen Devonstein der Grotte haben sich seit dem 17. Jh. viele Besucher verewigt, auch eine Anna Magdalena von Tiefenhausen.

Auf  dem  nächsten  Parkplatz  müssen  wir  im  Bus  einen  heftigen  Hagelschauer abwarten, danach beginnt der Rundgang über den Burgberg von Turaida.

1. Stopp: Ehemaliger Kornspeicher, heute Cafe, leider seit Jahren wegen Reno- vierungsarbeiten geschlossen.
2. Stopp: Große Linde mit dem Grab der Roze von Turaida.
3.  Stopp:  Kirche  von  Turaida:  Die  Kirche  hat  mehrere  Vorgängerkirchen gehabt, die heutige wurde 1750 als Holzkirche errichtet, und ist die einzig erhal­ tene  livländische  Holzkirche  aus  dem  18.  Jh.  Turm  und  Sakristei  wurden  später hinzugefiigt. Im Inneren geben die niedrige Decke und die Sprossenfenster einen ganz  wohnlichen  Eindruck.  Und  die  Kirche  erfüllt außer als Gottesdienstraum im vorderen Teil im hinteren den eines Museums über ihre eigene Geschichte.
4.  Stopp:  Volkslieder-  und  Skulpturenpark  oder  Dainu  kalus  -  Berg  der  Lieder.

Die  vierzeiligen  Volkslieder  der  Letten,  Dainas  genannt,  wurden  von  KriSjänis Baron (1865 -1944) gesammelt und ihm zu Ehren dieser Park 1985 eingerichtet.
in dessen Nähe er seinen Lebensabend verbrachte. Themen der Lieder sind:
Natur, Arbeit, Krieg, Liebe, Freude. Die Skulp­turen  des  lettischen  Bildhauers  Indulis  Ranka haben die gleichen Themen, alle befassen sich mit  der  lettischen  Volkstradition,  z.  B.  einem jungen Mann im Widerstand, eine Frau mit der Honigemte.  Daiva  ermuntert  uns  zu  einem
Volkslied:  “Geh  aus  mein  Herz”  scheint  uns passend an diesem anmutigen Ort. Viele besteigen noch den erhaltenen Turm der Burg, bevor wir weiterfahren zum Gut Orellen.

Das Gut Orellen ist wieder einmal ein besonderes Ziel, abseits des allgemeinen Touristenweges!  Die Frage huscht an meinem Ohr vorbei: Wer hat denn diesen Punkt aufs Programm gesetzt? Naja, unser Reiseleiter. Er hat nämlich in Heidel­ berg   bei   dem   Theologieprofessor   Hans  von  Campenhausen   gehört,  der   auf diesem  Gut  seiner  Vorfahren  die  Kindheit  verbrachte.  Eine  ehemalige  lettische Lehrerin,  deren  Sohn  das  Gut  erworben  hat  und  nun  versucht,  wieder  etwas daraus zu machen, und bei der wir mit dreißig Personen angemeldet waren, führt uns durch  das Haupthaus,  das noch  in  erbärmlichem Zustand ist. Und  trotzdem kann  ich  mir  gut  vorstellen,  wie  heimelig  es  in  diesem  Haus  zuging  mit  seinen Holzwänden, die viele bunte Bemalungen statt Tapeten trugen.

Im  1.  Stock  des  Lusthauses  serviert  uns  die  freundliche  Lettin  Tee,  Piroggen, eine Hefebrezel und Makronen. Und es reicht für uns alle! Sie zeigt einen Aus­ stellungskatalog  “Gutshof  unter  den  Eichen”  -  Orellen  und  die  Familie  von Campenhausen  in  Livland  von  1998.  Die  Ausstellung  war  im  Schloßmuseum Rundale und im Herder-Institut Marburg zu sehen, initiiert vom Direktor Dr. art. h. c. Imants Lancmanis. Die Reisegruppe hat das schöne Buch am Ende meinem Mann geschenkt, es ist eine Freude, darin zu lesen. [Wir leihen es gerne aus!]

Im  Bus  eine  weitere  Überraschung:  Frau  Kistenbrügge  und  Frau  Herzog  ent­ schuldigen  sich  in  vertonten  Versen  für  ihre  Verspätung  am  Anfang  der  Reise und servieren Vodka, der an diesem feuchten Tag so gut tut.

Unser Ziel ist heute Cesis, das ehemalige Wenden. Die alte, hübsche Hansestadt liegt  inmitten  des  Hochlandes  des  Gauja-Nationalparkes.  1209  ließ  sich  der Schwertbrüderorden  hier  nieder,  vom  13.  bis  16.  Jh.  war  Wenden  die  größte Festung  des  Ordens,  Sitzungsort  des  Domkapitels  und  Residenz  der  Ordens­ meister,  die  in  der  Johanniskirche  bestattet  sind,  u.  a.  Wolter  von  Plettenberg (1494  -1535).  In  der  ehemaligen  Vorburg  ist  heute  das  Museum  untergebracht, über dem die lettischen Fahne weht, die hier im 15. Jh. zur lettischen Fahnegewählt wurde.

Valentinas  fährt  uns  und  Daiva  zu  dem  Ausgangspunkt  für einen  Fußweg  ins  Gauja-Tal  mit  dem  beeindruckenden  “Ergenklintis un Gauja”, dem “Adler-” oder “Orgelfelsen”.

In   dem   kleinen,   schnuckeligen   Hotel   Cesis,   betrieben   von einem  Letten,  einem  Dänen  und  wohl  auch  einem  Deutschen, ist  das  halbovale  Restaurant  besonders  einladend.  Wir  werfen die letzten Santimus zusammen, denn morgen in Estland müs­
sen  wir  mit  Sentis  bezahlen.  Drei  verschiedene  Währungen während einer Reise, nicht konvertierbar, das bedeutet, dreimal sinnvoll  das  Restgeld  auszugeben.  Ich  jedenfalls  lasse  mich  einladen  und  behalte  auch  den  Abend  dieses inhaltsreichen letzten Reisetages in Lettland in bester Erinnerung.

Anke Becks

9. Reisetag, Freitag 7. Juli

Wir trennten uns von dem gemütlichen Hotel in Cesis, und da wir eine längere Fahrt vor uns  hatten,  konnten  wir  in  Ruhe  unsere  Morgenandacht  im  Bus  halten.  Für  mich  neu und  faszinierend  war  die  Auslegung  des  Begriffes  ‘Gerechtigkeit4,  den  Herr  Pfarrer
Becks anders als im sozial-politischen Sinn verstanden wissen wollte. Gerechtigkeit - ein Verhältniswort:  Gott  wird  der  Bedürftigkeit  des  Menschen  gerecht,  und  wir  sollen  den Bedürfnissen der anderen gerecht werden.

Lange konnte ich meinen Gedanken zu diesem Thema nicht nachhängen, da wurde Daiva ihrer Aufgabe als Reiseleiterin  gerecht  und  informierte  uns  ausführlich  über  die  Geschichte  Lettlands  von  1918  bis  zur Gegenwart.

Am  18.  November  1918  wird  die  Republik  Lettland  unter  dem  Ministerpräsidenten  Karlis  Ulmanis ausgerufen.  Nach  heftigen  Kämpfen  zwischen  Sowjettruppen,  denen  sich  die  Lettischen  Roten  Schützen angeschlossen  hatten,  und  deutschen  Freicorps  wird  1920  schließlich  der  Friedensvertrag  mit  Sowjetruss- land unterzeichnet. 43% des Landes, das 2000 Großgrundbesitzern gehörte, wird enteignet.

Die  Unabhängigkeit  des  Landes  dauert  bis  1939,  als  der  Nichtangriffspakt  zwischen  Hitler  und  Stalin  den Sowjets  die  Annexion  Lettlands  1940  ermöglicht.  5000  Juden  und  13000  Letten  werden  nach  Sibirien deportiert.

Nach  dem  Zweiten  Weltkrieg  ist  Lettland  also  Sowjetrepublik  und  die  Zuwanderung  von  400000  Russen und  100.000  Menschen  anderer  Nationalitäten  läßt  den  Bevölkerungsanteil  der  Letten  von  83%  auf  60% sinken.1987  erfolgt  das  dritte  nationale  Erwachen.  Am  25.3.88  wird  erstmals  die  rot-weiß-rote  Fahne gehißt. Die berühmte 6oo km lange Menschenkette demonstriert für Unabhängigkeit, und 1990 wird die Unabhängigkeit  ausgerufen.  Doch  russische  Panzer  lassen  sich  nicht  aufhalten  und  töten  mehrere  Men­ schen,  darunter  einen  13-jährigen  Jungen.  Das  Referendum  vom  März  91  bringt  dann  bei  einer  Wahlbe­ teiligung  von  88%  eine  74  prozentige  Mehrheit  für  die  Unabhängigkeit.  1992  wird  eine  eigene  Währung eingeführt.

Während  Estland  von  Anfang  an  die  Unterstützung  Finnlands  und  Schwedens  hatte,  Litauen  auf  Goldrück- lagen  aus  der  Schweiz  zurückgreifen  konnte,  bekam  Lettland  seine  Rücklagen,  die  sich  in  Moskau  befan­ den, nie zurück.

Im  folgenden  gab  Daiva  eine  ausführ­ liche  Darstellung  der  wirtschaftlichen Entwicklung  der  Baltischen  Staaten, die  ich  tabellarisch  festhalten  möchte. Die Daten stammen aus der Kanzlei von Parlamentspräsident  Landsbergis  aus dem Jahr ‘99:

Während  wir  diese  Ausführungen  ge­ duldig  anhörten,  zog  draußen  sonnen­ beschienene  Landschaft  vorbei,  weite grüne  Wiesen,  durchsetzt  mit  den  le­uchtenden  Farbflecken  der  Weidenrös­ chen,  und  wir  näherten  uns  allmählich dem  Ort  mit  dem  exotisch  klingenden Namen  Aluksne,  deutsch  schlicht  Ma­ rienburg.

Der  Bus  hielt  am  Bibelmuseum  vor  der Kirche,  nur  leider  war  beides  geschlos­ sen,  und  Daiva  schlug  einen  Spazier­ gang  vom  Zentrum  des  10000  Einwoh­ner  zählenden  Städtchens  zum  Aluksne See  vor.  Von  der  Ordensburg,  der  Ma­ rienburg, die 1342 erbaut und 1702 ge­ sprengt  wurde,  war  nur  die  Vormauer geblieben.

An  der  schön  gelegenen  Freilichtbühne  konnte  Frau  Kistenbrügge  noch  einmal  eine  Kostprobe  ihrer Vortragskunst  geben,  und  dann  zogen  wir  wieder  zurück  zum  Bus  am  ruhigen  Seeufer  entlang  -  der Bootsverkehr soll erst noch entwickelt werden.

Die  wiederholten  Telefonate  Daivas  hatten  Erfolg.  Eine  blonde  Dame  mit  großem  Schlüsselbund  näherte sich dem Gebäude mit dem grünen Dach, einem ehemaligen Handelspavillon aus dem Jahre 1908, in dem wir uns Bibeln ansehen wollten. Aber der Schlüssel trat noch lange nicht in Funktion. Immer wieder wurde ein Prospekt mit do Beschreibung des Museums, auch in englischer Sprache, geschwenkt, aber der Eintritt
blieb  verwehrt.  In  keiner  Sprache  hatte  Daiva  bei  der  blonden  Dame  Erfolg,  nur  als  sie  mit  Geldscheinen raschelte,  wurden  wir  endlich  ins  Vorzimmer  eingelassen.  Vier  erhobene  Finger  zeigten  den  Eintrittspreis pro Nase, und die von Daiva gezückten Scheine wurden mit Mühe in den Schlitz eines Kästchens versenkt. Die  Bitte  um  eine  Quittung  lehnte  die  Dame  mit  empörter  Miene  ab.  Wieder  wurde  zur  Abschreckung  der Prospekt  geschwenkt.  Vielleicht  ließen  sich  die  Massen  ja  doch  noch  von  der  Besichtigung  abhalten.  Aber die große Gruppe behielt die Übermacht.

Unter  lautem  Ah  und  Oh  öffnete  sich  das  Gitter  vor  dem  winzigen  Raum,  in  dem  dann  wirklich  die  Bibel von  Emst  Glück  und  weitere  lettische  Bibeln  zu  sehen  waren.  Ernst  Glück,  aus  dem  Leipziger  Raum stammend,  wirkte  in  Aluksne  von  1672  bis  1705.  Er  gründete  die  erste  Schule  für  lettische  Bauemkinder, bildete die Schüler dann zu Lehrern aus, die bei den Pfarrern einquartiert wurden. Glück selbst hat sich am slawistischen  Institut  in  Leipzig  weiter  in  der  lettischen  Sprache  vervollkommnet,  kehrte  nach  Aluksne zurück und übersetzte 1685 das Alte Testament und 1689 das Neue.

Nachdem  die  Gruppe  an  den  Ausstellungsstücken  vorbeidefiliert  und  das  Haus wieder  verschlossen  war,  erbot  sich  die  Schlüsselgewaltige,  uns  die  Kirche aufzuschließen.  Dem  prächtigen  Äußeren  dieses  klassizistischen  Baus  aus  den Jahren  1781-88  entsprach  das  freundliche  helle  Innere.  Wir  hörten,  daß  die Stuckarbeiten  von  einem  Krakauer  Meister  ausgefiihrt  wurden  und  das  Altarbild ‘Taufe Christi4 die Kopie elftes Gemäldes von Francesco Albani ist.

Die  Besichtigung  war beendet,  wir stiegen  in den  Bus  und  wollten  abfahren. Da hieß es: Frau Schäfer fehlt! Es folgte eine aufgeregte Suche mit Posten an den
Ecken  des  Kirchplatzes.  Um  die  Gemüter  zu  beruhigen  ging  Frau  von  Fircks  ans  Mikrofon  und  las  von Vegesack  4 Verlust der Tanten'™. aus der Sammlung ‘Die Welt war voller Tanten1, die uns schon zu Beginn der  Fahrt  erheitert  hatte.  Zum  Glück  war  der  Verlust  nicht  endgültig,  die  Zahl  der  Reiseteilnehmer  bald wieder aufgeftillt, und es ging mit einiger Verspätung weiter.

Hinter  Veclaine  erreichten  wir  um  13.20  Uhr  die  estnische  Grenze  und  wunderten  uns  über  den geringen  Autoverkehr.  Die  Pässe  wurden  wieder  eingesammelt,  und  wir  warteten  geduldig.  Das Schild weckte gewisse Assoziationen, doch die Sanitärpause ließ auf sich warten!

Als alle  Geldwechselaktionen  getätigt  worden  waren (1 DM »  8 Kronen),  ging  die Fahrt nach einer Stunde weiter. Auf der estnischen Seite grüßten die drei Löwen des dänischen Königs, die zum Wappen Revals und damit auch Estlands wurden.

Nach  einiger  Zeit  bogen  wir  von  der  Straße  nach  Pskov  in  nördlicher  Richtung  ab,  um  den  Nationalpark Haanja mit der höchsten Erhebung, dem Suur Munamägi, dem Großen Bierberg, zu erreichen.

Wir stiegen nicht aus, um den Gipfel zu besteigen, denn wir wurden ja von Frau Margit  Utsal  zum  Kaffee  erwartet,  wie  Daiva  schon  lange  angekündigt  hatte. Mit  der  telefonischen  Anmeldung  hatte  es  wohl  nicht  so  ganz  geklappt,  denn Daiva  verkündete  leicht  frustriert:  “So  stark  telefonisiert  wie  Litauen  (99  %)  ist Estland noch nicht!

Wir   fanden   aber   die   Abzweigung   zur   Vaska Tourist  Farm  leicht,  und  da  sich  Valentin  mit Recht  weigerte,  den  Bus  auf  den  Feldweg  zuschicken,  näherten  wir  uns  zu  Fuß  dem  Pick­nickplatz,  wo  in  idyllischer  Lage  oberhalb  des Vaska Sees eine prächtige Tafel fiir uns gedeckt war. Mit     Gebäck,     frischgebackenem     saftigem Schwarzbrot   und   selbstgemachtem   Streichkäse durften  wir  uns  bedienen,  auf  der  Wiese  lagern und  bekamen  dazu  Volkstänze  einer  Trachten­ gruppe  geboten  -  eine  Augenweide!  Auch  zum
Mittanzen  wurden  wir  aufgefordert,  und,  erhitzt nach  reichlicher  Bewegung,  genossen  wir  eine weitere Stunde in dieser Abgeschiedenheit. Der Abschied fiel uns wahrhaftig schwer!

Durch Vöru am See Vagula järv entlang, ging es in die Estnische Schweiz nach Otepäa, In einen Ort, der für  den  Wintersport,  vor  allem  für  das  Skilaufen  bekannt  ist.  Auch  die  russischen  Schriftsteller  Sol­ schenizyn und Sacharov haben sich dort gerne aufgehalten.

Bei dem Ort Elva gab es von Daiva wieder eine schöne Geschichte. Die ersten Häuser des Ortes gehörten einem  Georgier,  der  Angst  vor  Donner  und  Blitz  hatte,  und  bei  einem  heftigen  Gewitter  rief  er  *elva‘  aus, das estnische Wort für Blitz!

Die  Einfahrt  nach  Tartu  /  Dorpat,  der  zweitgrößten  Stadt  Estlands  erfolgte  über  die  Rigastraße.  Wir hörten,  daß  die  Stadt  an  Bedeutung  zugenommen  habe  und  jetzt  ein  wissenschaftliches  und  kulturelles Zentrum  sei.  Der  Vorschlag  des  Ministerpräsidenten,  einen  Teil  der  Ministerien  dorthin  zu  verlegen,  wurde jedoch nicht angenommen.

Um unser Hotel Ihaste zu erreichen fuhren wir allerdings wieder aus dem Stadtgebiet heraus und fanden es in  einem  Wohngebiet  mit  eigenartig  zusammengesetzter  Architektur.  Säulenbestandene  ‘möchtegeme* Prunkvillen  wechselten  mit  Häusern,  die  unfertig  dastanden,  bei  denen  in  Eigenarbeit  Stein  auf  Stein aufeinandergesetzt war. Auf etwas verschachtelt angelegten Gängen und Treppen erreichte schließlich jeder sein Quartier im Hotel.

Ute Metzler

10. Reisetag, Samstag 8. Juli

Das abgelegene Hotel Ihaste - wenn es denn ein Hotel war - wollen  wir  rasch  vergessen,  auch  das  Abendessen  auf viel zu  engem  Raum,  eingepfercht neben der doppelten Kegel­ bahn,  und  auch  das  überraschend  gute  Frühstücksbuffet  in einem  anderen  fensterlosen  Kellerraum  -  denn  Dorpat,  die alte  estnische  Universitätsstadt  seit  1632  und  mit  gut  hunderttausend  Einwohnern  heute  zweitgrößte  Stadt  Estlands  erwartet  uns  mit  etwas  kühlerem, aber sonnigem Wetter.

Trotz  mancher  Bausünde  in  sowjetischer  Nachkriegszeit  und  mancher  Baulükke  ahnt  man  noch,  daß  Dorpat  /  Tartu  als  “die  schönste  Stadt  Estlands  und Perle des Klassizismus” gepriesen wird, wenn man auf dem etwas gestreckten, aber   doch    wohlproportionierten    Vitoli-Barclay-Platz    steht,    der   sich   leicht erweiternd  und  etwas  ansteigend  vom  Ufer  des  Emajgi  bis  zum  Rathauszieht.  Der  Name  des  Platzes  erinnert  an  den  russischen  Fürsten  Michael  Bogdanowitsch  Barclay  de  Tolly, der  aus  einem  livländischen  Adelsgeschlecht  schottischer  Herkunft  stammt  und  am 27.  12. 1761 in  Luhde-Großhoff  in  Livland  geboren  wurde.  1810-12  war  er  zaristischer  Kriegsminister  und  1812  Oberbefehls­haber der russischen Hauptarmee gegen die Große Armee Napoleons I. Barclay starb am 26. Mai 1818 in der Nähe des ostpreußischen Insterburg.

Die alte, unter der Zarin Katharina 1781 - 84 erbaute Kivisild-Brücke, die erste Steinbrücke in Livland überhaupt  und  das  Wahrzeichen  der  Stadt,  wurde  1941  von  den  Russen  auf
ihrem Rückzug gesprengt. - Auf dem Weg zum Rathaus steht rechter Hand das “Schiefe  Haus”  von  1793,  in  dem  einst  der  Schriftsteller  Oskar  Luts  arbeitete. Heute ist in seinem Obergeschoß eine Kunstgalerie eingerichtet.

Wegen  des  gleitenden,  sandigen  Baugrundes mussten die größeren Gebäude auf Holzpfäh­
len  gegründet  werden,  die  nun,  infolge  des sinkenden  Grundwasserspiegels,  zu  verrotten
drohen. Auch das schöne klassizistische drei­ geschossige    Rathaus,    1789    von    Johann
Heinrich  Bartholomäus  am  oberen,  südsüd­westlichen  Ende   des  Vitoli-Barclay-Platzes
erbaut,  ist  auf  Pfählen  gegründet.  1805  er­hielt  es  “im  Interesse  der  Universität”  -  will
heißen:  um  Professoren  und  Studenten  zur Pünktlichkeit zu erziehen - eine Uhr.

Links  am  Rathaus  vorbei  steigen  wir  auf  zum  Domberg.  Hier  stand  eine estnische  Bauemburg,  die  1030  vom  Kiewer  Fürsten  Jarosław  Tark  /  “der Kluge”  erobert  wurde.  200  Jahre  später,  1234,  nachdem  die  Deutschen Ordensritter  nach  25-jährigem  Kampf  Tartu  gewonnen  hatten,  wurde Tartu  regionales  Zentrum  und  Bischofssitz  und  auf  dem  Domberg  wurde zur  Sicherung  der  Eroberung  und  Kolonisierung  eine  neue  Burg  angelegt. Als Tartu Ende des 13. Jh’s der Hanse beitrat, umgab die Stadt eine zwei
Kilometer  lange  Mauer  mit  achtzehn  Türmen  und  mehreren  Toren.  Günstig  an
zwei sich kreuzenden Femstraßen gelegen blühte es vor allem durch den Handel
mit Pskow / Pleskau und Nowgorod auf.

Nach  dem  leichten  Aufstieg  vom  Südosten  her  bleiben  wir  vor  der  zwischen 1807  und  1810  erbauten  Sternwarte  stehen,  die  sich  zu  Anfang  der  ersten Hälfte  des 19. Jahrhunderts  zu einem wichtigen astronomischen  Forschungszen­trum  entwickelte.  Ihr  erster  Direktor  war  der  am  15.  April  1793  im  dänischen Altona  geborene  Geodät  und  Astronom  Friedrich  Georg  Wilhelm  Struwe,  später Professor in Sankt Petersburg, wo er am 23. November 1864 starb. Mit Hilfe des von Fraunhofer entwickelten Refraktors - damals das größte Teleskop der Welt - untersuchte   Struwe   die   Doppel-   und   Mehrfachsteme   und   katalogisierte   den Sternenhimmel.  1836/37  bestimmte  er  den  Höhenunterschied  zwischen  Kaspi­schem und Schwarzen Meer. - Im Wende-Jahr 1989 wurde auf dem Observatori­um die estnische Nationalfahne gehißt.

Vor  der  Anatomie  steht  die  Büste  des  Mediziners  und  Sammlers  estnischer  Sagen  Friedrich  Robert Faehlmann (1798  -1850).  Das  älteste  Denkmal  auf der  Anlage des Dörnbergs ist das von Johann Wilhelm Krause,  dem  Architekten  und  Erbauer  der  Universität,  1806  geschaffene  Völkerdenkmal,  unter  dem  die beim  Ausschachten  der  Baugruben  für  die  Universitätsgebäude  gefundenen  unbekannten  Gebeine  bei­ gesetzt wurden.

Vorbei  an  Teufels-  und  Engelsbrücke,  1907  bzw.  1838  erbaut,  -  erstere  soll nach  einen  Dorpater  Professor  namens  Manteuffel  benannt  sein  -  erreichen  wir die  imposante  Ruine  des  Doms  mit  seiner  in  Höhe  und  Mächtigkeit  beeindruckenden  zweitürmigen,  wehrhaften  Westfassade.  Die  älteste  Bausubstanz  stammt aus dem 13. Jh. Im 15. Jh. erweitert zu einer fünfschiffigen Basilika mit acht Jochen wurde die einst größte Kirche des Baltikums in Livländischen Krieg (1558  -  1583)  zerstört.  Während  vom  weiten  Kirchenschiff  nur  noch  die  romantisch  anmutenden  Tragsäu­len  mit  ihren  gotischen  Bögen  vorhanden  sind,  baute  Johann  Wilhelm  Krause  den  Chorraum  zu  einer lichten  Universitätsbibliothek  um.  Heute  ist  in  ihm  auf  drei  Zwischenetagen  das  Historische  Museum  der Universität untergebracht.

Gegenüber  der  NW-Ecke  des  Domes  steht  auf  einem  kleinen  romantischen Hügel  die  Statue  des  jung  verstorbenen  estnischen  Schriftstellers  Kristjan  Jaak Peterson  (1801  -  22),  dargestellt  als  zügiger  Wanderer  mit  flatterndem  Bauernrock und Wanderstab in Erinnerung daran, daß er den 250 km langen Weg aus seiner Heimatstadt Riga zur Dorpater Universität, wo er als erster Este studieren durfte, zu Fuß zurücklegen musste.

Unweit  davon  steht  an  einem  kleinen  Rondell  das  Standbild  von  Karl  Ernst Ritter  von  Baer,  mit  einem  leichten  Mantel  auf  einem  Sessel  sitzend  und  ein Buch studierend. KEvB wurde am 28.2. 1792 auf Gut Piep bei Järvamaa geboren,  studierte  in  Dorpat  und  war hier  und  in  Königsberg  Professor  der  Anatomie und  Zoologie.  Als  Entdecker  der Säugetiereizelle  1826  gilt  er  als  der  frühe Begründer der Embryologie. Auch auf anderen naturkundlichen Gebieten tat er sich  hervor:  So  erkannte  er,  daß  in  Eurasien  alle  in  NS-Richtung  fließende  Flüsse  infolge  der  Erdrotation (Kurlionis  Kraft)  ein  höheres  Ost-  und  ein  niedrigeres  West-Ufer  haben.  Forschungsreisen  führten  ihn  zum Kaspischen Meer und zur Halbinsel Novaja Semlja im Nordpolarmeer. Den Fischern am Peipussee empfahl er zur Schonung der Jungfische grobmaschigere Fangnetze. KEvB starb am 28. 3. 1876 in Dorpat.

Am Fuß des Domberges zur Innenstadt hin liegt das ebenfalls von Johann Wilhelm  Kraus  1805  -  09  erbaute  und  im  klassizistischen  Stil  gehaltene Hauptgebäude   der   Universität   mit   seinen   mächtigen,   antikisierenden Frontsäulen.  Die  Aula  im  Inneren  hat  wegen  ihrer  Säulen  aus  Kiefem-Hohlstämmen   eine   wunderbare   Akustik,   ist   dadurch allerdings   auch feuergefährdet.  -  An  der  ehemaligen  Universitätskirche,  die  heute  das
Philologische  Seminar  beherbergt,  war  seit  1902  der  praktische  Theologe Traugott  Hahn  Universitätsprediger.  Im  Januar  1919  wurde  er  von  der Revolutionsregierung  verhaftet  und  unmittelbar  vor  der  Befreiung  Dor­pats  erschossen.  Traugott  Hahn  entstammte  einer  bedeutenden  Theologenfamilie:  Sein  Großvater  Hugo  war  Pfarrer  der  deutschen  Gemeinde  in Kapstadt   und   leitete   im   Auftrag   der   Rheinischen   Mission   Wuppertal-
Barmen  in  Südafrika  die  Mission  unter  den  Hereros.  Sein  gleichnamiger Vater  war  Pastor  zunächst  auf  Oesel  und  in  Livland  und  schließlich Pfarrer  der  deutschen  St.-Olai-Kirche  in  Reval  /  Tallinn,  von  wo  er  1915 nach  Sibirien  verbannt  wurde.  Der  Sohn  des  Universitätspredigers  Wil­helm war Ende der 50-er Jahre Rektor der Heidelberger Universität und zu Beginn der 60-er Jahre Kultusminister von Baden-Württemberg.

Auf  einem  kleinen,  schönen  Platz  an  der  Nordseite  der  Kirche  steht  das 1992 in Gegenwart des schwedischen Königspaares wiedererrichtete Denk­ mal  für  Gustav  II.  Adolph  mit  der  Sockelinschrift:  "FUNDATOR  UNIVERSITATIS  DORPATIENSIS  -  GUSTAVUSIIADOLPHUSREXSUE- CIAE”.  Die  Gründungsurkunde  für  die  nach  dem  berühmten  Uppsala zweiten  schwedischen  Universität  hatte  Gustav  Adolph  auf  seinem  Kriegszug  zur  Unterstützung  der  deutschen  Protestanten  1632  in  Deutschland unterschrieben.

Die  1310  von  einem  Lübecker  Meister  erbaute  und  weit  über  die  Grenzen des  Baltikums  hinaus  für  ihre  Terrakottaplastiken  bekannte  Johanniskirche  macht  immer  noch  einen  sehr  trostlosen  Eindruck.  Das  Dach  wurde zwar  inzwischen  erneuert,  aber  der  Turm  ist  weiterhin  rissig.  In  den  50-er Jahren  sollte  die  1944  ausgebrannte  Ruine  abgerissen  werden,  was  aber durch  die  Intervention  eines  namhaften  Kunstgeschichtlers  verhindert werden konnte. Inzwischen in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
wird der Baukörper mit Mitteln des Bundesministeriums des Inneren in Berlin zumindest stabilisiert.

An  die  Schrecken  der  jüngsten  sowjetischen  Zeit  erinnert  ein  trostloses  Gebäude  südwestlich  der  Johanneskirche,  in  dessen  Kellerräumen  1941  vor  dem  deutschen  Einmarsch  192  politische  Gefangene erschossen  wurden.  Nach  Rückkehr  der  Russen  1944  wurden  ihre  Gräber  umgepflügt.  An  der  Südseite steht  das  einstige  Gymnasium  Dorpats  im  “Zopfstil”,  dessen  Gründungsrektor  Hugo  Troffler  dafür  sorgte, daß durch Gewährung von Stipendien auch arme Schüler aufgenommen werden konnten.

Der  fast  dreistündige  Rundgang  hat  wohl  allen  deutlich  werden  lassen,  welche  Bedeutung  besonders  die Universität  über  Estland  hinaus  für  das  Baltikum  hatte.  Wenn  auch  die  Forschung  und  geistige  Bildung ausschließlich  von  deutschsprachigen  Professoren  und  bis  auf  wenige  Ausnahmen  auch  für  deutsch­sprachige  Studenten  betrieben  wurde,  so  hatte  sie  doch  zumindest  indirekt  Wirkung  auf  die  Heranbildung einer estnischen Führungsschicht. Durch den Wechsel der Professoren hin und her nach und von deutschen,  vor  allem  preußischen  Universitäten  war  die  Verbindung  zum  Mutterland  immer  gewährleistet, wenngleich  die  Grundhaltung  in  den  Geisteswissenschaften  und  der  Theologie  in  der  Regel  konservativ blieb.  Die  Ausstrahlung  der  Universität  -  auch  durch  Forschungsreisen  nach  Rußland  -  diente  der  Vermitt­lung geistigen und naturwissenschaftlichen Wissens über das Baltikum hinaus ins europäische Rußland.

Nach  der  sehr  informativen  Führung  hatte  Daiva uns  ein  schönes  Kellerlokal  empfohlen,  und  hier fanden sich peu ä peu auch die meisten von uns ein.

Gestärkt von einem  guten  Ess­en überlegte jeder,  wie  er  den geschenkten freien  Nachmittag bis zur gemeinsamen Busrückfahrt ins Hotel, das keines war, nutzen könne. Einige erkundeten noch einmal die Alt­stadt und fanden bald ein Straßencafe. Andere machten sich in die ehemalige Mühlenstraße auf, um das Haus zu suchen, in dem Else Hueck-Dehios Roman “Liebe Renata” spielt. - Ich selbst  stieg  noch einmal  auf  den Dörnberg, um das  im  Domchor auf mehreren Zwischenetagen eingerichtete Universitäts­museum  zu  be­suchen. Die aus­ schließlich  est­nische  Beschriftung  machte  die Übersicht  zwar nicht  gerade  leicht,  doch  die  Anordnung  der Ausstellungsstücke  -  medizinische  und  astrono­mische  Instrumente,  originale  Studierzimmer, Bücher und Urkunden - war recht anschaulich. Ganz  im  Gegensatz  zur  estnischen  Beschriftung war das Gros der ausgestellten Urkunden und Bücher - wie nicht anders zu erwarten - deutsch. Vor allem drei alte Schriften erregten mein Interesse, deren Titelblätter ich mir notierte und hier in den Kästchen wiedergeben habe.

Alles in allem war der Aufenthalt im stillen und nahe der russischen Grenze etwas abgelegenen Dorpat, das man  nicht  mit  den  jetzigen  Hauptstädten  Riga  oder  Tallinn  vergleichen  darf,  anregend  und  die  Muße  am freien Nachmittag auch spürbar erholsam.

Manfred Becks

11. Reisetag, Sonntag 9. Juli

Eine  weite  Strecke  liegt  heute  vor  uns,  darum auch der zeitige Aufbruch (8.30 Uhr) von Tar­ tu / Dorpat.

Wir verlassen die Stadt Richtung Norden, durch eine Landschaft, die durch ein leichtes Auf und Ab  gekennzeichnet  ist.  Dichte  Wälder,  ausgedehnte  Wiesen,  kleine und große Seen, die im Sonnenlicht blinken, Störche, die auf Futtersu- che für ihre meist zahlreiche Nachkommenschaft sind, (Anzeichen für einen feuchten Sommer - auch bei uns?), eingestreute Bauernhöfe, zu denen schmale Sandwege fuhren, mit hübschen Bauemgärten, verlas­ sene Kolchosen begleiten unseren Weg.

An der Mündung eines der etwa dreißig Zuflüsse in den Peipussee liegt  Mustvee (must vesi  = Schwarz-Wasser).  Ende  des 18.Jahrhunderts siedelte sich hier eine große Zahl Altgläubiger an, die die Reformbewegung der russisch-orthodoxen Kirche nicht mitmachen wollten und darum in ihrer Heimat verfolgt wurden. Eine russisch-orthodoxe Kirche ist im Ort erhalten geblieben.

Hier liegt auch die weite Fläche des Peipussees vor uns. Er ist der viertgrößte Binnensee Europas (50 km breit, 140 km lang und 8 m tief).  Dank  der  warmen  Wassertemperaturen  im  Sommer  und  der vielerorts  schönen  Sandstrände  eignet  sich  der  See  zum  Baden.
Hinter der oft mit Schilfbewachsenen Uferzone breiten sich Kiefern und Birken in lockerem Wuchs aus. Fischfang - oft wenig ertrag­ reich - und Gemüseanbau sind die Haupterwerbszweige der Men­ schen  am  Peipussee,  vom  spärlichen  Tourismus  abgesehen.  Die Erzeugnisse  werden  am  Straßenrand  zum  Verkauf  angeboten. Manch schöner Blumengarten erfreut das Auge.

Während  der  Fahrt  nach  Narva  nutzt  unsere  unermüdliche  Reiseleiterin  Daiva  die  Zeit,  uns  über  die  wirt­ schaftliche Situation Estlands zu informieren.

Estland war auch in das Wirtschaftssystem der Sowjetunion eingebunden. Schon 1987 faßten hier die Ideen besonders  der  wirtschaftlichen  Souveränität  Fuß.  Grund  war  der  geplante  Ausbau  der  Phosphorminen  in Nordestland, der katastrophale Umweltschäden zur Folge gehabt hätte. Große Probleme kamen beim Aufbau der  Wirtschaft  hinzu:  veraltete  Technik,  ungeklärte  Eigentumsverhältnisse,  die  die  Investitionen  hemmten, Unsicherheit der Menschen über ihre Zukunft, um nur einige zu nennen. Um die wirtschaftliche Situation zu verbessern, strebte man vor allem die Privatisierung an. Als Vorbild für eine freie Wirtschaft galt Finnland.

Im ersten Jahr der freien Wirtschaft gab es bereits 2000 kleine Privat­ betriebe, meist landwirtschaftliche Betriebe. Die wirtschaftlichsten Kolchosen wurden von deren Vorsitzenden übernommen. Viele der Kleinbauern hatten und haben es schwer, auf den überdüngten Böden
genügend Ertrag zu erwirtschaften, um überleben zu können. Weite Flächen liegen brach. Während der fünfzig Jahre sowjetischer Beset­zung ist aus dem fruchtbaren Wald- und Ackerland ein ökologisches Notstandsgebiet geworden. Um die Wirtschaft auf einen konkurrenz­
fähigen  Standard  zu  bringen,  sind  eine  Modernisierung  und  eine bessere Ausnutzung der Energie vorrangig.

Heute sind die Hauptindustriezweige: Bekleidungs-, Nahrungsmittel-, Holz- und Möbelindustrie sowie die Metallverarbeitung z. B. die Herstellung  von  Meßinstrumenten  und Elektromotoren.  Hauptexport­ länder  sind  Rußland,  Finnland  und  Deutschland,  von  denen  Rußland  aber  nur  selten  bezahlt.  Besonderes problematisch  für  das  Land  ist,  daß  vor  allem  für  die  landwirtschaftlichen  Produkte  im  Westen  nur  geringe Absatzchancen bestehen.

Estland kann aufgrund der Ölschiefervorkommen in der Gegend um Narva seine Elektrizität selbst produzieren, sogar Lettland und die Region um St. Petersburg mit Strom versorgen. Auch hier akzeptiert man, daß Rußland nicht bezahlt.

Ölschiefer  hat  nur  geringen  Brennwert  und  ist  somit  für  die  Energieerzeugung  wenig  geeignet.  Dement­ sprechend große Mengen wurden bisher abgebaut, ohne daran zu denken, daß die auch enthaltenen wertvollen Grundstoffe  für  die  chemische  Industrie  dabei  verlorengingen  und  durch  den  Raubbau  die  Vorräte  an  Öl­ schiefer in ca 30 Jahren erschöpft sein werden. Die beiden Kraftwerke nahe Narva (Kothla-Järve und Jöhvi) produzieren  Unmengen  von  Schwefeldioxyd,  durch  das  die  Umwelt  -  Luft,  Böden,  Mensch  und  Tier  -  in höchstem  Maße  belastet  wird.  Außerdem  sickern  Giftstoffe  von  den  Halden  ins  Grundwasser.  Ähnlich problematisch ist die Produktion von Papier, Zellstoff sowie von Düngemitteln u.a. in Tallinn, wo bereits ein Betrieb ganz, andere teilweise stillgelegt wurden.

Der Kampf um die Unabhängigkeit Estlands begann mit einem Umweltproblem. Im unabhängigen Estland ist das Problem geblieben, aber man weiß um die Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen und zu erhalten.

Es würde zu weit führen, all die statistischen Angaben, die Daiva uns mitteilte, hier niederzuschreiben, zumal sich diese Angaben in der Zeit des Umbruchs sehr schnell ändern. Wichtig ist noch zu erwähnen, daß in der Zeit der sowjetischen Besetzung des Landes besonders in der Umgebung von Narva viele russische Industrie­ arbeiter  mit  ihren  Familien  angesiedelt  wurden  mit  der  Intention  der  Zurückdrängung  der  Esten  und  deren Kultur. Darum ist der russische Bevölkerungsanteil hier sehr hoch (96%). Heute kommt es gerade in diesem Gebiet häufig zu Unruhen u.a. wegen der Staatsangehörigkeit. Diese Unruhen werden über die Medien von russischer Seite geschürt.

Unter  dem  Eindruck  der  vielen  Informationen  über  Estland  erreichen  wir  zur Mittagszeit  Narva -  eine  Stadt ohne Gesicht. Monotone Reihen und Quader der Blocks in Plattenbauweise mit abgeplatzten Anstrichen, kaum mal  eine  Grünfläche,  welche  die  Schäbigkeit,  die  Eintönigkeit  unterbrechen  würde.  Den  Menschen  ist wahrscheinlich  nur  die  Pflege  der  eigenen  Wohnung  wichtig;  denn  gelegentlich  sieht  man  Menschen  an Fenstern, Balkonen arbeiten, mit bescheidenen Mitteln ihr Wohnfeld nach eigenen Vorstellungen gestalten.

Die Hennannsfeste beherrscht das Stadtbild. Ursprüng­ lich  als  Holzkonstruktion  gebaut,  wurde  sie  Mitte  des 14. Jahrhunderts von den Dänen kastellartig ausgebaut. Der “Lange Hermann“ überragte schon damals die An­ lage. Unter den Ordensrittern erfolgte der Ausbau schon fast bis zur heutigen Größe. Die Schweden errichteten Uggt- weitere Gebäude, vor allem den Befestigungsgürtel. Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts diente die Festung als
Kaserne. Im 2. Weltkrieg wurde sie durch schwere Kampfhandlungen stark zerstört. Seit 1955 ist man mit dem Aufbau beschäftigt. Der “Lange Hermann“ dient heute als Stadtmuseum, in dem u.a. eindrucksvolle Bilder aus der Geschichte der Stadt Narva zu sehen sind.

Eindrucksvoll ist der Blick vom Wehrgang des “Langen Hermann“ auf die Umgebung der Stadt1 besonders auf die am anderen Ufer der Narva (Narova) gelegene Festung Iwangorod - von Iwan III. erbaut. Die Narva bzw. die beiden Festungen waren immer schon Grenze zwischen Ost und West, so wie es auch heute noch ist.

Obwohl man ohne Visum diejGrenze nicht passieren kann, ist der kleine Grenzverkehr zwischen Estland und Rußland sehr lebendig Man ist unterwegs von hüben nach drüben mit den unterschiedlichsten Waren: Blumen, Teddybär, Waschbecken, Rohren, Flaschen und vielem, was sich in den großen Einkaufstaschen verbirgt und mit den selbstgebastelten Einkaufswagen transportieren läßt.

Unweit der Stadt Narva am Finnischen Meerbusen liegt ein beeindruckender Sammelfriedhof für die gefallenen Deutschen, die bei den schweren Kämpfen im 2. Welt­krieg an der Narva-Front ums Leben kamen. Seit 1996hat man auf dem Gräberfeld 3500 Gefallenen eine würdi­
ge Ruhestätte geschaffen. Die Namen der Toten sind in Stelen eingemeißelt.

Die Fahrt entlang der Küste des Finnischen Meerbusens führt  über  Sillamäe-Toila  nach  Ontika  und  Valaste,  wo  die  Glintküste  -  eine  20  km  lange  Steilküste  mit horizontal  gelagerten  Silursedimenten  -  ihre  größte  Höhe  mit  55,5  m  erreicht.  Bei  Valaste  kann  man  den höchsten Wasserfall Estlands bewundern, der 26 m tief ins Meer fällt.

Immer wieder bietet sich auf unserer Fahrt Richtung Tallinn ein Blick auf den Finnischen Meerbusen bis wir bei  Lümala  Richtung  Rakvere/Wesenberg  abbiegen.  Die  Ruine  der  Ordensburg  überragt  die  Stadt  und  ist weithin sichtbar.

Auf der Autobahn erreichen wir jetzt schnell unser Ta­gesziel:  Tallinn/Reval,  wo  wir  im  Hotel  “Central“  gut untergebracht sind. Nach dem Abendessen machen wir mit Daiva einen Spaziergang zu den wichtigsten Sehens­ würdigkeiten  der  Unterstadt:  Rathausplatz,  Ratsapotheke,   Handwerker-   und   Kaufmannshäuser,   die   “Dicke Margarete“,     Stadtmauer,     “Langes     Bein“,     “Kurzes Bein“,...

Daß es in der Stadt nicht immer so ruhig zugeht und wie anziehend sie für Touristenströme aus aller Welt ist, das sollten wir erst am übernächsten Tag bei der Stadtführung erfahren.

Lucie und Erich Krikkis

12. Reisetag, Montag 10. Juli

Im Nationalpark Lahemaa „Land der Buchten“

Gummistiefel, Wasserschuhe, Schuhwerk ungenügend?

Ein Höhepunkt des Tages war bereits für den Vormittag geplant: Eine Wanderung durch das Viru Hochmoor über eine Strecke von 3,5 km. Die Sonne empfing uns am Morgen mit strahlendem Sonnenschein, und wir vergaßen alle Sorgen um evtl, fehlende wasserdichte Schuhe.

Die  Moorlandschaft  ist  Teil  des  estnischen  National­parks  Lahemaa  (Buchtenlandschaft),  die  etwa  40  km östlich  von  Tallin  liegt.  Während  der  Busfahrt  erfuhren wir  von Reiseleiterin  Kadri  mehr:  Der  680  km2  große Nationalpark Lahemaa stellt ein Gesamtbild dessen dar, was die Natur Nordestlands an typischer Landschaft im Urzustand zu bieten hat. Er wurde bereits 1971 ange­legt, um die ursprünglichen Natureigenheiten sowie die kulturellen und   historischen   Denkmäler   zu   erhalten. Ungefähr  70  %  des  Territoriums  ist  naturbelassenes Gelände  meist  mit  Wald,  auch  Urwald  und  Hochmoor bedeckt; deswegen konzentriert sich das Hauptinteresse der Besucher auf Wälder und Moore, sowie auf ortsfremdes Gestein wie z.B. Riesenfind- linge des einst vergletscherten nordeuro Pflanzenarten,  die  bereits  auf  der  Roten Liste verzeichnet sind, können hier gefun­den werden. Außerdem gibt es 14 Seen sowie zahlreiche Bäche und Flüsse. Zur Zeit bestehen fünf streng geschützte Zonen, in denen als seltene Bewohner Braunbären, Luchse, Nerze, Wölfe, Biber und Elche Vorkommen, hinter den Vögeln sind Schwarzstörche, Seeadler und Prachttaucher anzutreffen. Unsere Blicke glitten nach draußen zu den dichten Fichtenwäldern: Würden wir hier im Unterholz endlich den ersten Elch entdecken? Und Ute und Willi M. hatten Erfahrung: Gegen angrifislustige Braunbären hilft Singen. In Gedanken zückte ich bereits das grüne Liederheft.

Das  Viru  Hochmoor  konnten  wir  trockenen  Fußes  über  die  Planken  des  Bohlensteges  durchqueren.  Vom Beobachtungsturm des Lehrpfades genossen wir die Schönheiten der dunklen Sumpfceen, in denen sich der blaue Himmel spiegelte und die Eigenart der Krüppelkiefem. Letztere sind durch den Wind und den nährstoff­ armen Boden in den letzten 100 Jahren zu knorrigen Gebilden geworden. Man glaubte früher, es handle sich um Feen, die bei Tageslicht die Form von Bäumen annehmen. Am Boden betrachte­ ten  wir  Moose,  Beeren  und  Pilze.  Doch  bis  auf  eine  kleine  Eidechse  und  einen entfernten  kurzen  Kuckucksruf  -  von  Elchen,  Braunbären  oder  seltenen  Vögeln keine Spur und keinen Ton. Kadri wusste die Lösung: Im Moor herrscht Stille.

Über   Vitna   erreichten   wir   das   inmitten   des   Land­ schaftsparks gelegene barocke Gutshofensemble Palm­se der Familie von Pahlen (Eigentum von 1674 - 1923). Prominente Familienmitglieder waren Carl Magnus von der Pahlen (1779- 1863), Generalgouvemeur der Ost­seeprovinzen  und  Baron  Alexander  von  der  Pahlen (1820-1895),  Haupt  der  Ritterschaft  Estlands  und  In­itiator  der  Baltischen  Eisenbahn.  Als  letzten  Besitzer sahen wir Fotos aus dem Jahre 1923 von Georg von der Pahlen und seiner Familie, die noch heute vor Ort aktivin Erscheinung tritt.

1972 begannen die Russen ihren Plan zu verwirklichen, Palmse  als  einheitliches  Gutsensemble  wieder  aufzu­bauen und hier ein Kulturzentrum zu errichten. Mittel­punkt ist das ehemalige Herrenhaus, das Ende des 18. Jahrhunderts unter Anleitung des bekannten Gouvemementarchitekten J. C. Mohr umgebaut wurde. So sehen wir das Hauptgebäude auch heute.

Wir  konnten uns im Musiksaal durch ein Streichquar­tett mit Wiener Klassik in Empfang genommen fühlen. In  Wahrheit  aber  übten  die  Musiker  für  ein  Benefiz­ konzert, bei dem für die weitere stilgemäße Möblierunggesammelt  werden  soll.  Außer  den  Rokokokachelöfen war von der ursprünglichen Möblierung nur ein durch­ gesessener  Lederstuhl  im Schlafzimmer  zurückgeblie­ben. Die zahlreichen übrigen Gutsgebäude sind eben­ falls restauriert und werden u.a. als Brennerei und Ho­el  genutzt.  Leider  war  an  diesem  Montag  das  Cafć geschlossen.  Aber  Bauern  verkauften  am  Straßenrand Erdbeeren, und der Fahrer hatte Kaffee gebrüht.

Weiter  ging  unsere  Fahrt nach Sagadi, dem ehemaligen Besitz  der  Familie  von  Fock. Das 1750 erbaute eingeschos­ sige  Gutshofensemble  bietet zusammen mit dem Park, den Teichen, der Allee zum Meer und den Wirtschaftsgebäuden einen  reizvollen  Anblick.  Im Jahre  1977  wurde  mit  den Renovierungsarbeiten  begonnen mit dem Ziel, ein Schulungszentrum für Förster und ein  Waldmuseum  zu  gründen. Wir sahen u.a. Stühle, eingerahmt mit Elch- und Hirschgeweihen.  Ob  sie wirklich  bequem  sind?  Wir hätten  es  gerne  ausprobiert. Gleichzeitig  dient  das  Gebäude  als  Kulturzentrum  für Konzerte, Ausstellungen und Theaterauffiihrungen.

Da  die  Küstengegend  jahrzehntelang  Teil der verbotenen Zone war, sind die alten Fischerdörfer  nahezu  unverändert  geblieben. So ist das malerische Fischerdorf Altja am Finnischen Meerbusen eines davon und ver­leiht der Umgebung eine reizvolle, nostalgi­sche  Abwechslung.  Wir  fühlten  uns  zwi­schen den alten Fischerhäusem mit ihren gepflegten Blumengärten und den geschützten Wegen am Wasser wie in der Som­ merfrische Anfang  des  Jahrhunderts.  Ich  warf  einen  Stein  mit  dem  Wunsch,  es möge noch lange so idyllisch bleiben auf den haushohen Steinhaufen. Hoffentlich sind alle übrigen Wünsche der Gruppe in Erfüllung gegangen.

Dabei konnten wir auf unserer Fahrt auch hin und wieder einen neueren Betonklotz, sprich Reha-Zentrum, übersehen, offensichtlich in der guten Absicht gebaut, vielen kranken Menschen Erholung und Genesung zu gewähren. Von Feme über das Wasser sahen wir die weißen Häuser der  Halbinsel  Vergi,  Segelhafen  und  Sitz  einiger  kleiner Fischverarbeitungsgenossenschaften.

Reizvoll war auch der Flecken Vösu am Südufer der Bucht  von  Käsmu.  Seine  Bedeutung  verdankt  er  Intellektuellen  und  Künstlern,  die  im letzten Jahrhundert begannen, dort ihre Sommerhäuser zu errichten (heute 10.000 Bewohner im Sommer / 500 im Winter). Vor Winden geschützt, bietet die flache Bucht mit feinsandi- gem Strand und dem anschließenden Föhrenwald günstige und ruhige Erholungsmöglich­ keiten. Den Reiz des Ortes und seiner Umgebung macht der Reichtum an dicken bemoosten, manchmal manns- oder haushohen Findlingen und seine Quellen aus.

Wir machten Rast am Wasserfall Verlaste Juga, der am Steilhang der estnischen Küste ca. 26 m im freien Fall über grünen Schiefer zur Ostsee rauscht.

Beim traditionell letzten gemütlichen Abend konnte Wehmut nur zeitweise aufkommen, denn für  den  nächsten  Vormittag  war  noch  ein  mit  Sehenswürdigkeiten  ausgefiillter  Stadtrund- gang in Tallin vorgesehen. Dieser 12. Reisetag schloss mit einem herzlichen Danke für eine vielseitige, höchst informative und außerordentliche Reiseplanung und -begleitung an Frau und  Herrn  Pfarrer  Becks.  So  manche  fesselnde  Andacht,  z.B.  die  in  der  beeindruckend kunstvoll restaurierten Kirche von Nurmhusen, wird mir in Erinnerung bleiben.

Gerhild Bergknecht

13. Reisetag, Dienstag 11. Juli

VORBEMERKUNG:  Der  letzte  Tag  der  Studienreise  galt  der  Besichtigung  von Tallinn  /  Reval,  das  sich  infolge  umfangreicher  und  sorgfältiger  Renovierung  der Altstadt  mit  Dörnberg  und  Unterstadt,  aber  auch  anderer  Stadtteile,  als  “Perle”  der Hauptstädte  der  drei  baltischen  Staaten  erwies.  Start  vom  Hotel:  08.30  Uhr.  “Kirche  im Bus”  fiel  aus.  Zunächst  verabschiedete  sich  Daiva,  unsere  sehr  gute  und  sachkundige, stets  hilfreiche  Führerin  durch  die  drei  baltischen  Länder  mit  sehr  herzlichen  Worten.  Sodann  übernahmen zwei  ortsansässige  Führerinnen  die  Führung  in  Tallinn  /  Reval.  Eine  von  ihnen  war  schon  tags  zuvor  im Nationalpark Lahemaa unser Guide.

ALLGEMEINES ZUR HAUPTSTADT ESTLANDS: TALLINN/ REVAL
Tallinn/Reval  -  urkundlich  1154  (erste  Estenburg  )  erstmals  erwähnt  ist  von  den Dänen  gegründet  worden.  Der  Name  leitet  sich  Taani  Linn  ab,  was  estnisch soviel  wie  “Stadt  der  Dänen“  bedeutet.  Im  Dänischen  taucht  der  Name  „Revele” für Tallinn auf, aus dem sich das deutsche „Reval” ableitet. Dänenkönig Walde­mar  II.  landete  mit  großer  Flotte  1219  in  der  Gegend  des  heutigen  Tallinn, zerstörte  die  bereits  erwähnte  Estenburg  „Lindamisa”  und  errichtete  an  ihrer Statt seine (neue) Burg. Erste estnische Zeugnisse liegen 5 000 Jahre zurück. Um  die  Burg  entsteht  das  alte  Tallinn  mit  Dörnberg  (Oberstadt)  und  Unterstadt,  beides  entwickelt  sich  im Laufe der Zeit weiter.

Mit  der  Festsetzung  der  Dänen  in  Estland  geht  die  Landnahme  und  Christi­ anisierung  durch  den  von  Bischof  Albert  von  Livland  1202  gegründeten „Schwertbrüderorden”  einher,  der  bis  zum  Tode  dieses  Bischofs  1219  bereits Livland,  Estland  und  Teile  Kurlands  beherrschte.  Im  Zuge  dieser  Entwicklung gelangen viele Deutsche in jene Gebiete. Auf dem Lande etablieren sie sich als Gutsbesitzer,  in  den  Städten,  so  auch  in  Tallinn,  als  Kaufleute,  Advokaten, Professoren,  Pastoren,  Apotheker  und  auch  als  Handwerker.  „Es  entstand  (dort) eine  deutsche  Stadt”,  so  der  Große  Brockhaus,  Ausgabe  1956.  Immerhin  hatten 1918 siebentausend Deutsche in der estnischen Hauptstadt Tallinn vier Gymna­
sien und in jeder estnischen Provinzstadt gab es eine deutsche Schule. Übrigens, gleich, ob unter schwe­ discher  oder  später  russischer  Herrschaft,  die  Amtssprache  in  Livland,  Estland  und  Kurland  war  deutsch. Zur  Zeit  gibt  es  in  Tallinn  ein  deutsches  Gymnasium,  an  dem  ab  der  2.  Klasse  -  bei  12  Jahren  höherer Schule - deutsch gelehrt wird.

Das  heutige  Tallinn  hat  zwischen  400.000  und  420.000  Einwohner  und bedeckt  eine  Fläche  von  ca.  180  km2.  Es  hat  viele  Kalksandsteinbauten aus dem 19./20. Jh. und seit 1880 eine Straßenbahn.

RUNDFAHRT IN TALLINN UND GANG ÜBER DEN DOMBERG
UND DURCH DIE UNTERSTADT VON TALLINN/REVAL

Rundfahrt:  Die  Fahrt  führt  über  die  große  Narva-Straße  und  die  Kreuzwaldistraße  zu  dem  weiträumigen  Park  mit  Anlagen  des  Katharinentales,  estnisch:  Kadriorg.  Dort  steht auch das repräsentative Barockschloß mit Haupt- und Nebenflügeln, erbaut von Gaetano Chiaveri, der auch die Hofkirche in Dresden erbaute. Außerdem gibt es dort auch zahlreiche Holzhäuser aus dem 19./20. Jh., die  unter  Denkmalsschutz  stehen.  Die  Narva-Straße  wurde  im  Krieg  ziemlich  zerstört.  Dort  waren  viele Industriebauten,  die  nach  und  nach  renoviert  und  dann  einer  anderen  Funktion  als  ehedem  zugeführt werden,  wie  es  z.B.  die  neue  Commerzbank  ist.  In  der  Kreuzwaldistraße  sieht  man  auch  die  neuere  Ar­ chitektur der 20-er und 30-er Jahre.

In  Kadriorg  befindet  sich  u.a.  das  Rundfunkhaus,  das  Parkhotel  mit  Spielkasino,  das  estnische  Fernsehen (Estland  verfügt  über  einen  öffentl.-rechtl.  Sender  und  drei  Privatsender)  sowie  Ministerien  und  das deutsche Gymnasium.

Von  Kadriorggeht  die  Fahrt  zur  Tallinn-Bucht  mit  Badestrand.  Die  chinesische  Botschaft  liegt  am  Wege, am  Meeresufer  das  Russalka,  ein  von  Amandus  Adamson  1902  geschaffenes  Monumentaldenkmal,  das den Untergang des gleichnamigen Kriegsschiffes im Jahre 1893 im Finnischen Meerbusen darstellt.

Weiter geht's zum Sängerstadion bzw. Sängerfestplatz; bekanntlich sind auch die Esten sehr sangesffeudig. In der hohen, weiten Muschel der Bühne haben 30.000 Sänger Platz, die in Chören verschiedener Genese - Kinder-,  Frauen-,  Männer-  und  gemischte  Chöre  -  auftreten.  In  der  ersten  Ausführung  der  Muschel  hatten gerade  mal  1.000  Sänger  Platz.  Das  erste  estnische  Sängerfest  fand  in  Tartu/Dorpat  vom  18.-21.6.  1869 statt.  Das Sängerfest  in Tallinn  1999 war somit  das 130.,  das von rd. 100.000 Zuschauern in zwei Tagen besucht wurde.

Die großen nationalen Sängerfeste, die immer mit der gesungenen Nationalhymne beginnen, finden alle ftinf Jahre  in  Tallinn  statt.  In  der  Zeit  zwischen  diesen  großen  Sängerfesten  finden  im  ganzen  Land  Ausschei­ dungswettkämpfe der Chöre statt, denn nur die besten kommen nach Tallinn. Als Beispiel für die Notwen­ digkeit der Ausscheidungswettkämpfe mag die Tatsache dienen, daß es an einer Schule mehrere Chöre gibt.

Bis  zur  “Wende  in  Estland”  waren  diese  Sängerfeste  fiir  den  ethnischen  Zusammenhalt  der  Esten  unter fremder  Herrschaft  sehr  wichtig  und  nötig.  Nach  der  Wende  begann  in  Estland  eine  Diskussion  über  den Wert  und  die  Weiterführung  der  alle  fünf  Jahre  stattfindenden  nationalen  Sängerfeste  dahin,  ob,  nachdem man die Freiheit nun habe, diese noch nötig seien. Ergebnis: Weitermachen! Nächstes nationales Sängerfest in Tallinn 2004.
Weiter  ging  es  die  Küste  entlang  in  Richtung  NO,  vorbei  an  schönen  Anlagen,  Marienberg,  Treppe  zum Schloß  des  (russ.)  Grafen  Orlowski,  einigen  Denkmalen  zum  Naherholungsort  Pirita,  am  gleichnamigen Fluß dies- und jenseits gelegen.

Man  sieht  die  Ruine  des  Brigittenklosters  in  Pirita,  das  zunächst  gemischtes,  später  reines  Nonnenkloster war.  Es  wurde  Anfang  des  15  Jh.  erbaut  und  die  Ruine  dient  heute  im  Sommer  als  Aufführungsort  von Konzerten  und  Theaterstücken.  Im  20.  Jh.  fanden  dort  Ausgrabungen  statt  die  für  die  Allgemeinheit  offen liegen.

Gleich  daneben  liegt  der  Yachthafen  und  das  Olympische  Dorf,  das  für  die  Segelwettbewerbe  der Olympiade  1980 gebaut  wurde,  die  in Rußland  stattfand  und  wegen des Afghanistan-Krieges, den Rußland 1979  begonnen  hatte,  von  den  USA,  Deutschland  und  Großbritannien  boykottiert  wurde.  -  Vom  Yacht­ hafen  Tallinns  wurden  immer  schon  die  baltischen  Regatten  durchgeführt.  Vorbild  dafür:  die  Kieler-Woche, nur  nicht  so  groß.  Heute  finden  die  Regatten  bereits  mit  breiterer  internationaler  Beteiligung,  auch  deut­ scher,  statt.  -  Das  olympische  Dorf  wird  auch  jetzt  noch  als  Unterkunft  für  Wettkampfteilnehmer  bei größeren  Sportveranstaltungen  genutzt.  An  diese  Stätten  schließt  sich  nach  Osten  der  über  2  km  lange Badestrand Tallinns an. - Wegen der günstigeren klimatischen Bedingun­gen, weil durch natürliche Barrieren geschützt, wird allgemein der westliche Badestrand Estlands mit den vorgelagerten Inseln bevorzugt.

Die  Fahrt  geht  weiter  zum  Hafen.  Dort  wird  ein  mehr  “technischer  Halt” gemacht.  Man  kann  auch  noch  Geld  tauschen.  Täglich  kommen  Tausende Finnen  per  Fähre  wegen  der  in  Estland  günstigen  Einkaufsmöglichkeiten dort  an.  Lebensmittel  und  besonders  Alkohol  sind  von  den  Finnen  begehrt. Beides ist 3 - 4 mal billiger als in Finnland.
Vom Hafen fahren wir zum Dörnberg, dessen schöne Silhouette wir auf der Fahrt bewundern können.

Rundgang Dörnberg

Der Gang beginnt am Schloßplatz. Zunächst berichtet unsere Führerin, daß Tallinn von einer Stadtmauer umgeben war, die im 14 Jh. zu bauen begon- nen wurde, im 16 Jh. sei sie fertiggestellt gewesen. Ursprünglich habe sie 65 Türme gehabt, 35 seien noch in irgendeiner Form da. Die Mauer selbst ist derzeit noch über eine Strecke von 1,85 Km erhalten geblieben. Baltikum-Führer  enthalten  darüber  z.T.  andere  Angaben.  Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  gehört  die  noch erhaltene Mauer mit den Türmen zu den besterhaltenen Befestigungsanlagen in Nordeuropa.

An  der  Alexander-Newski-Kathedrale  geht  es  schnurstracks  vorbei.  Sie  wurde  in  der  Zeit  von  1894  bis 1900  erbaut.  Dann  stehen  wir  vor  dem  Schloßkomplex  Toompea.  Nach  langer,  wechselvoller  Geschichte hat  es  sein  heutiges  Aussehen  gefunden.  Es  war  immer  Verwaltungs-/  Regierungssitz  der  verschiedenen Herrscher und dient auch heute als Regierungssitz; der estnische Staatspräsident residiert in Kadriorg (s.o.) / Katharinental.

In  unmittelbarer  Nähe  zum  Schloß  steht  der  wuchtige  Pikk  Her­ mann  =  langer  Hermann,  der  45  m  hoch  ist.  Auf  ihm  weht  wieder (zuerst bei Ausrufung der ersten Republik am 24. 2. 1918) seit der zweiten  Unabhängigkeit  Estlands  -  20.  8.1991  -  die  blau-schwarz- weiße Landesfahne. Zum Jahrestag der Unabhängigkeit besteigt der Staatspräsident Estlands den Turm.

Der  Dörnberg  war  in  vergangenen  Zeiten  Sitz  des  Adels.  In  der Altstadt/Unterstadt  lebten  Kaufleute,  Handwerker  und  Angehörige anderer Berufe.

Das  Stadtwappen  Tallinns  ist  vom  dänischen  König  gestiftet worden:  drei  blaue  Löwen  auf  goldenem  Grund  in  einem  Eichen­ kranz.

In Tallinn haben über die Zeiten hinweg - gleich unter welcher Herrschaft - die Deutschen „etwas zu sagen gehabt”, sie haben es mit geprägt.

Neben  dem  Schloß  steht  die  Domkirche  aus  dem  13.Jh.,  ursprünglich  spätgotisch.  Sie  wurde  aber  durch spätere  An-  und  Erweiterungsbauten  im  Innern  und  Äußeren  verändert.  In  der  Kirche  befinden  sich Epitaphe angesehener Bürger, u.a. der von A. J. Krusenstem, Admiral in russischen Diensten, der erstmals auf russischen Schiffen die Welt umsegelte und vor rd. 150 Jahren dort begraben wurde.

Außerdem  schmücken  die  Kirche  zahlreiche  Familienwappen  -  aus  Holz  und  bemalt  -,  die  nicht  nur Familien  aus  Tallinn  sondern  darüber  hinaus  aus  ganz  Estland  ,  z.  T.  auch  aus  Livland  gehören.  Die Sammlung umfaßt ca. 150 solcher Wappen. Neben  der  Domkirche  steht  das  Haus  der  estnischen  Ritterschaft  aus  dem  vorvorigen  Jahrhundert,  dessen Inneres im großen unverändert ist.

Von  dort  geht  es  zu  einer  Aussichtsterrasse.  Der  Blick  von ihr  auf  die  Altstadt  und  darüber  hinaus  mit  der  großartigen Stadtsilhouette  ist  „einfach  super”.  Die  Altstadt  steht  unter Denkmalsschutz.   Auffallend   im   Hintergrund   links   die   Ölaikirche (13. Jh.) deren einstiger Turm mit 159 m zu den höch­sten  der  Welt  gehörte.  Nach  Zerstörung  durch  Blitzschlag  im 19.  Jh.  wieder  in  der  alten  Form,  allerdings  nur  mit  124  m hohem Turm, aufgebaut. Danach geht‘s zur Alt-/Unterstadt.

Gang durch die Alt-/Unterstadt

Die  Altstadt  wird  durch  eine  schöne  Gasse,  vorbei  an  der  Residenz  des  deutschen  Botschafters,  erreicht und  zwar  bei  der  Nikolaikirche,  die  im  13  Jh.  für  deutsche  Kaufmannns-  und  Handwerkerfamilien  errichtet wurde.  Dort  befindet  sich  ein  Fragment  des  “Totentanzes”  (Ende  15  Jh.),  das  dem  Lübecker  Meister  Bemt Notke zugeschrieben wird.

Weiter  geht‘s  zur  PIKK  =  Lange  Straße  in  der  früher  die  Kaufmannsund  Handwerkerschaft  Tallinns, vornehmlich  Deutsche,  wohnten.  In  dieser  Straße  befinden  sich  die  Gildehäuser  der  alten  Tallinner Kaufleute  und  Handwerker.  In  der  Straße  stehen  viele  alte  und  repräsentativer  Gebäude.  Zwei  besonders schöne  Jugendstilhäuser  fallen  auf.  Auch  gibt  es  in  der  PIKK  ein  Schwarzhäupterhaus  (Gildehaus  für unverheiratete  Kaufleute)  gegründet  1399.  Das  zweite,  mehr  gibt  es  im  Baltikum  nicht,  steht,  wie  wir sahen, in Riga.

Das  Gebäude  der  Kanutgilde,  die  „feinere  Handwerker“,  meist  aus  deutschen  Landen  stammend,  in  sich vereinte,  ist  mit  Bildern  des  Martin  Luther  und  Kanutus,  den  beiden  Schutzheiligen  dieser  Gilde,  ge­ schmückt.

Die  russische  und  die  schwedische  Botschaft  sind  dort  ebenfalls  in  schönen  alten  Gebäuden  angesiedelt, wie überhaupt die ganze Straße sehenswert ist.

Auf  gleichem  Wege  verlassen  wir  wieder  die  PIKK.  Dabei  wird  auf  “die  schönste  Kirche  Tallinns”  hinge­ wiesen, die Heilig-Geist-Kirche.

Diese  Kirche  wird  1316  erstmals  erwähnt.  Sie  besitzt  einen  wertvollen,  holzgeschnitzten  Hochaltar  -  auch von Notke - aus dem Jahre 1483 und eine sehr schöne Orgel. An ihrer Außenfassade sieht man die älteste buntbemalte Holzuhr Tallinns. Diese Kirche hat für die Esten immer eine bedeutende Rolle gespielt.

Nun  wird  der  Rathausplatz  erreicht,  ein  eindrucksvoller  Platz,  den  viele  schöne,  alte  Häuser  umgeben. Blickpunkt ist natürlich das repräsentative, wuchtige Rathaus mit seinem schlanken Turm aus dem 15. Jhh., noch  stilrein  spätgotisch.  Den  Turm  ziert  eine  Wetterfahne,  die  einen  fahnenschwenkenden  Landsknecht, den  “alten  Thomas”  darstellt.  Im  prächtigen  Bfirgersaal  des  Rathauses  finden  heute  offizielle  Empfänge und daneben auch Konzerte statt.

Auf das Eckhaus zur PIKK wird besonders hingewiesen, weil es das älteste Haus Revals ist, daneben steht die älteste Apotheke (1422) Nordeuropas.

Das  Rathaus  selbst  ist  das  besterhaltene  gotische  Rathaus Nordeuropas.  Auf  dem  Rathausplatz  endete  dann  die  Führung gegen 12.30 Uhr.

Nach  einer  Erfrischung  ging  die  Gruppe  zu  Fuß  zum  Hotel,  um von  dort  um  13.45  Uhr  unsere  letzte  Fahrt  mit  dem  Bus  zum modernen, kleinen Flughafen von Tallinn anzutreten. Die Führe­ rin, die uns tags zuvor durchs Moor führte, begleitete  uns dort­ hin und verabschiedete sich sehr herzlich.

Nach  rd.  einstündigem,  ruhigen  Flug  landen  wir  in  Stockholm,  warten  rd.  21/2  Stunden  und  fliegen  dann mit  der  Lufthansa  nach  Frankfurt,  wo  wir  „ohne  besondere  Vorkommnisse”  planmäßig  landen.  Alle  Rei­ sende bekommen auch ihr Gepäck und können dann den dort wartenden Bus nach Bonn besteigen. Am 12. 7.0.15 Uhr erreichen wir wohlbehalten die Matthäikirche, den Endpunkt der Reise.

Karl-Ludwig Haedge

13. Reisetag, Dienstag 11. Juli

Um  9.00  Uhr  Beginn  der  Besichtigung  von  Tallinn,  der  Hauptstadt  Estlands,  am Finnischen  Meerbusen  gelegen,  mit  seinen  420.000  Einwohnern,  seiner  Größe  von  180 km2,  den  vielen  Parks  und  Grünanlagen.  Über  die  im  Krieg  zerstörte  und  mit  Nachkriegsbauten  versehene  Narwastraße,  vorbei  an dem  Park  von Kadriorg  (Katharinenthal) mit  der  Sommerresidenz  der  Zaren  (Baubeginn  1718  unter  Peter  I.)  geht  es  an  der Tallinner Bucht entlang zur Liederwiese mit der 1960 erbauten Sängerbühne.

Die  Sängerfeste  sind  für  die  Esten  wie  für  das  gesamte  Baltikum  von  entscheidender  Bedeutung  für  das nationale Selbstbewußtsein. 1823 wird der erste Chor gegründet, 1869 findet das erste landesweite Sänger- fest  mit  1000  Teilnehmern  in  Tartu  statt,  nur  von  Männern  und  einem  Blasorchester  bestritten.  1990 bringt das  Sängerfest  30.000  Sänger  und  290.000  Zuhörer  zusammen.  Mit  einem  Festzug  von  der  Stadt  zur Sängeranlage beginnt das jeweilige Fest, so hoffentlich auch 2004. Während in den zurückliegenden Jahren das  Sängerfest  eine  der  wenigen  Möglichkeiten  war,  estnische  Tradition  und  Zusammengehörigkeitsgefühl zu  wahren  und  zu  pflegen,  hat  nach  der  Wende  eine  Werteverschiebung  stattgefunden.  Das  Bestreben,  in die  bis  dahin  verschlossenen  Reiseorte  (insbesondere  Skandinavien  und  Mittelmeerraum)  zu  fahren,  ist  in den Vordergrund getreten. Die Esten durften zwar die gesamte Sowjetunion bereisen, aber nicht ihre eigene Küstenzone mit den ihr vorgelagerten Inseln (militärisches Sperrgebiet) und das nur 80 km entfernt liegende Helsinki.

Der  zweite  Busausstieg  erfolgt  am  Olympischen  Segelzentrum  der Olympischen  Spiele  von  1980,  an  der  Mündung  des  Pirita-Flusses gelegen. Leider erlaubte die kurzbemessene Zeit nur einen Blick aus dem Bus auf das ebenfalls am Fluss Pirita gelegene Kloster der Hei­ ligen  Brigitta,  1407  -  1436  erbaut,  1577  zerstört.  Beeindruckend  ist der  erhalten  gebliebene  Westgiebel  der  einstigen  dreischiffigen Klosterkirche.

Die  Rückfahrt  in  die  Stadt  bot  schöne  Ausblicke  auf  Hafen,  Stadt und  die  Grünanlagen  mit  den  Denkmälern  für  die  Opfer  des 2.Weltkrieges  und  für  das  1893  in  der  Bucht  gesunkene  Kriegs­ schiff  Russalka.  Durch  den  Hafenausbau  können  jetzt  Kreuzfahrt­ schiffe  jeglicher  Größe  in  Tallinn  anlegen.  An  solchen  Tagen  sind die  engen  mittelalterlichen  Straßen  dem  Ansturm  der  Touristen kaum gewachsen und verlieren ihren besonderen Reiz. Mit der Strandpforte  und  der  Dicken  Margarete  erreichen  wir  die  Stadtmauer,  welche  die  Altstadt  umschließt. Mit  dem  1,85  km  langen  originalgetreuem  Mauerwerk  und  den  vielen  noch  erhaltenen  Wehrtürmen vermittelt  sie  ein  anschauliches  und  beeindruckendes  Bild  einer  mittelalterlichen  Stadtbefestigung.  Mit einem  Blick  auf  die  1870  erbaute  ev.-luth.  Karlskirche,  die  Nationalbibliothek  (mit  5  Millionen  Bänden) und die Johanniskirche kommen wir zum Dörnberg und damit zur Altstadt.

Überden  Domberg  als  isolierten  Teil  der  nordbaltischen  Kalkstufe (Glint)  mit  Schloß  und  Langem  Hermann,  der  Domkirche,  der russisch-orthodoxen  Alexander-Newsky-Kathedrale,  der  Dom­ schule  und  dem  Haus  der  Ritterschaft  u.a.  geht  der  Weg  dann weiter in die Unterstadt. Der Domberg mit seinen vielen Holzbauten blieb  von  Bränden  nicht  verschont.  1684  brannte  z.B.  die  Domkir­ che bis auf die Mauern nieder, 1686 begann aber bereits wieder der Gottesdienst.

Früh  beginnt  die  Besiedlung  im  Tallinner  Raum;  der  erste schriftliche  Nachweis  ist  der  Weltkarte  des  arabischen  Geographen Al-Idrisi  zu  entnehmen.  Für  die  aus  dem  sibirischen  Raum  kom­ menden Esten und Finnen mit ihrer Liebe zu Mythen und Legenden ist  die  Herausbildung  des  Domberges  nicht  nüchtern  als  “Kalk­ stufe“  zu  erklären;  für  sie  ist  er  das  Grab  des  Kalev,  von  seiner Witwe  Linda  zusammengetragen.  Den  letzten  Stein,  der  im  See ihrer  Tränen  (Ülemiste  järv)  liegt,  können  wir  später  noch  auf  der  Fahrt  zum  Flugplatz  sehen.  1219  wurde die Estenburg von Dänen erobert; die drei blauen Löwen des Wappens des dänischen Königs Waldemar II., des Eroberers der Stadt, sind noch heute das Wappen von Tallinn und gleichseitig Staatswappen.

Die Burg - das spätere Schloß und heute Sitz der Regierung - nimmt die Südwestecke des Domberges ein mit der imposanten Westmauer und dem erhöhten Bergfried, dem “Langen Hermann“. Auf ihm wird jeden Morgen  um  7.00  Uhr  unter  den  Klängen  der  Nationalhymne  die  Landesfahne gehißt.  Nach  kurzer  Besichtigung  des  Dominneren  mit  Barockkanzel  und  -altar, mit  den  Wappenschilden  balten-deutscher  Adeliger  sowie  bedeutenden  Grabmälem  berühmter  Persönlichkeiten  geht  es  vorbei  an  schön  restaurierten  Adels­
häusern   (meist   Winterhäusem   der   deutschen   Gutsherren)   über   den   kurzen Dörnberg in die Unterstadt. Hier hatten Kaufleute und Handwerker ihr Domizil.

Von dem Aussichtspunkt am Ende der Kohtu bietet sich eine schöne Aussicht auf die Unterstadt. Der Blick geht  über  Türme  und  Ziegeldächer  hinüber  zum  Hafen  in  der  geschützten  Tallinner  Bucht  (stets  ein begehrtes Ziel für das russische Imperium). Zwischen Unterstad t und Domberg erstreckt sich die gegen den Burgberg  gerichtete  innere Stadtmauer  mit  dem  Mägdeturm  und  dem  Kiek  in  de  Kök,  einem  mächtigen Geschützturm.  Diese  innere  Stadtmauer  gilt  als  Zeichen  für  den  häufigen  Zwist  zwischen  der  Macht  auf dem  Domberg  und  den  Kaufleuten  und  Handwerkern  in  der  Unterstadt.  Die  Nikolai-Kirche,  die  heute  ein Museum  ist  und  deren  wertvolles  Inventar  durch  Auslagerung  vor  den  Kriegszerstörungen  gerettet  wurde, war leider geschlossen. So konnten wir den berühmten Altar von Hermen Rode nicht bewundern, dafür aber jeder für sich den von Bernd Notke geschaffenen Flügelaltar in der Heilig-Geist-Kirche.

Die  Freie  Hansestadt  Reval  mit  lübischem  Recht  zeigt  sich  in  der  Unterstadt
u. a. beeindruckend in vielen Gebäuden, die wir zum Teil sehen, konnten:

  • das Haus der Großen Gilde für Kaufleute und Reeder
  • das   Haus   der   Kanutgilde   für   feinere   Handwerker   mit   den   Statuen   von Martin Luther und. des heiligen Kanutus
  • das  Haus  der  Olaigilde  für  die  einfachen  Handwerkerzünfte.  Das  Gebäudeder Olaigilde wurde später mit dem
  • Schwarzhäupterhaus  vereinigt.  Die  Bruderschaft  der  Schwarzhäupter  wurde 1399 gegründet. Sie leitet ihren Namen von dem häufig als Mohr dargestellten  heiligen  Mauritius  ab.  Ihre  Mitglieder  waren  unverheiratete  Kaufleute, die zum Schutz der Stadt verpflichtet wurden. Die verzierte Fassade zeigt u.a. Frauengestalten als Allegorie auf Gerechtigkeit und Frieden.
  • das  stilreine,   spätgotische  Rathaus  auf  dem  großräumigen  Rathaus-Platz. (Der  mühselige  Aufstieg  auf  den  Turm  belohnte  mit  einem  herrlichen  Blick über  Stadt  und  Hafen,  wovon  sich  einige  Mitglieder  unserer  Reisegruppe selbst überzeugt haben.)
  • das   Handwerkerhaus,   die   Ratsapotheke   und   viele   andere   Wohn-   und Kaufmannshäuser.

Sowohl  an  der  Großen  Gilde  als  auch  an  dem  Schwarzhäupterhaus  sind  die Beischläge,  die  der  Hausnummerierung  dienten,  noch  erhalten.  Die  meisten  von
ihnen mussten den späteren Bürgersteige weichen.

Neben  der  prägenden  Gotik  findet  man  auch  Gebäude  der  Renaissance,  des Barock,  des  Klassizismus  und  des  Jugendstils.  Alle  Stile  stehen  nicht  gegen­ einander, sondern vermitteln ein harmonisches Architekturbild. Es ist eine Freude  zu  sehen,  wie  schön  sehr  viele  Gebäude  restauriert  worden  sind.  Wenn  man  auch  schon  vor  der Wende bemüht war, einzelne Gebäude zu erhalten und zu pflegen, wovon wir uns bei einem Besuch 1983 überzeugen konnten, so findet man heute wenige Gebäude, die noch nicht restauriert sind. Damals war es umgekehrt.  11%  der  Altstadt  waren  durch  Kriegseinwirkungen  zerstört,  von  der  gesamten  Stadt  waren  es mehr als 50 %.

In den wenigen Stunden, die uns zur Besichtigung der Stadt zur Verfügung standen, konnten wir nur einen Überblick  über  Tallinn  gewinnen.  So  waren  wir  froh,  die  Morgenstunden  zum  Erleben  dieser  so  schönen Stadt genutzt zu haben.

Elisabeth Hendl