Litauen-Lettland-Estland
Studienreise ins Baltikum zur Zeit der Weißen Nächte 29. Juni -11. Juli 2000
1. Reisetag, Donnerstag 29. Juni
Pünktlich brachen wir mit dem Bus aus Hardert im Westerwald von der Matthäikirche zum Flughafen Frankfurt auf. Eine kurze Andacht, durch zwei Choräle eingerahmt, stimmte uns auf die Fahrt ein. In einer knappen Einführung betonte Herr Becks den Beitrag, den deutsche Siedler über Jahrhunderte bei der Erschließung und dem Aufbau der baltischen Länder geleistet hatten, für manche von uns seien die Erinnerungen an baltendeutsche Vergangenheit noch lebendig. Deutscher Verrat habe aber auch 1939 die jungen baltischen Nationen der Sowjetunion ausgeliefert. Wie öfters bei Reisen ins europäische Ausland, empfand ich als Historiker zwiespältige Gefühle.
Der Abflug erfolgte mit leichter Verspätung. Als wir am späten Vormittag nach einem Flug von 110 Minuten die Wolkendecke bei Vilnius durchbrachen, bot sich ein Blick auf ausgedehnte Wälder, dann einen Fluss - die Vilnius durchfließende Neris - Mietshäuser und Schrebergärten. Die Besiedlung war aufgelok- kert, mit sehr viel Grünflächen durchsetzt. Die Abfertigung durch die Zollbeamten erfolgte zügig, freund lich und unbürokratisch.
Daiva, unsere Betreuerin und Begleiterin in den nächsten Wochen, erwartete uns mit Valentin, dem Busfahrer, am Eingang des Flughafens. Noch auf dem Weg zum Hotel Carolina gab uns die kompetente, sprachlich gewandte und freundliche Daiva erste praktische und historische Informationen: 4 Litai (Mehr zahl von litas) entsprächen 1 DM, ein Bier (0.5 1) koste 8 Litai. Drei Arten von Supermärkten seien zu unterscheiden, Maxima, Media und Minima. Eine Maxima befand sich in unmittelbarer Nähe unseres Hotels und lehrte uns anschaulich, wie groß die Kluft zwischen dem reichen Warenangebot und den schmalen Portemonnaies der Litauer ist.
Drei Legenden - Legenden sind im Baltikum noch lebendig und beliebt - machten uns mit der Gründungs geschichte von Vilnius bekannt: (1) Fürst Gediminas hatte bei einem Jagdausflug einen Traum, in dem ihm ein eiserner Wolf, so laut wie 100 Wölfe heulend, entgegentrat. Des Fürsten Wahrsager erklärten die Erscheinung als Aufforderung zur Gründung einer Stadt, die später weit über ihre Grenzen berühmt werden sollte. (2) Bevor Gediminas jedoch fremde Kaufleute einlud, sich in der Stadt niederzulassen, sollte die Stadt nach dem Wunsche der heidnischen Priester durch ein Menschenopfer geweiht werden. Das aus ersehene Opfer, ein junger Mann, überlistete sie jedoch durch drei Fragen. (3) Die ihn ersetzende junge Frau wurde wundersam durch einen Blumenstrauß gerettet: Legenden mit happy ending - zur Erbauung und Beschwichtigung der Neuankömmlinge.
Ein erster Blick auf das Wahrzeichen der Stadt, den Gediminasturm, aus fahrendem Bus; im Tiergarten viertel sahen wir manch baufälliges Holzhaus. Wir erfuhren auch, daß knapp 60% der Bewohner von Vilnius (Gesamtzahl: 580.000) Litauer sind, 18% Russen und 19% Polen.
Eine Pause von 90 Minuten erlaubte uns, unsere Zimmer zu beziehen, Geld zu wechseln, erste Einkäufe in der Maxima zu machen. Dann erwarteten uns Daiva und Irma, eine Germanistin mittleren Alters, um uns, in Gruppen aufgeteilt, Vilnius zu zeigen.
Noch bei der Anfahrt zur ersten Kirche bereicherte Irma unser Wissen über Vilnius/Wilna:
■ die “drei Perlen“ von Vilnius seien Gotik, Barock und Klassizismus;
■ Vilnius sei in das Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen;
■ der wirtschaftliche Rückgang nach dem Zusammenbruch des Kommunismus (Verlust des russischen Marktes) habe hohe Arbeitslosigkeit hervorgerufen;
■ Vilnius habe seinen Namen vom kleinen Nebenfluss der Neris, der Vilnia.
Unsere Besichtigungstour begann mit der Kirche Sankt Peter und Paul. Von der Magnatenfamilie Pacas in Auftrag gegeben, wurde sie hauptsächlich von italienischen Architekten und Künstlern (Frediani, Peretti, Giovanni Galli) zwischen 1668 und 1704 erbaut und ausgeschmückt. Das Innere ist mit über 2000 Gestalten und Gesichtem in Stuck verziert, blieb aber letztlich unvollendet: ein Großaltar fehlt, einige Reliefs und Panneaus sind unvollständig. Die ‘wunder bare Harmonie“ (Baedeker) und der “überwältigende Eindruck des Innenrau- mes“ (Baedeker, Irma) konnte ich nicht nachempfinden, auf mich wirkte die Kirche kühl und ungemütlich.
In der Nähe der Freilichtbühne, auf dem rechten Ufer der Vilnia besuchten wir den Hügel der Drei Kreuze (Trijy Kryziy), ein stark frequentierter Aussichts punkt, von dem man nach Westen und Südwesten sehr gut die Stadt überblicken kann. Kühle Böen verscheuchten uns aber bald von dort. Die drei Kreuze er innern an drei hier im Mittelalter gekreuzigte Missionare, sind aber auch ein Mahnmal für die 600.000 litauischen Opfer des 2. Weltkrieges und der Sowjetherrschaft.
Die Stanislaw-Kathedrale war unser nächstes Ziel. Der Kathedralenplatz wurde gerade mit einem neuen ebenen Bodenbelag versehen. Rechts vor der Kathedrale steht der 57m hohe Glockenturm, ursprünglich ein Teil der Unterburg. Die Fassade der Kathedrale erinnert mit ihren 20m hohen Säulen und ihrem Giebelfeld an einen griechischen Tempel. Dort, wo seit dem 13. Jahrhundert mehrere Kirchenbauten nachweisbar sind, errichtete zwischen 1783 und 1801 Laurynas Stuola-Gucevicius einen klassizistischen Bau. Ein wertvolles Zeugnis des Frühbarock stellt die Kasimirkapelle (1624-36) in der Südostecke der Kathedrale dar. Sie wurde nach der Heiligsprechung (1602) des wundertätigen Fürsten Kasimir, eines Enkels des litauisch polnischen Königs Jogaila (polnisch Jagieflu), wahrscheinlich von einem Italiener erbaut.
Am Sitz des Präsidenten der Republik Litauen vorbei, dem ehemaligen Bischofspalais, gingen wir durch mehrere Höfe der Universität. Sie wurde 1572 als erste Universität im Baltikum von König Stefan Batory gegründet. 1832 nach der Novemberrevolution in Polen und Litauen wurde sie vom Zaren geschlossen,weil die studentischen Geheimgesellschaften der Philomaten und Philoreten an der Universität aktiv an den Aufständen beteiligt waren. Erst nach dem 1. Weltkrieg konnte sie ihre Tore wieder öffnen. Beein druckend ist die wellenförmige Fassade der barocken Johanneskirche im Großen Hof. Über die Burgstraße (Pilius Gatvö) führte uns der Weg in die schöne Bemhardinerstraße (Bemadinu Gatvć), wo wir in einige interessante Hinterhöfe schauten. Im Haus Nr. 11 wohnte 1822 der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz (Adomas Mickieviöius). Die gotische Perle von Vilnius stellt das Ensemble von Annenkirche, Bemhardinerkirche und ~kloster dar. Großartig mit ihren weißen Blendfen- stem die Renaissancefassade der Bemhardinerkirche (< Bernhard von Clairvaux), die relativ kleine Annenkirche beeindruckt durch ihre kraftvoll aufwärts strebenden und sich kreuzenden Backsteinsäulen und -wülste: sie erweckte bei mir Assoziationen mit Antonio Gaudis Sagra Familia in Barcelona.
Ein Besuch in der südlichen Altstadt rundete unser Besichtigungsprogramm ab: durch das AuSros-Tor (Tor der Morgenröte), unter dessen Bogen viele Männer und Frauen bettelnd standen, ging es in die Altstadt. Auf der Innenseite über dem Torbogen wird ein auf acht Eichenholztafeln gemaltes Muttergottesbild aufbewahrt, das als wundertätig gilt und bei gutem Wetter durch das offene Fenster sichtbar ist. An der Theresienkirche (rechts), dem hübschen spätbarok- ken Basiliustor und der Philharmonie (1906) (beide links) vorbei gelangt man zum klassizistischen Alten Rathaus (wie die Kathedrale von Guceviöius erbaut). Auch die nahe Stikliq Gatvć (Schneidergasse) ist gut restauriert; von ihr zweigt nach links die Judengasse ab. Hier und um die breite Vokieöiq-Straße (Straße der Deutschen) herum befand sich vor dem Kriege das jüdische Wohnviertel von Vilnius: von 65000 dort lebenden Juden, die ein Drittel der Wilnaer Bevölkerung darstellten, sind 63000 von den Nazis umgebracht worden, das Litauische Jerusalem mit seinen über 100 Synagogen war für immer ausgelöscht!
Der Abend klang mit einem gemeinsamen Abendessen aus, eine Pianistin spielte dezent klassische Musik.
Die wichtigsten Eindrücke des Tages:
- Vilnius - eine grüne Stadt;
- es ist seit 1975, also teilweise noch in sowjetischer Zeit, viel restauriert worden; 40% der Altstadt war im Krieg zerstört worden; 238 Architekturdenkmäler zählt die Stadt trotz massiver Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg,
- eine fußgängerfreundliche Stadt (erst wenig Verkehr, Obusse);
- Bettler an Kirchen und Stadttoren weisen auf die Not älterer Menschen hin;
- der Stolz der beiden Begleiterinnen auf ihr junges wiedererstandenes Land;
- die ironische Distanz (Irma) zur sowjetischen Vergangenheit (‘unsere Familie' für die viele Völker vereinnahmende Sowjetunion);
- das Straßenbild wird von vielen jungen Leuten geprägt (Universitätsstadt);
- Daiva besticht durch ihre Beherrschung des Deutschen, das sie in der Schule gelernt hat, insgesamt hat sie nur vier Wochen in Deutschland verbracht!
- die Übersetzung des litauischen Wortes für Deutsche (Vokietes) bedeutet “die Harten“ (Daiva): der Deutschritterorden hat seine Spuren hinterlassen, so scheint es!
Fazit: ein an Eindrücken reicher Tag in der aufstrebenden Kapitale Litauens.
2. Reisetag, Freitag 30. Juni
Wir wollen Vilnius nicht verlassen, ohne zuvor den “Platz der Unabhängigkeit” zu besuchen, der an einer Seite vom Parlamentsgebäude gesäumt wird. Vielen Zeitgenossen werden die Fernsehbilder vom 13. Januar 1991 noch in Erinnerung sein, als die Truppen des sowjetischen Innenministeriums den Femsehturm und das Pressezentrum besetzten und damit drohten, auch das Parlamentsgebäude zu stürmen. Mehr als 100.000 Men schen bewachten damals das Gebäude, um das sie eine massive Betonmauer gezogen hatten. Wir stehen - bei niedergehenden Regenschauern - vor den Resten der Mauer, die zur Erinnerung an die damaligen Geschehnisse erhalten geblieben sind. Kreuze und eine Tafel mit Texten, Namen und Fotografien der in Vilnius ums Leben gekommenen unbewaffneten Bürger fordern den Betrachter dazu auf, den Kampf um die Unabhängigkeit und die Toten nicht zu vergessen.
Wir gehen wenige Schritte hinüber zum großzügig angelegten „Platz der Unabhängigkeit” und schauen auf den prächtigen Springbrunnen und den repräsentativen Gediminas-Prospekt, der von diesem Platz seinen Ausgang nimmt und die Hauptachse der Neustadt bildet. Im Angesicht der mächtigen, dem Parlament gegenüberliegenden Nationalbibliothek hören wir - unter Regenschirmen stehend - von Daiva, welche Bedeutung das alte Ostpreußen für die Verbreitung der litauischen Schriftsprache hatte. Schon der erste Katechismus in litauischer Sprache war 1547 in Ostpreußen gedruckt worden. In den Zeiten der zunehmen den Polonisierung als Folge der Union von Lublin (1569) erschienen im Norden Ostpreußens litauisch sprachige Bibeln und andere Bücher. Als die russische Regierung im Jahre 1864 Bücher in lateinischer Schrift verbot, wurde Tilsit Verlagszentrum für litauische Bücher und Zeitschriften in lateinischer Schrift. Bücherschmuggler brachten die Druckerzeugnisse - oft unter Lebensgefahr - über die Memel nach Litauen. Erst am 7. Mai 1904 wurde das Druckverbot aufgehoben. Heute feiert Litauen den 7. Mai als den „Tag des Buches“.
Auf dem Weg nach Trakai, unserem nächsten Ziel, fahren wir durch den Wald von Paneriai, in dem die deutsche Besatzung 1941 bis 1943 viele Tausend Juden umbrachte. Die Fahrt führt weiter durch den „Nationalpark für Naturschutz und Geschichte, ein Gebiet reich an Wäldern, Wiesen und Seen und an ehemaligen Herrenhäusern litauischer Adliger. Die Landschaft gehört zu Hochlitauen, der größten der vier Regionen des Landes. Hier leben auch die Karäer, eine Minderheit, die der Großfürst Vytautas Ende des 14. Jahrhunderts zwischen Trakai und Kaunas ansiedelte, die ihrem Ursprung nach wohl ein Turkvolk sind und streng nach dem Alten Testament leben.
Als wir Trakai, die frühere Hauptstadt Litauens, erreichen, sehen wir bereits die gotische Wasserburg aus rotem Backstein mit ihren massiven Wehrtürmen auf einer Insel inmitten des von Wäldern umgebenen Galve-Sees liegen. Über eine Holzbrücke gelangen wir auf die Burginsel und betreten durch einen Torturm den großen Hof der mächtigen Anlage. Durch die Vorburg gehen wir über eine Brücke in den Innenhof der Hauptburg, deren einzelne Stockwerke über hölzerne Galerien erreichbar sind.
Daiva erzählt uns die Geschichte der Burg: Sie ist eine Gründung des Vytautas (1350 bis 1430), seit 1392 Großfürst von Litauen und Vetter des zum polnischen König gewählten Jagiełło, der ihm die Herrschaft über Litauen überließ. Vytautas hatte maßgebenden Anteil an der Schlacht bei Tannenberg (1410), in der das vereinigte litauisch-polnische Heer den Deutschen Orden besiegte und damit den Grenzverlauf zwi schen dem litauischen GroßfÜrstentum und dem Ordensgebiet für lange Zeit sicherte. Die Burg steht auf den Grundmauern einer früheren Burg; sie war mit 15 Kanonen bestückt, beherbergte 120 Soldaten und wurde - so Daiva - nie erobert.
Wir gehen durch die einzelnen Räume der Burg: das Schlafgemach des Vytautas mit der Kopie eines Gemäldes der Schlacht von Tannenberg und Portraits des Helden; die Schatzkammer und den ursprünglich mit Fresken bemalten Thronsaal, in dem schon in den alten Zeiten gehobene Lebenskultur gepflegt wurde - laut Daiva gutes und manierliches Essen mit Messer und Gabel. Heute feiert man hier im August ein Burg- Trakai-Festival. Wirsehen eine Ausstellung mit Dokumenten und Gegenständen aus dem 18. Jahrhundert, als der Kreis Trakai unter der Leitung des Fürsten Ogiński stand. Weitere Räume stellen die Zeit der Unterdrückung der Litauer durch das Zarenregime im 19. Jahrhundert dar, ferner die Zeit der Unabhängig keit nach dem ersten Weltkrieg, die Zeit der Zugehörigkeit von Südlitauen und Vilnius zu Polen und schließlich Gegenstände aus den früheren Herrenhäusern der Umgebung.
Die Weiterfahrt nach Kaunas verkürzt uns Daiva mit Ausführungen über die Geschichte Litauens, seine Verfassung, Politik und Geographie, über Probleme der Privatisierung sowie mit dem Atomkraftwerk Ignalina und über die seit 1999 laufenden Verhandlungen mit dem Ziel einer Aufnahme Litauens in die EU.
Mittags erreichen wir bei zwar kühlem, aber zunehmend von der Sonne aufgehelltem Wetter Kaunas und unser im Zentrum der Stadt gelegenes Hotel Neris, benannt nach dem Fluss, der hier in die Memel (Nemu- nas) mündet. Kaunas - im Jahre 1361 als Handelsplatz gegründet - ist die zweitgrößte Stadt Litauens, eine Industriestadt mit 420.000 Einwohnern, mehreren Universitäten, Fachhochschulen, Forschungsinstituten, sechs Theatern und zahlreichen Museen, darunter ein Teufelsmuseum. Laut Daiva beherbergt die Stadt so gut wie keine nationalen Minderheiten. Sie war mehrere Jahre, nämlich in der Zeit der Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen, provisorische Hauptstadt der Republik Litauen.
Am Beginn unseres Nachmittagsprogramms steht ein Besuch des Ćiurlionis-Museums. Das 1936 er richtete Gebäude gilt als Meisterwerk der klassischen Moderne. In ihm sind litauische Kunst und Volks kunst untergebracht, darunter dreihundert Gemälde des litauischen Künstlers Mikalojus Konstantinas Ćiurlionis (1875 bis 1911). Wie uns unsere kunstsachverständige regionale Führerin erzählt, besuchte Ćiurlionis - Komponist und Maler - die Kunstschule des Fürsten Ogiński, die Musikkonservatorien in Warschau und Leipzig und schließlich die Warschauer Kunstakademie. Die letzten Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er in St Petersburg. Zu Lebzeiten nicht anerkannt, machten ihn nach seinem Tode die in Tempera und Pastellfarben gemalten Bilder weltberühmt. Die Bilder mit ihren vielfältigen Meeres- und Waldmotiven stellen - so unsere Führerin - eine Synthese zwischen Musik und Malerei dar und zwingen angesichts ihrer Symbolik zum Nachdenken. Bevor wir die einzelnen Bilder betrachten, hören wir in einem kleinen Konzertsaal ein Musikbeispiel aus Wiurlionis symphonischer Dichtung „MiXke” (=Im Wald).
Unseren Rundgang durch die Altstadt beginnen wir bei der am Ufer der Neris gelegenen Burg, die ihre heutige Gestalt im 16. Jahrhundert erhielt und später durch Überschwemmungen einen Teil ihrer Bauten einbüßte. Wir gehen hinüber zum Rathausplatz, einem der größten Litauens, umsäumt von gotischen Häusern. Der Platz mit seinem Kopfsteinpflaster wird beherrscht vom weiß angestrichenen barocken Rathaus (1771 - 1780) und dessen aus fünf Stockwerken bestehenden Turm. Gegenüber liegen die gotischen Gildehäuser. Das Rathaus, „Weißer Schwan“ genannt, ist bevorzugter Ort für standesamtliche Hochzeiten. - An der östlichen Ecke des Platzes sehen wir die Kathedrale und Pfarrkirche St.-Peter-und-Paul mit ihrem massiven 55m hohen Glockenturm. Sie ist das größte gotische Bauwerk Litauens; im Inneren überwiegen spätbarocke Formen.
Bald darauf stehen wir südlich vom Rathausplatz vor dem in den sechziger Jahren restaurierten Perkunas-Haus (vermutlich 16. Jahrhundert), das als eines der wertvollsten Denkmale der gotischen bürgerlichen Architektur Litauens gilt. Das Haus wurde im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach umgebaut, doch die reich gegliederte Hauptfassade blieb gotisch. Für die Giebelgestaltung verwendete man sechzehn verschiedene Arten von Profilsteinen. Es bleibt umstritten, weshalb das Haus seinen Namen nach dem in der litauischen Mythologie beheimateten Gott des Donners, des Wetters, der Fruchtbarkeit und Hüter des Rechts erhielt; jedenfalls fand man bei Grabungs arbeiten eine bronzene Statue, die Perkunas darstellen soll.
Vom Perkunas-Haus sind es nur wenige Schritte bis zur Vytautas-Kirche, über dem Ufer der Memel gelegen. Um 1400 wohl auf Anordnung des Großfürsten Vytautas erbaut, gehört sie zu den ältesten Kirchen Litauens. - Wir gehen hin unter zur Memel und schauen auf ihr südwestliches Ufer, das infolge der dritten polnischen Teilung im Jahre 1795 an Preußen fiel, während unsere rechte Me melseite zum zaristischen Rußland gehörte.
Wir gehen zurück zum Rathausplatz und werfen dort noch einen kurzen Blick auf die barocke Jesuitenkirche mit ehemaligem Jesuitenkloster und -kolleg (18. Jahrhundert). Hier unterrichtete von 1819 bis 1823 der polnische Dichter Adam Mickiewicz, dessen Hauptwerk “Herr Thaddäus“ zum polnischen Nationalepos wurde. - Nur wenige Schritte trennen uns am Ende unseres Rundgangs von dem Masalskis-Palast. Das 1634 errichtete Haus gehört mit der Trinitatiskirche (ebenfalls 1634) zum Ensemble des Klosters der Bemhardinerinnen. Den Bauauftrag erteilte der in Kaunas ansässige Aristokrat A. Masaiskis. Heute beherbergt das Haus ein Priesterseminar.
Den Abend verbringen wir im rustikalen Restaurant „Zalias Ratas”. An Holz tischen auf langen Bänken sitzend, genießen wir beim heimischen Bier litauische Spezialitäten. Eine Folklore - Gruppe - Akkordeon, Geige, Tuba, Schlagzeug - spielt flotte ländliche Musik, vorwiegend litauischer Provenienz; dazu singt die hübsche Akkordeonspielerin. Herr Hanslik legt zur Freude der Beifall klat schenden Gäste gemeinsam mit einer der jungen Kellnerinnen gekonnt eine rasante Polka aufs Parkett. Damit bricht er das Eis und ermutigt uns, ebenfalls das Tanzbein zu schwingen.
Einige Mitglieder unserer Gruppe beschließen den erlebnisreichen Tag mit einem Bummel durch die trotz der späten Stunde noch recht belebte Laisvćs alćja, die gemeinsam mit der Vilnius gatvd als großzügige Fußgängerzone angelegt ist, laut Daiva die erste in der damaligen Sowjetunion. Die Allee ist mit Linden bepflanzt, wird deshalb auch „Unter den Linden“ genannt und soll sogar länger sein als das Berliner Original, worauf - wie es heißt - die Kaunaser mächtig stolz sind.
Lothar Weber
3. Reisetag, Samstag 1. Juli
Der erste Blick aus dem Hotelfenster läßt hoffen. Jetzt bekommen wir doch besseres Wetter, das wir uns gerade heute für die geplante Fahrt auf der Memel wünschen. Und schon um sieben Uhr hat sieh zu unserem Frühstück ein junger Mann an das Klavier gesetzt, der Tag fängt gut an!
Der Bus bringt uns aus der Innenstadt von Kau nas auf das rechte Memelufer, wo etwas versteckt unterhalb einer betonierten Laderampe die “Rakete“, ein schnelles Tragflächen boot, auf uns wartet. Etwa vier Stunden wird die Fahrt dauern, bis wir flussabwärts das Kurische Haff und dann die Nehrung in Nidden erreichen. Noch einmal Klick mit dem Auslöser: Von fern grüßen die Türme der malerischen Altstadt - ein Panoramablick fehlt nämlich noch -, und das Schiff mit seinen Passagieren muss natürlich auch abgelichtet werden.
Um neun Uhr wird der lautstarke Motor angelassen, es kann losgehen! Die meisten Passagiere haben im geschützten Schiffsinneren Platz genommen, ich will dem Lärm und Wind im offenen Heck trotzen, die Kamera allseits bereit. Gilt es doch, Erinnerungen aus dem Sommer 1995 wachzurufen. Damals sind meine Frau und ich schon einmal auf der Memel gefahren, und zwar von Tilsit aus stromaufwärts in die Gilge hinein, ihren südlichen Mündungsarm. Aber davon später. Erst einmal vertreibt uns die Besatzung ins Bootsinnere. Der niedrige Wasserstand und Sandbänke lassen es wohl ratsam erscheinen, die Lasten mehr in den durch den rasanten Antrieb gehobenen Bug zu bringen. Nicht auszudenken, wenn wir dem Affen zahn ‘mal Grund bekommen würden; dann wären wir die Raketen!
Aber Gebote kann man ja auch zu umgehen versuchen, beispielsweise durch häufige Toilettengänge nach achtem. Das ist das Gute. Das Schlechte ist, daß das Wetter wechselt. Nieselregen kommt auf.
Nach einer halben Stunde das erste nennenswerte Örtchen auf der rechten Seite. Vilkija grüßt mit seiner zweitürmigen, neugotischen Kirche. Im Mittelalter soll es hier eine Zollstation gegeben haben, die alte Handelsstraße von Vilnius nach Königsberg führte durch den Ort.
“Wo die Memel zwischen Weiden, Wäldern und Hügeln fließt“, so wird in meinem Reiseführer der Beginn eines litauischen Gedichtes zitiert. Und wer trotz fehlender Romantik an diesem Tag etwas sehen will, der kann hin und wieder ein Schwanenpaar am Uferrand beobachten. Grau- reiher fliegen auf, Flussseeschwalben kurven um ihre Niststätten, weidende Rinder stieben bei unserem Nahen auseinander. Und ab und zu ein Bagger in der Fahrrinne, der mit Sirenengeheul von der Rakete begrüßt wird. Sonst ist niemand unterwegs an diesem Morgen.
Die Spannung steigt jetzt für mich, denn gleich werden wir hinter Schmallenningken linker Hand die ehemalige Grenze Deutschlands zu Litauen bzw. Rußland, unser Ostpreußen, erreichen. Knapp zwei Stunden sind vergangen, nun taucht der hohe russische Wachtturm am Ufer des Kaliningradskaja Oblast, dem Königsberger Bezirk, auf. Die Memel teilt jetzt das Land. Links wachen die Russen, rechts die Litauer.
Eine Landschaft präsentiert sich je nach Wetterlage ganz unter schiedlich. Düster wirken die Kiefernwälder um Ragnit, aus der maroden Zellstoffabrik fließen schaumige Abwässer in den Fluss. Trostlos auch der Anblick von Tilsit, an dem wir jetzt vorbeidonnem. Vor fünf Jahren wirkte das rauchgeschwärzte Sandsteinportal viel freundlicher, nun ist alles grau.
Zehn Minuten nach Tilsit zweigt die Gilge ab. Im Schiffsinneren sind meine Frau und Bergknechts - Frau Bergknecht stammt aus dem nun links vor uns liegenden alten Kreis Elchniederung - über eine große Karte gebeugt: Ostpreußen im Maßstab 1: 300 000. So
etwas hat man natürlich bei sich, wenn es in die alte Heimat geht. Und dann komme ich mit der Eilmeldung: “Der Kirchturm von Kuckerneese ist in Sicht!“
1928 hatten sich hier der Königsberger Kaufmann Artur Tollkühn und die Bauemtochter Ida Besemer, deren Vorfahren zweihundert Jahre zuvor aus dem Salzburgischen kommend vom Preußenkönig ins Land geholt worden waren, das Ja-Wort gegeben. Einige verblaßte Fotos aus dieser und späterer, unwiederbring- barer Zeit halten in uns das Andenken lebendig; zeigen die Eltern und Großeltern, den Hof, das Blumenkind Hannelore bei der Hochzeit seiner Tante vor der Kirche von Kuckemeese im Jahr 1935.
Als diese Hannelore mit ihrem Man Hans-Peter Geck und Cousine Margitta, 1941 in Neu-Sköpen bei Kuckemeese geboren, hier 1995 auf Spurensuche waren, schrieb ich anschließend in unsere Familien chronik: “Mit Hilfe des Meßtischblattes 0895 / Kuckemeese von 1938 und Hannelores Gedächtnis hatten wir schon vorher die Lage des Hofes Besemer genau lokalisieren können und suchten nun nach ihm. Aber nichts war mehr zu sehen. Wie überall weit und breit hatten spätestens in der Ära Leonid Breschnews die Sowjets alles geschleift, buchstäblich weggeschoben, was an deutsche Bauern hätte erinnern können. Jetzt im Sommer sorgt die Natur für ein blühendes Leichentuch, zwischen blauen Disteln und weißer Kamille ist hie und da noch ein Stück Ziegelstein zu finden.
Zurück in die Gegenwart. Wir halten kurz in Ruß, wo sich das Flussdelta nochmals verzweigt. Bald danach die Windenburger Ecke, eine Halbinsel, auf der einst eine Ordensburg stand. Hermann Sudermann läßt hier in seiner “Reise nach Tilsit" Indre und Ansas vorbeifahren: “Nur drüben die Nehrung steht dunkelrot im Morgenschein..." Stimmt jetzt nicht. Das Haff ist sehr bewegt, kurze Wellen klatschen gegen das Boot. Bei Ankunft in Nidden regnet es in Strömen. Im Eilschritt geht es zur Mittagspause ins Quartier.
Das alte Fischerörtchen Nidden auf der Kurischen Nehrung verbinden wir mit der Hohen Düne zum Haff, mit dem Badestrand der Ostsee, der Künstlerkolonie mit dem Gasthof Blöde als Mittelpunkt und Thomas Mann. Aber erst einmal ist das Gold der Balten dran. Im Gänsemarsch bewegt sich unsere Reisegruppe zu einem kleinen Bemsteinmuseum, das auch sehr ansprechende Verarbeitungsstücke wie Ketten, Broschen und Ringe zum Verkauf bereithält. Aller Augen sind hellwach, eine junge Frau erläutert Entstehung und Eigenschaften des magischen Edelsteins, der hier in vielen Farbnuancen zu bewundern ist. Zum Schluß gibt es noch einen Bemsteinschnaps. Ob sich das auch im Verkaufserfolg niedergeschlagen hat, kann der Protokollführer nicht vermelden.
Der kleine Friedhof gleich neben der ehemals evangelischen Kirche ist nächstes Ziel. Er gibt Auskunft über die Menschen der verschiedenen Kulturen, die hier gelebt haben: Kuren, Deutsche und Litauer. Die Gräber schmücken schöne, aus dicken Brettern geschnitzte Kreuze mit Tier- und Pflanzenomamenten.
Im Stil der Fischerhäuser auf der Nehrung ist auf dem Schwiegermutterberg “Onkel Toms Hütte” gebaut. So nannten die Einheimischen das Refugium, das sich Thomas Mann 1929 über dem Haff errichten ließ. Aber nur drei Sommer konnte die Familie - Thomas mit Katja und sechs Kindern - die Idylle mit “Italien blick” genießen, dann emigrierte sie in die USA.
Das braune, reetgedeckte Haus hat einen neuen Anstrich bekommen und hebt sich freundlich vom regen nassen Kiefemwäldchen, in das es eingebettet ist, ab. Im Innern ist alles liebevoll mit finanzieller Hilfe des litauischen Kulturministeriums und der deutschen Botschaft restauriert. Bücher, Fotos und Zeitungsaus schnitte lassen die Zeit vor siebzig Jahren wieder lebendig erscheinen. Thomas-Mann-Festivals und Lesungen mit litauischen Germanistikstudenten sollen zudem das Vermächtnis des Dichters wachhalten. Aber: “Was vergangen, kehrt nicht wieder.” So jedenfalls scheint es mir mit der Aussicht aus dem ehemali gen Arbeitszimmer des Hausherrn zu sein. Die damals jungen Kiefern sind ansehnliche Bäume geworden und versperren nun den Blick in die Feme. Aber man hat ja Phantasie, es muss hier sehr schön gewesen sein!
Der Abend läßt noch keine Gedanken an Weiße Nächte aufkommen. Die Aktivitäten werden deshalb etwas gebremst. Zur Wahl stehen ein Orgelkonzert von Bach und Liszt mit der Tochter des ehemaligen Präsidenten Landsbergis oder aber einfach ein Regenschirmspaziergang Richtung Hafen, vorbei an schönen Häusern im Niddener Blau. Die Hohe Düne läßt jetzt nicht erkennen, dass sie sechzig Meter hoch ist. Aber morgen soll es ja besser werden.
Übrigens muss Margitta noch einen Kartengruß bekommen. Sie soll ja wissen, dass wir heute den Kirchturm von Kuckemeese gesehen haben!
Hans-Peter Geck
4. Reisetag, Sonntag 2. Juli
Eigentlich waren wir am Sonntag - Morgen schon wieder im Aufbruch, - der gestrige Ankunftstag in Nidden wurde sogleich genutzt zur Besichtigung des Sommerhauses von Thomas Mann auf dem “Schwiegermutterberg“, das jetzt ein Museum ist, - und wir waren dort oben fasziniert von der “unbeschreiblichen Eigenart und Schönheit dieser Natur“ (Zitat Th. Mann) und. des Blickes auf das Künsche Haff.
Heute, am Sonntag, lernten wir gleich in der Frühe etwas Neues kennen, - oder wußten Sie schon, wie köstlich ein Frühstück mit Schmand und Giumse schmeckt? (Statt Glumse gab‘s auch Plinsen!). Von Milch und Sahne gestärkt rüsteten wir zur Busfahrt zur “Düne” oder besser: “zur litauischen Sahara“ am Rande von Nidden im Nationalpark der Nehrung zwischen Ostsee und. Haff. Von hier aus ziehen sich auf der Innenseite Dünenwälle hin, z. T. 70 - 80 m hoch, denen seewärts feuchte und waldbedeckte Niederungen vorgelagert sind. Diese Dünen sind durch Waldvemichtung ins Wandern geraten, haben Siedlungen (z. B. die der sudetendeutschen Flüchtlinge um 1784) überlaufen, sind jetzt aber zum größten Teil festgelegt. Das alte “Meyer‘s Konversations- Lexikon“ von 1888 berichtet von der Bedrohung von Rossitten und von dem “unausgesetzten Vorbewegen der Sanddünen (jährlich etwa um 51/2 m), so daß sie in 300 - 500 Jahren das Haff ausfüllen werden, wenn eine Aufhaltung derselben nicht gelingt.“ Nun, im Sommer 2000, war die Straße zu dem Denkmal neben der Düne von Nidden noch breit und gut befahrbar, die Sonne strahlte vom locker bewölkten Himmel auf Meer und Haff und wir lauschten der Predigt von Pfarrer Becks. Es konnte keine schönere Stelle irgendwo geben: Hier waren Natur und Gott eins! “Gottheit und Menschheit vereinen sich beide, Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!“ (Zitat von Joh.L.K.Allendorf aus dem Losungsheft)
Mag sein, daß ich nicht ganz konzentriert den Worten folgte bzw. mitsang, denn ich wurde von “besorgten“ Mitwissern um meine persönliche “Sendung“ hier auf der Nehrung gemahnt, besser jetzt gleich, hier an Ort und Stelle der auslaufenden Riesendüne mein Säckchen mit weißem Sand zu füllen (“...und, bitte, für mich auch ein Schäufelchen mit!“), denn wer weiß, wie sich die Weiterfahrt über die 120 km lange Wegstrecke Richtung Memel gestaltet... Das war dann beinahe eine kultische Handlung, überwacht und gut geheissen von den “Eingeweihten“.
Wir begegneten der Düne wirklich nicht wieder, sangen für Frau Krauter von der Landschaft und der Andacht noch tiefbewegt die “Geburtstags“-Lieder “Land der dunklen Wälder“ und “Wildgänse rauschen durch die Nacht“, - das bleibt für uns alle in Erinnerung und rührte an manches Vergangene...
Davon möchte ich jetzt berichten, damit Sie verstehen, warum ich Herrn Döpfer bat, mir den Rückblick auf diesen Nehrungs-Vormittag zu überlassen: Dieser 4. Reisetag war mein wichtigster, denn im Sommer 1939 war ich, damals knapp 17 Jahre alt, mit meinen Eltern schon einmal dort. Mein Vater, geboren und viele Jahre gelebt in Helouan bei Kairo, sehnte sich nach der Heimat und beschloss, nachdem im Frühjahr 1939 das Memelland annektiert wurde, als “Ersatz“ in die “litauische Sahara“ zu fahren. Manche in unserer Reisegruppe haben auch Sahara-Sand in den Schuhen gehabt und sie können bestätigen, daß der Dünen sand sehr ähnlich ist. So verstehen Sie auch, was ich zusammen mit meinen Eltern auf der “Suche nach der Heimat“ empfand und in einem Tagebuch auf Pergament damals schrieb:
An einem heißen, ausgetrockneten Mittag machten wir uns auf, am Haffent/ang. Nachdem Vatis Bemühungen, zwei Fischer, die Aalbesteck mit langen Netzen aus dem flachen Wasser zogen, auf dem Film zu verewigen, endlich geglückt waren, fühlten wir uns auch am Ende unserer Kräfte. Durstig panschten wir durch das lauwarme Wasser und verwünschten die Hitze. Da plötzlich fühlten wir eine kalte Stelle, eisiges Wasser rieselte durch den leuchten Send. Eine Quelle - hier in der lautlosen Einsamkeit! Das war etwas für mich: Mit beiden Händen wühlte ich im Sand, doch vergebens - das Loch fiel immer wieder ein. Endlich, als eine kleine Grube kunstgerecht gestützt war, sammelte sich das Quellwasser an, und mit dem Deckel unserer Niveacreme-Büchse schlürften wir abwechselnd das kühle Nass. Erfrischt schieden wir von dieser Oase, und nun begann der Aufstieg’ in die Sandwüste. Weiß wie Schnee, nur viel weicher, rieselte der Sand unter unseren Schritten den steilen Abhang hinunter. Gewiss wer das Klettern hier nicht leicht, denn nur selten fand die Hand einen Halt am Strandgras, aber immer höher stiegen wir In diese neue Welt hinauf. Selbst Vati erkannte hier die afrikanische Wüste wieder mit der heißen Sonne, dem gelblich weißen Sand und den Pyramiden. Ja, auch diese hatte die Natur hier geformt- Steile, hohe Berge ragten auf, mit grotesken Formen, vom Sturm gezeichnet Wir fühlten uns in Vatis Heimat...
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Unsere Busfahrt ging auf einer gepflegten Landstraße durch den Wald rasch vorwärts, am Rande grüßten uns Wildschwein-Familien, Fischreiher und Kormorane flogen aus ihren Nestern, - natürlich schauten wir nach Elchen aus, vergebens. Und deshalb fuge ich dem Bericht wieder einen Ausschnitt aus meinem Tagebuch bei, denn es gibt ihn noch, den Elch mit dem prächtigen Geweih!
"Haben Sie den Elch gesehen? Nein? Na, dann haben Sie aber etwas versäumt!" Aber wir sahen ihn doch noch, ihn, der der Inhalt aller Gespräche war, den Elch. An einem Abend der letzten Woche war er wieder einmal nach vielen Tagen am Haff erschienen. Majestätisch und ruhig riss er die grünen Weidentriebe ab und hielt die neugierige Menge in einem würdigen Abstand von sich ab. Er brauchte nur den Kopf mit dem prächtigen Geweih zu wenden oder sich zwei Schritte zu nähern, so wich alles um das Doppelte zurück. Vati war schon beim zweiten Film, als der Elch sich trollte, über die Dorfstraße in den Wald hinein. Bis dorthin durften wir ihn begleiten, dann setzte er sich aber in Trapp, schüttelte alle Verfolger ab und verschwand in der Dunkelheit.
In Schwarzort gab es einen kurzen Halt, - hübsche bunte Bauernhäuser, eine renovierte Kirche auf dem menschenleeren Platz (vermutlich, weil Gottesdienst war), keine Touristen außer uns, ein Blick auf das Haff, eigentlich auch keine “Erinnerung”, - erst in Memel auf dem Marktplatz mit dem “Ännchen von Tharau” kam sie wieder auf: Es war damals ein Samstag, es war Markt! Und weil wir das Schauspiel diesmal nicht erlebten, füge ich den Bericht von 1939 über “Memel damals“ bei bevor ich die Schilderung des Rundganges durch die Altstadt von Memel und den weiteren Verlauf des Reisetages an Herrn Döpfer weitergebe.
Zuerst mussten wir natürlich Schwarzort einer gründlichen Besichtigung unterziehen, d. h. unsere Neugier war gestillt, denn es gibt dort nicht viel zu sehen. Das ganze Dorf besteht nur aus einer Straße, zieht sich dafür aber über einen Kilometer hin. An dem einen Ende ist die Anlegebrücke, auf der sich alles Leben, auch das sonntägliche, abspielt, am anderen die kleine Fischerkirche. Das Dorf hat einen fremden Einschlag; die Häuser ähneln sehr dem russischen Stil. Wenn die Fischer unter sich sind, dann reden sie alle litauisch. Sie haben aber auch viele Litauer in den deutschen Dienst übernommen. Mit wahrem Heißhunger stürzten sich die Feriengäste auf die Sahne und die Butter, die es in Hülle und Fülle gab. Und dann die Sahnebonbons und die Schokolade! Mir läuft noch jetzt das Wasser im Mund zusammen, wenn ich daran denke! Noch größerer Überfluss war in Memel. Wir fuhren am Sonnabend Morgen mit dem Dampfer von Schwarzort hinüber. Es war gerade Markttag und Bauern und Fischer hatten sich hier zusammengefunden. Auf dem Marktplatz standen immer je zweiWagenreihen mit dem Ende zu einander gekehrt sich gegenüber, und von oben herab verkaufte die Bäuerin ihre Ware. Natürlich ging das nicht ohne Feilschen, Schimpfen und gelegentliches Bemogeln ab (denn die wenigsten konnten richtig rechnen). Da standen Kübel und Fässchen, bis an den Rand mit dicker, gelber Sahne gefüllt, dahinter Wagen neben Wagen mit Eiern; und die Käufer gingen von einem zum anderen und suchten sich die besten heraus, als ob das gar nichts Besonderes wäre. (Aber ab Herbst gibt es auch hier Butterkarten u. s. w.).
Dann kamen wir in eine große Halle: Stand neben Stand, Brote, runde, viereckige, weiße, schwarze, und dann Butter, Butter und Käse. Die Bäuerin hat ein ganz dummes Gesicht gemacht, als wir schüchtern und bescheiden nur ein Viertel Pfund Butter verlangten! Und so ging es weiter, die Hauptstraße entlang. Auf diese Weise lernten wir Memel kennen, Memel, die deutsche Stadt. Auch hier sind die Häuser im russi schen Stil, klein und schmutzig. Oft hört man noch die litauische Sprache. Siglinde Herzog-Heltzel
Rund 10 Minuten benötigte die moderne Autofähre um von Smiltyne / Sandkrug am nördlichen Zipfel der Kurischen Nehrung über das sog. Memeler Tief, Wasserstraße zwischen dem Kurischen Haff im Osten und der Ostsee im Westen, nach Klaipeda / Memel überzusetzen. Der größte Teil unserer Reisegruppe war während der Überfahrt im Bus sitzengeblieben. Der kleinere Teil war ausgestiegen und beobachtete vom Deck des Fährschiffes aus interessiert den Übersetzvorgang. In der Mitte der Fahrrinne begegnete man der Gegenfähre, die von Klaipeda an dieser schmälsten Stelle zur Kurischen Nehrung übersetzte und mit zahlreichen PKW's und Sonntagsausflüglem besetzt war. Sowohl in Richtung Künsches Haff als insbesondere in Westrichtung zur Ostsee hin konnte man eine Reihe von fahrenden Frachtschiffen wahmehmen. Zur Linken, also westwärts in Richtung offenes Meer, konnte man ferner am südlichen Stadtrand von Klaipeda zahlreiche Hafenkräne und Werften mit Schwimmdocks sowie Erdöltanks erkennen, während Richtung Haff die Schornsteine eines Kraftwerks sich erhoben.
Unsere charmante und sehr kompetente Reiseführerin Daiva, die selbst in Klaipeda beheimatet ist, erklärte, daß im Zuge der marktwirtschaftlichen Reformen in Litauen jetzt eine Privatisierung des bis dahin staatli chen Fährschiftbetriebes erfolge.
Klaipeda / Memel wurde im Jahr 1252 vom livländischen Schwertbrilderorden unter dem Deutschmeister Eberhard von Seyne von Kurland aus zunächst als Burg gegründet. Die spätere Stadt, die einst lange Zeit zu Ostpreußen gehörte, ist sogar drei Jahre älter als die ehemals ostpreußische Hauptstadt Königsberg, heute Kaliningrad. Eine Siedlung hat jedoch vermutlich schon vor dieser Zeit an dieser Stelle bestanden (westbaltische Kuren), da das Memeler Tief mit der Dane- / Dange-Mündung einen vorzüglichen und natürlichen Schutzhafen für den damals schon regen Schiffsverkehr bot.
Unsere Stadtführerin in Klaipeda, die wir kurz nach der Ankunft in der Stadt am heute größten und modernsten Hotel “Klaipeda“ an Bord unseres Busses nahmen, stellte sich mit Regina Stephanaos vor. Sie ist Deutschlehrerin, die schon unsere ständige Reiseleiterin Daiva in ihrer Schulzeit auf einem Gymnasium in Klaipeda in diesem Hauptfach mit großem Erfolg unterrichtete. Dem Vernehmen nach ist Daiva eine sehr gelehrige und fleißige Schülerin gewesen, die später dann Volkswirtschaft studierte und promovierte und jetzt beruflich junge Dozentin an der Universität Klaipeda ist
Als wir mit der Stadtführung begannen, war es kurz nach 11.00 Uhr und die sonst so betriebsame Stadt war - da Sonntag - relativ menschenleer, auch der Autoverkehr hielt sich in Grenzen. Auffallend war nur, daß an wichtigen Stellen Polizisten das Straßenbild belebten, die - wie Daiva berichtete - wegen eines am Nachmittag stattfindenden Fußballspiels mit einer englischen Mannschaft aus Sorge vor evtl, auftretenden Hooligans verstärkt patrouillierten.
Klaipeda ist heute mit etwas über 200.000 Einwohner, davon sind über 60% Litauer, die drittgrößte Stadt der baltischen Republik Litauen. Sie liegt an der Mündung der Dane, deutsch Dange in das Kurische Haff bzw. Memel-Tief am Fuß der Memelburg. Diese Burg - so zeigt ein historischer Rückblick - wurde ab 1312 zur Überwachung des Haffeingangs und der Küstenstraße von Preußen nach Livland zu einer der stärksten Befestigungen des Deutschen Ordens ausgebaut und ist bis 1525 Sitz eines Ordenskomturs gewesen. Die unmittelbar neben der Burg entstehende Siedlung erhielt bereits 1257 Lübecker Stadtrecht und wurde zum „Memele castrum“ (Memelburg). 1328 trat der livländische Schwertbrüderorden Memel an den Deutschen Orden ab, die Burg und Siedlung wurde zur nordöstlichsten Stadt des Ordens - und später - Preußenstaates. Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts hatte Memel die zerstörerischen Auswirkungen der wiederholten kriegerischen Auseinandersetzungen des Ordens mit den Litauern zu ertragen (Zielsetzung des Ordens: Christianisierung der letzten heidnischen Völker in Europa). Die Stadt wurde immer wieder zerstört und wieder aufgebaut. Nach der verlorenen Schlacht bei Tannenberg im Jahr 1410 zwischen dem Orden und dem Vereinigten Königreich Polen und Litauen, die den langsamen Niedergang des Ordensstaa tes einleitete, wurde 1422 im Frieden von Melnosee die Grenze des Ordensstaates festgelegt. Ab diesem Zeitpunkt ist die Ostgrenze des späteren Ostpreußen unter Einschluß von Memel zum Russischen Reich bis 1919 unverändert geblieben. Sie war eine der ältesten und beständigsten unter den Landesgrenzen in Europa.
Wichtige Daten in der Stadtgeschichte für Memel waren die Jahre 1474, in dem die Stadt das sog. „Kulmer Recht', das Recht der preußischen Landstädte erhielt, und das Jahr 1541, in dem der erste Schiffbau in Memel durch holländische Einwanderer erfolgte. Im 30-jährigen Krieg erhielt die Stadt für sechs Jahre (1629-35) eine schwedische Besatzung. Im Nordischen Krieg wurde 1678 Memel völlig eingeäschert, der Wiederaufbau dauerte Jahrzehnte. Infolge der Pest waren 1709 - 11 große Bevölkerungsverluste im nordöstlichen Preußen zu beklagen. Durch die preußischen Könige wurde die Entvölkerung mit protestanti schen Religionsflüchtlingen (Hugenotten, Salzburger) und starken Einwanderungen litauischer Bauern ausgeglichen. Während des Siebenjährigen Krieges lag sechs Jahre lang (1756-62) eine russische Besat zung in Memel. Eine deutliche wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung erlebte die Stadt in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Holzausfuhr und die beginnende holzverarbeitende Industrie.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Memel Schauplatz einiger wichtiger historischer Ereignisse: Im Jahr 1802 fand hier das Zusammentreffen des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. mit Zar Alexander I. von Rußland statt. Nach der Besetzung Berlins durch die Truppen Napoleons im Jahr 1807 flohen der preußische Königshof und die Regierung über die Kurische Nehrung nach Memel, das dadurch bis 1808 zur provisorischen Hauptstadt des Königreichs Preußen wurde. König Friedrich Wilhelm m. und seine Gemahlin Königin Luise residierten in dieser Zeit im heute noch erhaltenen alten Rathaus am Dane- Flußufer, an dem unsere Reisegruppe während der Besichtigung vorbeigeführt wurde (Erinnerungstafel). In der damals einzigen von Napoleon nicht besetzten Stadt Preußens entstanden die ersten Ideen, die in die Reformen des preußischen Staates und in die Befreiungskriege einmündeten. Der König erließ dort u. a. die Order zur Abschaffung der Leibeigenschaft in Preußen. 1807 empfing er hier nochmals den Zaren.
Nach einem verheerenden Großbrand 1854, der weite Teile der Stadt zum Opfer fielen, setzte ein zügiger Wiederaufbau ein. Zu dieser Zeit gehörte Memel zum Regierungsbezirk Königsberg. Die weitere Entwick lung Memels innerhalb Preußens und ab 1871 des Deutschen Reiches ist gekennzeichnet durch den Bau der Eisenbahnlinie von Memel nach Tilsit (1875), die Entwicklung eines bedeutenden Segelschiffbaus sowie einer Reederei, die Errichtung des Fischereihafens (1900) und der Aufbau weiterer Industriebetriebe.
Nach der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg trennten die Siegermächte 1919 Memel und das sog. Memelgebiet (Landkreis Memel, Heydekrug und Pogegen) von Deutschland ab. Durch den Versailler Vertrag wurde das Gebiet zunächst unter Völkerbundsmandat gestellt bis im Februar 1920 Frankreich die Verwaltung übernahm (Französische Besatzung bis Januar 1923). Auch die Republik Litauen, die am 16. Februar 1918 die Selbständigkeit wiederherstellen konnte, erhob Ansprüche auf Memel. Als diese ohne Erfolg blieben, besetzten litauische Freischärler Mitte Januar 1923 das Gebiet und erreichten den Abzug der Franzosen. Nach langwierigen Verhandlungen durch den Völkerbund wurde im Frühjahr 1924 in Paris eine Konvention unterzeichnet, das sog. „Memelstatut“, das die Übergabe des Memelgebietes an Litauen beinhaltete. Die Stadt wurde nun als Zentrum der autonomen Region von Klaipeda Bestandteil Litauens. Bereits 1923 setzte ein Volkstumskampf ein (Litauen verhängt am 17.12. 1926 im Memelgebiet den Belagerungszustand), der sich mit Unterbrechungen bis 1938 hinzieht. Die Nationalsozialisten betrieben nach der Machtergreifung in Deutschland den Anschluß des Gebietes an das Reich. Einem deutschen Ultimatum gab die litauische Regierung schließlich nach. Aufgrund eines Staatsvertrages gab sie am 23.März 1939 Klaipeda - nunmehr wieder Memel - und die Region an Deutschland zurück. Das Memel gebiet wurde wieder der Provinz Ostpreußen eingegliedert. Litauen erhielt in Memel eine Freihafenzone. Im vorletzten Jahr des 2. Weltkrieges 1944 hatte Memel, so berichtete unsere Stadtführerin Regina, etwa 50.000 Einwohner, davon seien ca. 60% Deutsche und 40% Litauer gewesen. Bis Ende Januar 1945 wurden beim Vordringen der Roten Armee zwischen 60-70% der Stadt zerstört; insbesondere durch wochenlangen Artilleriebeschuß, es blieben fast keine Einwohner mehr dort. Über 90% der Memeldeut- schen waren schon im Winter 1944/45 vor dem russischen Sturmangriff geflohen. Klaipeda und die Region wurden wieder litauisch, nun aber im Verband der UdSSR (Litauische Sowjetrepublik LTSSR ab 7.4. 1948-März 1990). Nach der Perestrojka und dem Beginn des Zerfalls der Sowjetunion wurde am II. März 1990 die Unabhängigkeit der wiedererstandenen Republik Litauen erklärt.
Während unserer Rundfahrt bzw. anschließenden Rundgang durch die relativ kleine Altstadt von Klaipeda, die im Norden von der Dane, im Westen vom Memeler Tief und im Osten und Süden von Resten der städtischen Schutzwällen umgeben ist, nannten zuerst Daiva später auch Regina weitere interessante Fakten über die jüngste Entwicklung und auch Vergangenheit der Stadt. (Aus zahlenmäßigen Gründen hatte sich unsere Reisegesellschaft beim Spaziergang in zwei Gruppen geteilt). So erfuhren wir, daß in der un mittelbaren Nachkriegszeit im Stadtgebiet- von den Sowjets befohlen - sechs Kirchen vollständig zerstört und abgetragen wurden. Heute schmückt erst ein Kirchturm wieder die Stadt, der katholischen Friedenskir- che. Zwei weitere Kirchen befinden sich zur Zeit im Aufbau. Aus der eher gemütlichen mittelgroßen Stadt der Vorkriegszeit ist im Laufe der letzten Jahrzehnte eine moderne große Hafen- und Industriestadt geworden. Klaipeda ist heute der einzige große Hafen Litauens und mit einem großen Terminal für Fähr schiffe, insbesondere einer Eisenbahnfähre nach Mukran auf der Insel Rügen, ausgestattet. Diese moderne Verkehrsverbindung stellte ab 1986 für die Sowjets eine störungsfreie Nabelschnur zur ehern. DDR dar. Nach der Loslösung Litauens aus der Ex-Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands Anfang der 90-iger Jahre steht fest: Der Hafen von Klaipeda als Litauens Tor zur Welt kann zum wichtigen Aktivposten im deutsch-litauischen Direktverkehr und Außenhandel werden. Übrigens ist Klaipeda auch Heimatbasis der Fischfangflotte Litauens. Auch die Industrie von Klaipeda ist eng mit dem Meer verbun den: Drei Reparaturwerften, die Schiffsbauwerft „Baltija“ (Fischereischiffe und Schwimmdocks) sowie ein fischverarbeitender Betrieb sind die wichtigsten Arbeitgeber. Außerdem gibt es hier verschiedene Zweige der Nahrungsmittelindustrie, Textilbetriebe, die traditionelle holzverarbeitende Industrie ( Papier und Möbel) u. a. m. Der wichtige Industriestandort Klaipeda erzielt heute ein großes Steueraufkommen und ist deshalb von besonderer Bedeutung für den Staat Litauen. Die Arbeitslosigkeit ist heute in Klaipeda mit nur 3,8% außerordentlich niedrig.
Wir überquerten den Dane-Fluss. Der alte Stadtkern, der von den Zerstörungen des 2. Weltkrieges besonders betroffen war, zeichnet sich durch die planmäßige Anlage in Meinen, rechteckigen Vierteln und geraden schmalen Straßen aus. Handel und Gewerbe bestimmten Architektur und Struktur. Neben Wohn häusern - oft aus Fachwerk - finden sich viele Lagerhäuser (Speicher), Kontore und Werkstätten. Bauten der Gotik und Renaissance sucht man vergeblich. Regina wies daraufhin, daß die Altstadt als Kulturdenk mal seit einiger Zeit unter Schutz steht. Das Kopfsteinpflaster über das wir gingen, sei mehr als zwei hundert Jahre alt. Im 17. Jahrhundert wären viele Holzhäuser errichtet worden, die vielfach der letzten großen Brandkatastrophe von 1854 zum Opfer fielen. Die bereits seit 1971 begonnene Rekonstruktion der Altstadt wird heute verstärkt fortgesetzt. Jetzt privatisiert man wieder Häuser (etagenweise). Zahlreiche Bauten stehen nun unter Denkmalschutz.
Unsere Gruppe betrat den Theaterplatz, den ehemaligen Marktplatz der Stadt. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts war mit der Gestaltung dieses Platzes begonnen worden. Schon vor 180 Jahren errichtete man hier ein Theaterhaus im Stil der Neorenaissance, das jedoch bei der Brandkatastrophe von 1854 ausbrannte und neu erbaut werden musste. Das Stadttheater wurde in jüngster Zeit renoviert und erhielt einen Anbau, der den Platz nun zu einem geschlossenen Altstadtbereich macht. Es beherbergt heute das „Litauische Schauspielhaus“, das - wie Regina erklärte - sehr modern eingerichtet sei und in der Mitte eine Drehbühne habe. In der Mitte des dreieckigen Hauptsims des Theatergebäudes und über dem großen Theaterbalkon, auf dem Adolf Hitler am 23. März 1939 seine “Anschlußrede“ hielt, konnten wir das alte Memeler Stadt wappen erkennen, das über die Jahrhunderte immer gleich geblieben ist. Es zeigt eine mittelalterliche Burganlage, links und rechts flankiert von zwei Wehr-Türmen. Das Boot im unteren Teil symbolisiert den Fährbetrieb zwischen der Kurischen Nehrung und der Burg. Zwei Kinderfiguren halten das Wappen.
Mittelpunkt und Hauptattraktion des Theaterplatzes ist der Simon-Dach-Brunnen, ursprünglich 1912 aufgestellt und mit einer großen Feier eingeweiht. Das Denkmal ehrt den 1605 in Memel geborenen und 1659 in Königsberg verstorbenen Professor für Poesie und evangelischen Liederdichter Simon Dach, dessen berühmtestes Werk das allseits bekannte Lied vom „Ännchen von Tharau“ ist, mit einem Relief. Die Bronzefigur von Ännchen, ein Wahrzeichen der Stadt, krönt den Brunnen. Die erste Zeile des Liedes ist zu ihren Füßen eingemeißelt. Als wir uns dem Brunnen näherten, spielte dort gerade ein Ziehharmonikaspieler die uns allen vertraute Melodie des Ännchen von Tharau und sang dazu in deutscher Sprache. Wie wir erfuhren, war die ursprünglich von Bildhauer Alfred Künne (Berlin) geschaffene Figur im 2. Weltkrieg verloren gegangen. Die Anregung von Heinz Radziwiłł, einem deutschen Reiseleiter in den 80-iger Jahren, den Simon-Dach-Brunnen am Theaterplatz wiederherzustellen, war in Klaipeda zuerst skeptisch zur Kenntnis genommen worden, dann interessiert verfolgt und schließlich engagiert - im positiven Sinn - diskutiert worden. In der Bundesrepublik wurde 1987 auf Initiative von Radziwiłł eine ,Ännchen-von- Tharau-Gesellschaft* gegründet, die sofort begann Gelder für die Wiederherstellung zu sammeln. Es gelang sogar, eine Kopie der Skulptur von Ännchen ausfindig zu machen, die eine authentische Nachbildung gestattete. Der Berliner Bildhauer Arnold Haacke goß daraufhin ein neues Standbild. Klaipeda hatte damals - noch zur Sowjetzeit- einen „vernünftigen Bürgermeister“, so Regina (Litauer, kunstfreundlich, er leitete ca. 20 Jahre die Geschicke der Stadt, ist später an Krebs gestorben), der die Zustimmung zur Realisierung dieses damals noch ungewöhnlichen Projektes durchsetzte. Das „Ännchen von Tharau II“- ein Symbol der Liebe- wurde auf dem Seeweg von Deutschland nach Klaipeda gebracht. Es war das erste rein deutsch restaurierte Denkmal im Baltikum, - in der Ex-Sowjetunion - eine vor wenigen Jahren noch undenkbare kulturelle Öffnung, die dies möglich machte. Anläßlich der Denkmals-Einweihung des neuen Simon-Dach- Brunnens mit der Büste des Ännchen von Tharau fand Mitte November 1989 auf dem Theaterplatz ein großes Fest statt. Nach den schweren Wunden, die die nationalsozialistische und kommunistische Diktatur unter Hitler und Stalin in beiden Ländern geschlagen haben, war dies ein symbolträchtiger Akt für die neue deutsch-litauische Freundschaft. Bei der Fortsetzung unseres Rundganges sahen wir in der alten Fischer straße einige restaurierte Speicherhäuser, die ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert stammten. Wir gingen anschließend in das historische Handwerkerviertel hinein, das aus drei parallel verlaufenden Straßen besteht, nämlich die frühere Schmiede-, Schuster- und Bäckerstraße. Letztere weist die größten Häuser auf. Regina berichtete, daß nach dem Krieg und seinen Zerstörungen hier zunächst sehr arme Familien mit vielen Kindern angesiedelt wurden. Viele meist einstöckige Häuser sind - jetzt nach der Privatisierung - wieder restauriert und farbenfroh verputzt worden. In ihnen befinden sich neben Wohnungen, Geschäfte, Werkstätten, Kneipen und Büros. In einem der Häuser der ehemaligen Schmiedestraße würden jetzt abends die besten Jazzspieler auflreten, teilte sie uns mit. Auf einem kleinen Platz erblickten wir ein modernes Denkmal eines einheimischen Bildhauers in Form eines hohen quadratischen Ofens, auf dem ein Drachen - in Richtung Osten blickend - liegt. Das Denkmal, das auf der einen Seite das Bildnis Marieichens als Friedensfigur aufweist, soll die Geschichte des Landes symbolisieren: Litauen, das noch immer vom Nachbarn im Osten bedroht wird. Wir erreichten dann die alte Marktstraße, eine auf beiden Seiten mit Bäu men bewachsene breite Straße, an deren nördlichen Ende einst die völlig zerstörte evangelische Johanniskir- che stand. Nur das alte Pfarrhaus sei noch vorhanden, in dem jeden Sonntag jetzt Gottesdienste abgehalten würden, so berichtete Regina. In diesem Zusammenhang bemerkte sie, daß heute 90% der Litauer sich zum katholischen Glauben bekennen würden. An einem größeren Eckgebäude der alten Marktstraße, das immer als Bankhaus diente und heute die „Industrijos Bankas” (Litauische Industriebank) beherbergt, konnte man in den Eisengitterstäben vor den großen Fenstern im Erdgeschoß Reste der alten Initialen der Deutschen Bank erkennen. Bevor wir zum Theaterplatz zurückkehrten, wo der Bus auf uns wartete, zeigte uns Regina in der alten Hohen Straße (heute Aukstoji genannt) eines der ältesten, besonders schön restaurierten Gebäude der Stadt, das älteste Postamt von Memel mit einem schmalen Giebel. In dieser Straße befindet sich auch einer der markantesten Fachwerkbauten der Altstadt, ein mehrstöckiger Speicher, der nach der Rekonstruktion für Ausstellungszwecke ausgebaut wurde. Nachdem wir Regina zum Hotel “Klaipeda“ zurückgebracht und mit Dank für ihre interessante Stadtführung verabschiedet hatten, setzten wir - nach kurzer Erfrischungspause - die Weiteneise fort. Wir fuhren nun durch das eigentliche Stadtzentrum in der Neustadt über den Viltis-Platz (Platz der Hoffnung), an dessen Ostseite das in den 60-iger Jahren erbaute Kulturhaus mit dem darin befindlichen Musiktheater steht. Wir passierten in der Lindenstraße (heute Liepu gatve) zunächst das Uhrenmuseum im neoklassizistischen Stil auf dessen Grundstock einst das Haus der Familie Argelander stand. (Anm: Der spätere berühmte Astronom Friedrich Wilhelm August Argelander - Sohn - wurde im März 1799 in Memel geboren. Er siedelte später nach Bonn über, wo er als Astronom 1852-61 die sog.,Bonner Durchmusterung“ einführte, einen Stemenkatalog von mehr als 324.000 Sternen. Er starb in Bonn am 17.2.1875). Einer der markantesten Bauten der Neustadt befindet sich direkt neben diesem Museum, nämlich das Hauptpostamt der Stadt - ein im neogotischen Stil gehaltener roter Backsteinbau - mit einem 42 m hohen Turm, von dem zu jedem Stundenschlag ein Glockenspiel ertönt, drunter auch die Melodie des ,Ännchens von Tharau“. Wie Daiva erzählte, wurde der Entwurf des im Jahre 1893 errichteten Hauptpostamts vom damaligen preußischen König selbst gefertigt.
In rascher Folge machte uns Daiva beim Vorbeifahren auf eine Reihe von bemerkenswerten Denkmälern, Gebäuden und Anlagen aufmerksam: So das Denkmal des litauischen Klassikers Kristijonas Donelaitis, der als erster Dichter in der Literatur Litauens rangiert, das Jugendstilgebäude des früheren Mädchenlyzeums (heute staatliches Konservatorium) sowie ein russisches Ehrenmal in einer Anlage, in der etwa 500 Soldaten bestattet sind. Wir fuhren dann am ehemaligen Städtischen Friedhof vorbei, der nach dem 2. Weltkrieg eingeebnet und zu einem großen Skulpturenpark in dem mehr als hundert Werke litauischer Bild hauer aufgestellt sind, umgewandelt wurde. Daiva wies daraufhin, daß in diesem Park jetzt sogar einige alte Grabstätten - soweit bekannt - wieder hergerichtet worden sind. Unweit des Bahnhofs, der aus zwei Teilen besteht (alter Teil aus gelben Bauziegeln, neuer Teil aus Betonteilen), der Klaipeda mit Linien nach Kaunas, Vilnius, Riga, St. Petersburg u. a. m verbindet, erblickten wir einen massiven Bau im neogotischen Stil (ehemalige Aufbauschule), in dem heute ein Pädagogisches Institut (Lehrerseminar mit sechs Fakultäten und ca. 5.000 Studenten) untergebracht ist. Auf der Hauptausfallstraße von Klaipeda nach Libau/Liepaja kamen wir dann auf der rechten Seite an einem großen Gebäudekomplex vorbei, der eine sehr wechsel volle Geschichte hat: ursprünglich eine deutsche Kaserne, dann von der Sowjet-Armee genutzt, ist jetzt - neu renoviert - der Sitz der Universität Klaipeda. Ein Stück weiter auf der linken Seite befindet sich ein deutscher Soldatenfriedhof aus dem 1. Weltkrieg, der zur Sowjetzeit eingeebnet wurde und in jüngster Zeit vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge wiederhergerichtet wurde. Bevor wir die Außenbezirke Klaipedas verließen, sahen wir auf der linken Seite einige größere Krankenhausbauten, von denen das modernste in der Mitte liegt und in der Sowjetzeit ausschließlich für die Behandlung und Heilung von Seeleuten bestimmt war.
Auf Anregung von Frau Becks wurde quasi als Abschiedsgruß unseres Besuchs in Memel/Klaipeda das berühmte Lied des ostpreußischen Dichter Simon Dach „Ännchen von Tharau“ gesungen. (Übrigens war dieses Lied ursprünglich in niederdeutscher Sprache von Simon Dach in siebzehn Versen verfaßt worden. Johann Gottfried Herder war es, der den Text ins Hochdeutsche übertragen hat.)
Unser nächstes Fahrtziel war der ca. 30 km nördlich von Klaipeda liegende größte und beliebteste Badeort Litauens Palanga (deutsch Polangen). In zügiger Fahrt durchfuhren wir zunächst den nördlichsten Zipfel des früheren Memelgebietes. Daiva erinnerte daran, daß früher 18 km nördlich von Memel an der Ostsee das nördlichste Dorf Deutschland mit dem Namen „Nimmersatt“ lag. Es habe eine Redewendung gegeben: “Nimmersatt, wo das Deutsche Reich ein Ende hat!“ Unweit davon verlief mehrere hundert Jahre die Grenze zwischen dem Deutschen und dem Russischen Reich.
In historischen Schriften sei Palanga schon früh erwähnt worden, berichtete Daiva weiter. Danach habe dort bereits im 11. Jhdt. eine Festung und eine kleine Siedlung (Baltenstamm der Kuren) bestanden. Damals wurde dort schon mit Bernstein gehandelt Im 17. Jahrhundert ist Palanga zu einer wichtigen Hafen- und Handelsstadt geworden, es war lange Zeit der einzige Seehafen Litauens. Im Nordischen Krieg (1701) hatten jedoch die Schweden den Hafen zerstört. Nach der Aufteilung von Litauen und Polen im Jahr 1793 (2. Polnische Teilung) kam Palanga, das zwei Jahre zuvor das Magdeburger Stadtrecht erhielt, unter russi sche Herrschaft. Größere Bedeutung gewann Palanga wieder Anfang des 19. Jahrhunderts als das Baden und Kuren in Mode kam. Graf Tiskevicius kaufte 1824 die ganze Stadt auf und ließ sie zum Badeort umbauen. Eine Seebrücke aus Holz wurde angelegt, die sich über hundert Meter weit ins Meer erstreckte und bei den Badegästen als beliebte Promenade galt Wegen Baufälligkeit musste sie 1992 geschlossen werden. Auf starken Betonstützen entstand 1998 eine neue Seebrücke, die breiter und länger (470 m) als die alte ist. Wir bekamen bei unserem mehrstündigen Aufenthalt in Palanga die Gelegenheit diese See brücke selbst in Augenschein zu nehmen.
Als wir uns Palanga näherten, eine Stadt mit heute ca. 20 000 Einwohnern, konnten wir den Turm der neugotischen Kirche der Himmelfahrt Mariens ausmachen, die - wie Daiva berichtete - 1907 von dem deutsch-baltischen Architekten Schrandmann erbaut wurde (Kirche: Schenkung des Grafen). Wir sahen, daß im Zentrum von Palanga die meisten Gebäude schöne alte Holzvillen sind. Unser Bus parkte in der Nähe des Eingangs zum Botanischen Garten. Jeder konnte die verspätete Mittagspause zunächst nutzen, um sich zu verköstigen und den Bade- und Kurort individuell zu erkunden. Mehrere unserer Gruppe ent schlossen sich bis zur Seebrücke zu gehen. Viele Kaffeehäuser, Restaurants, Diskotheken, Klubs u. a. m. säumen die schöne Basanaviciaus-Allee, die durch das Zentrum der Stadt zur Seebrücke und zum Ostsee strand führt. Scharen von Menschen und Familien mit Kindern bevölkerten an diesem Sonntagnachmittag die Straße. An einer Ecke - kurz vor dem Strand- konnte man eine moderne Skulptur „Juratę und Kastytis“ (1959 von dem litauischen Künstler N. Gaigulte geschaffen) erblicken. Sie erinnert an die schöne altli- tauische Sage, die uns später beim Besuch des Bemsteinmuseums erzählt wurde, von der großen Liebe zwischen der Meeresgöttin Juratę und dem einfachen Fischer Kastytis, über die sich Göttervater Perkunas so erzürnte, daß er das Bemsteinschloß seiner Tochter zertrümmert. Die Bruchstücke und die verflossenen Tränen Jurates um den Geliebten werden noch heute an die Ostseestrände gespült - der Bernstein.
Wir sahen, daß der kilometerlange Sandstrand, der von der Stadt durch einen schmalen Kiefernwald getrennt ist, sehr gut besucht war. Daiva berichtete, daß nach dem Wiederaufbau des Kurortes Ende der achtziger Jahre Palanga zum bedeutendsten Seebad der Sowjetunion wurde (über '/2 Million Kurgäste pro
Jahr). Nach der Wende sind einige neue Hotels gebaut worden. Man hat weitete Mineralwasserquellen erschlossen. Palanga erfreut sich heute auch als Luftkurort wachsender Beliebtheit. Inzwischen ist ein stärkerer Zustrom von Gästen aus westlichen Ländern zu beobachten.
Unsere Reisegruppe versammelte sich um 14.45 Uhr wieder, um gemeinsam das mitten im Botanischen Park von Palanga liegende Bernsteinmuseum zu besuchen. Der große Park mit seinen Blumenanlagen und Gewächshäusern, der zu den schönsten in Litauen zählt, wurde von dem namhaften französischen Land schaftsarchitekten Edouard Andre1 (1840-1911) entworfen und angelegt. Über zweihundert Pflanzenarten,
ein Rosarium mit 80 Rosenarten, mehrere Teiche und Springbrunnen erfreuen den Spaziergänger. Am Eingang des Parks gingen wir an einer modernen Skulptur „Egle, die Nattemkönigin“ vorbei. Im Zentrum des Botanischen Gartens erblickten wir ein Schloß im Neorenaissance-Stil, das der Graf Feliksas Tiskevici- us (1865-1932) zwischen 1897 und 1902 nach Entwürfen des deutschen Architekten Franz Schwechten erbauen ließ. Im Jahr 1963, so erzählte unsere Museumsführerin ist das ehemalige Schloß in ein Bem- steinmuseum umgewandelt worden. Das Museum, die besondere Attraktion von Palanga, ist aus der umfangreiche Privatsammlung von Bernstein des Grafen hervorgegangen. Es hat heute fast 25000 Stücke im Fundus, deren schönste - ca. 4.500 Exponate - in zwei Abteilungen über die natürliche Entstehung des Bernsteins und seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte in fünfzehn thematisch geordneten Sälen ausgestellt sind. Wir wurden hier nicht nur mit der Entstehung des Bernsteins (er ist fossiles Harz von riesigen Kiefern, die es heute nicht mehr gibt, zwischen 55 - 40 Millionen Jahre alt), sondern auch mit seiner Verarbeitung und Verwendung sowie seinen morphologische Abarten vertraut gemacht. Die Sammlung enthält u. a. siebzig Stücke Rohbemstein - das größte wiegt 3.698 Gramm - und ca. 15.000 Inklusen (Bernsteineinschlüsse). Die wertvollsten Inklusen - Tausendfüßler, Eidechsen - es gibt hier nur drei davon auf der Weit -, Ameisen, Mücken, Fliegen, Spinnen, Insekten aller Art - sind hier ausgestellt. Pflanzliche Einschlüsse sind dagegen sehr selten (nur 0,3 %) zu finden, lange Kiefemnadeln haben lediglich Löcher im Harz hinterlassen. Außerdem findet man Beispiele fossilen Harzes aus anderen Erdregionen, prähistorischen Schmuck und wunderschöne Schmuckstücke und Gegenstände aus verschiedenen Kulture- pochen sowie Bearbeitungswerkzeuge. Seit dem 17. Jahrhundert gab es in Palanga Bemsteinwerkstätten, die den Rohbemstein geschliffen haben.
Vor den schönen Blumenbeeten vor dem Museum befindet sich ein neues Christus-Denkmal des Bildhauers Zirgules (altes war in der Sowjetzeit beseitigt worden). Wir sahen, daß in seinem Sockel das Bibelwort “Christus spricht: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28) zu lesen war. Zufällig war dies der Wochenspruch für den 2. Sonntag nach Trinitatis (2.7.2000), genau der Tag, an dem wir Palanga
besuchten.
Um 16.45 Uhr traten wir die Weiterfahrt nach Liepaja/Libau in Lettland, unserem Tagesziel an. Einige Kilometer nördlich der Stadt passierten wir dann den kleinen Flughafen von Palanga, der von Klein flugzeugen aus Berlin, Hamburg, Stockholm und weiteren Städten des In- und Auslands angeflogen wird. Kurz vor der Grenze befindet sich in der Nähe von Butinge ein Erdölterminal mit größeren Weiterverarbeitungs- und Verladekapazitäten. Er wurde in den letzten Jahren errichtet und soll weiter ausgebaut werden. Daiva berichtete, daß die US-Gesellschaft Williams International sich hier investitions mäßig stark engagiert habe. Es sei allerdings ein für die litauische Seite ungünstiger Kaufvertrag abge schlossen worden, der die jetzige litauische Regierung, insbesondere den amtierenden Ministerpräsidenten, in Schwierigkeiten gebracht hätte. Wegen der Grenznähe und von den Raffinerien ausgehenden möglichen Gefahren für die Umwelt seien auch mit Lettland zeitweise Streitigkeiten (Einwendungen der dortigen Grünen Partei) aufgekommen.
Kurz nach 17.00 Uhr erreichten wir die litauisch-lettische Grenze. Hier gibt es noch keine gemeinsame Grenzstation mit Lettland. Dementsprechend lange dauerten auch die Grenzformalitäten (ca. 1 'A Stunden). Wir hatten jetzt noch 53 km bis Liepaja zu fahren. Daiva nutzte die Zeit, uns einiges Grundsätzliches über Lettland, das zweite Land des Baltikums, das wir besuchten, mitzuteilen. Lettland, das mit ca. 64 600 qkm Fläche fast so groß wie die Litauens ist zählt gegenwärtig nur etwas mehr als 2,4 Mio. Einwohner, wovon etwa ein Drittel in der Hauptstadt Riga leben. Nur 54 % aller Einwohner sind Letten, die Russen stellen mit einem Anteil von ca. 34% die größte ethnische Minderheit. Wahlrecht haben in Lettland nur solche Staatsbürger, die Nachfolger der Staatsbürger von 1940 sind. Daher besitzen ca. 30% der sog. ständigen Einwohner - als Folge der 50-jährigen sowjetischen Okkupation - keine Staatsbürgerschaft und damit auch nicht das Wahlrecht. Seit etwa zwei Jahren kann jeder ständige Einwohner Lettlands die Staatsbürgerschaft erwerben, sofern er die lettische Sprache beherrscht und über Verfassung und Geschichte Lettlands Bescheid weiß. Wiederholt sind durch diese spezifische Situation Schwierigkeiten mit den Russen ent standen. Lettland besteht aus drei Provinzen, nämlich Kurland (westl. Teil), Livland (Vidzeme, Küsten streifen und Hinterland nördlich von Riga) und Lettgallen (Latgale, Ostlettland nördl. der Daugava = Düna). Lettland ist im Gegensatz zum überwiegend katholischen Litauen vorwiegend protestantisch. Nur in Lettgalen, das einst zu Polen gehörte, ist der Katholizismus stark vertreten. Die russisch-orthodoxe Kirche stellt die drittgrößte Religionsgemeinschaft dar. - Lettisch gehört zur Sprachgruppe der indo europäischen Sprachen. Die baltische Sprachgruppe umfaßt neben dem Lettischen das Litauische, so daß sich Letten und Litauer sprachlich verhältnismäßig gut verständigen können, denn ein Drittel des Wort schatzes ist sehr ähnlich. Beide Sprachen haben keine direkte Verwandtschaft zu den slawischen Sprachen.
Lettland ist stark bewaldet (ca. 35% der Bodenfläche), wovon wir uns auf der Weiterfahrt nach Liepaja überzeugen konnten. Da die Zeit schon weit vorangeschritten war, passierten wir den hübschen Ferienort Nica (dt. Niederbarthau) ohne anzuhalten. Gegen 19.00 Uhr erreichten wir Liepaja / Liebau, die dritt größte Stadt Lettlands, ca. 96.000 Einwohner. Wir steuerten sofort unser Übemachtungshotel „Liva“ an, das an einem Platz im Zentrum der Stadt in der Nähe der evangelischen Dreifaltigkeitskirche und gegenüber dem Pädagogischen Institut liegt. Mit einem gemeinsamen, besonders guten Abendessen im gerade neurenovierten obersten Stockwerk des Hotels beschlossen wir den ereignisreichen und interessanten Tag.
Walter Döpfer
5. Reisetag, Montag 3. Juli
Nach dem Frühstück im Hotel Liva nahmen wir Abschied von der Stadt Libau / Liepa ja, die insgesamt keinen sehr angenehmen Eindruck hinterließ. Die sehr herunterge kommene, graue Industriestadt weist wenige Reize auf, enthält jedoch sicherlich eine Menge verborgener Schätze, die für den Tourismus erschlossen werden müßten. Al lerdings werden die vorhandenen geringen Mittel vorzugsweise in Riga und nicht in den Landstädten eingesetzt.
Die ganze Gegend an der Ostseeküste war durch rücksichtslose sowjetische Wirtschaftspolitik nachhaltig geschädigt worden. Weite Teile Kurlands galten seit dem 2. Weltkrieg als militärisches Sperrgebiet. Libau war ein wichtiger russischer Marinestützpunkt (mit Atom-U-Booten). So wirkt wegen der jahrzehntelangen Isolation diese Landschaft recht rückständig. Während der Fahrt über Aizpute / Hasenpot auf Goldingen zu erfuhren wir von Frau Daiva mancherlei Neues. So erklärte sie z.B. die Farben der lettischen Fahne: Die zwei breiten roten Streifen mit dem kleineren weißen in der Mitte sollen an den Freiheitskampf des Volkes erinnern; das Laken eines Verwundeten sei rot von Blut gefärbt worden, nur der Mittelteil, auf dem er gelegen habe, sei weiß geblieben.
Viele Wälder säumen den Weg, ab und zu gibt es kleinere Siedlungen. In Lettland sind nach der Wende bei der Landreform im Gegensatz zu Litauen größere Bauernhöfe gebildet worden; mit den landwirtschaftli chen Produkten gibt es jedoch Absatzschwierigkeiten. Auf den Weiden grasen nur wenige Rinderherden; meist stehen nur einzelne Kühe angepflockt auf der Wiese. Weite brachliegende Flächen, Sümpfe, Wälder und ab und zu ein paar Getreidefelder prägen die Landschaft. Störche waten durchs feuchte Gras oder grüßen aus ihren Nestern; zieht ein Paar nur einen Jungstorch auf, dann ist mit einem warmen, trockenen Sommer zu rechnen, während mehrere kleine Störche im Nest viel Regen und kühle Temperaturen erwarten lassen.
Aizpute / Hasenpot mit alter Ordensburg, Wassermühle und Kirche war längst passiert, dann kamen wir auf schmaler, holperiger Straße nur langsam voran. Schließlich erreichten wir Goldingen / Kuldiga und schlenderten überden Marktplatz am 1860 erbauten Rathaus vorbei zu einer wenig belebten Fußgängerzo ne. Jetzt konnten wir Geld umtauschen und erhielten für 100 DM etwa 28 Lats.
Die Stadt wirkt alt und gebrechlich, so als hielte sie sich nur mühsam aufrecht. Es war schwer vorstellbar, daß hier, in der ehemals heimlichen Hauptstadt Kurlands, König Karl XII. von Schweden Hof gehalten hatte; damals, im Nordischen Krieg, soll hier die schwedische Kriegskasse aufbewahrt worden sein. In der Katharinenkirche, die etwa 350 Jahre alt ist, bewunderten wir besonders den Altar und die Kanzel und ließen uns die Katharinenlegende erzählen: Vor
mehr als 700 Jahren errichteten die Ordensritter hier eine Burg, darum entstand die Stadt, die jedoch keine Kirche besaß. Dem Waisenkind Katharina [Die Legende der Hl. Katharina von Alexandrien scheint hier nach Kurland verlegt zu sein. (Anm. d. Druckers)] erschien Christus im Traum und forderte das Mädchen auf, für ein Gotteshaus zu sorgen. Mit großem Geschick fertigte Katharina schöne Handarbeiten an und verwahrte alles ersparte Geld in einer Truhe. Weil sie keine Werbung eines Mannes annahm, wurde sie angeklagt, mit dem Teufel Umgang zu haben; so musste sie unschuldig die Todesstrafe auf dem Rad erleiden, ihr Geld aber hatte sie einem Priester anvertraut, so dass bald nach ihrem Tod der Kirchenbau begonnen werden konnte. Als Schutzheilige dieser Kirche und der Stadt wird sie noch heute verehrt; im Wappen der Stadt ist ihr Bild enthalten.
Natürlich betrachteten wir noch die Stromschnelle der Venta und die berühmte Backsteinbrücke über den Fluss (165 m), bevor wir die Fahrt fortsetzten, und zwar nun ins “Fircks-Land“ hinein.
Während der Fahrt über Talsen / Talsi in östliche Richtung berichtete Frau Marissa von Fircks über Nurmhusen / Nurmuiza der Patronatskirche der Familie v. Fircks. 1994 ist zum 400. Jahrestag der Grün dung dieses Gotteshauses durch den Gutsherrn Georg v. Fircks die Renovation des fast verfallenen Gebäu des abgeschlossen worden. Sehr viele Mitglieder der weitverzweigten Sippe waren anwesend, und Hunderte von Gästen nahmen an dem Ereignis teil.
Von weit her erblickt man den 47 m hohen, sehr spitzen Turm; bei näherem Hinsehen erkennt man darauf eine Kugel, einen Hahn und ganz oben ein Kreuz.
Nach dem 1. Weltkrieg hatte die Familie v. Fircks den ausgedehnten Besitz Nurmhusen sowie die Patronatsrechte verloren. Eine überlieferte Prophezeiung besagte, die Kirche werde verfallen, wenn eine Birke, die auf dem Dach ge wachsen sei, Armesdicke erreicht habe. Dies war nach 1980 tatsächlich eingetre ten. Auf einer Tafel von 1620 steht geschrieben:“... Die ganze Nachkommen schaft wird gebeten, dieses Bauwerk, wie auch immer das Bild der Zeit sein möge, in gutem Zustand... zu bewahren...“. Dieser Aufgabe fühlten sich die Mitglieder der Familie v. Fircks auch nach der Enteignung verpflichtet. Mit bewundernswerter Energie haben sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft die Wiederherstellung der Kirche betrieben.
Überrascht ist der Besucher von der barocken Ausgestaltung des Kirchenraumes. Besonders lenken die reich verzierte Kanzel und der prachtvolle Altar die Blicke des Betrachters auf sich. Sehr beeindruckend ist die große Grabplatte mit den gut
erhaltenen Figuren Georgs von Fircks, der den Besitz Nurmhusen erworben hatte und die Kirche 1594 errichten ließ, sowie seiner Gemahlin Anna. Auf besonderen Tafeln sind die Namen aller Patronatsherren sowie der Verlauf der Renovation vermerkt. Beachtenswert sind auch die Orgel, die Leuchter, das Taufbecken und die Ölgemälde. Die völlig verwüstete Krypta wurde wieder zu einer würdigen Familiengruft umgestaltet.
Wo sonst als in der Nurmhusener Kirche wurden wir Fahrtteilnehmer stille zur Andacht. Pfarrer Becks erläuterte den Monatsspruch Psalm 36,6 sowie die Tageslosung im Sinne des Gotteslobs, das nicht allein durch Worte, sondern vor allem durch Taten zum Wohle der Mitmenschen zum Ausdruck kommen sollte. Mit dem Lied “Lobe den Herren, o meine Seele“ klang die Besinnung aus.
Danach folgten wir gern der freundlichen Einladung der lettischen Kirchengemeinde zu Kaffee, Kuchen und den schmackhaften Piroggen. Anschließend über gaben Frau Becks und Frau Klein als Leiterinnen des Kreativen Arbeitskreises der Matthäikirche eine Spende von eintausend DM an die Kirchenvorsteherin, Frau Aida Smilgzieda, und Herrn Pastor Berzins zur Verwendung bei der Frauenarbeit. Frau Baronin Fircks konnte die Spende des PfBA Matthäikirche in Höhe von weiteren eintausend DM zur Unterstützung der Bedürftigen und Kranken der Gemeinde überreichen. Mit großer Freude wurden auch die mannigfachen guten Kleidungsstücke, die die Fahrtteilnehmer mitgebracht hatten, entgegengenommen. Die Dankesworte waren überwältigend und bewegten Geber und Beschenkte.
Weiter ging die Fahrt auf schmalem Weg nach Nogalien / Nogale; dieses Jagd- und Sommerschloß war 1880 von Frh. v. Fircks in neuklassizistischem Stil erbaut und prächtig ausgestattet worden. Die letzte Besitzerin (Marie v. Nolcken) wurde 1920 enteignet. Die Lage des Anwesens ist bezaubernd. Von der Freitreppe aus schweift der Blick hinab zu dem kleinen, verschwiegenen See, der umgeben ist von einem verwunschenen Park mit mächtigen Eichen. Was soll nun aus dem Gebäude werden? Der Besitzer einer Rigaer Geschirrfabrik hat Nogallen erworben und läßt zunächst eine Mauer um das Gelände errichten, bevor mit der Renovation des Hauses begonnen wird. Mit viel Phantasie kann man sich vorstellen, wie dieser Ort in ein paar Jahren aussehen wird. Dann mag wohl die Mutter des Eigentümers, die uns gestattete, die Innenräume zu besichtigen, nicht mehr so recht ins Bild eines vornehmen Hotels oder einer schicken Spielhölle passen.
Ein kurzer Halt in Talsen / Talsi konnte genutzt werden zum Eintritt in die 1567 erbaute evangelische Kirche. Dieses Gotteshaus, das im 2. Weltkrieg nicht beschädigt wurde, besitzt typische Kennzeichen kurländischer Architektur im vereinfachten romanischen Stil: Halbrundbogenfenster und pyramidische Turmspitze. Bemerkenswert sind vor allem die modernen Glasfenster, das Altarbild (Christi Himmelfahrt), die Orgel und die Deckenleuchter. Ansonsten blieb uns die Stadt fremd; weder Burgenreste noch besondere städtische Bauwerke oder Museen wurden angesteuert, denn der Weg nach Riga war noch weit.
Durch das ehemalige Urstromtal der Abava führte uns der Weg zur Hauptstadt Lettlands an der Düna, der mit etwa einer Million Einwohnern größten Stadt des Baltikums. Im Hotel Maritim fühlten wir alle uns sehr gut untergebracht und sahen dem nächsten Tag mit großer Erwartung entgegen.
Wolfgang Knörr lieh
Nurmhusen: Verlorene Heimat - Erhaltene Tradition und Pflicht
Die Geschichte der Kirche zu Nurmhusen ist undenkbar ohne die Gutsanlage des gleich namigen Schlosses der Barone von Fircks in Kurland.
“Ein vortrefflich erhaltenes Baudenkmal mit der charakteristischen Rechteckanlage im Gesamtgrundriß ist Schloß Nurmhusen, nahe Talsen. Es ist als festes Haus für landwirtschaftliche Verwaltungszwecke und nicht aus strategischen Gründen vom Orden gegen Ausgang des Mittelalters erbaut worden. Nurmhusen ist das Stammhaus der kurländischen Freiherm von Fircks, die es vor fast vierhundert Jahren erwarben und in deren Besitz es bis zur Enteignung der großen Ländereien geblieben war. Die vierflügelige Gebäudegruppe mit dem eingeschlossenen Hof in der Mitte ist als solche deutlich auf der Gesamtansicht von Osten zu erkennen. Mit dem Hause in Verbindung stand eine Kapelle, deren wunderhübsche Gewölbe gut erhalten sind. Der Raum dient heute als Bibliothek. [Wie neue Studien der Nurmhusener Dokumente im Staatsarchiv Riga ergaben, bestimmte Georg von Fircks den Raum mit Kreuzgewölbe nicht als Kapelle, sondern für seine Frau als Witwenwohnung. Anm. d. Verfassers]. An einigen Fenstern im Erdgeschoß sind Reste einer aus der Renaissance stammenden, in farbiger Putztechnik ausgeführten, geometrisch gemusterten Umrahmung gefunden worden. Das in klassizistischer Strenge ausgefuhrte Portal ist aus späterer Zeit“. (‘Das Baltische Herrenhaus“, Pirang 1930).
Nurmhusen (‘Nurrri bedeutet auf Livisch ‘Acker’, 'Feld1-, Lautierte auf Lettisch ‘die Felder“) war Rittergut, Kajorat, und umfaßte 14.043 ha Hofsland (das vom Gutherren selbst genutzte Gutsland, im Gegensatz zu dem von den Hauern genutzten Bauernland) und dazu 1.491 ha Hofs-land von Sehnjen, 6 Beigüter, 3 Krüge und 3.446 ha Bauernland. Ein Teil der Kreisstadt Talsen lag auf Hofsland von Numhusen und zahlte Grundzins. Schon 1387 erwähnt, war Nurmhusen bis 1560 wertvollste Domäne der Ordensvögte von Kandau.
Im Jahr 1306 wird mit dem Ritter Gerhard von Ferckis das Geschlecht erstmals in den damals Dänemark gehörenden estländischen Landschaften erwähnt. Um 1610 erlischt das Geschlecht in den nördlichen Provinzen, umso kräftiger blüht es aber dann in Kurland, wo vor 1494 Jurgen Virkus mit einem Landbesitz bei Goldingen belehnt wird. 1505 kauft er zwei Güter im Kirchspiel Talsen, die späteren Stammgüter des Geschlechtes in Kurland, Okten und Scheden.
Die Kirche zu Nurmhusen erbaute Georg v. Fircks (t 1600) nur einen Kilometer vom Schloß entfernt und umgab sie, seinem Verständnis der gutsherrlichen Fürsorgepflicht folgend, mit Pastorat (380ha), Schule, Krankenstation und Armenhaus.
In der Rezension über “Geschichte des Gutes Nurmhusen in Kurland“ von Vaida Kvaskova (Staatsarchiv Riga), hrsg. und ergänzt von Wolf Lackschewitz, heißt es: “War ein solches Gut doch weit mehr als nur bloßes “Umland“ des Gutshauses. Es war u.a. eine geschlossene, weitgehend autonome Verwaltungseinheit mit eigenen Polizei-, Gerichts- und Selbstverwaltungsorganen, mit eigener Schule, medizinischer und seelsorgerlicher Betreuung. Zugleich war es ein autarker Wirtschaftsbetrieb, dessen tägliches Funktionieren als organisatorische Spitzenleistung bewertet werden muss... Diese Gutsgeschicht ein lebendiges Bild baltischer Lebenskunst und -kultur vermitteln hilft.“
Glieder des Geschlechtes der Barone v. Fircks waren stets loyal gegenüber ihrem Lehnsherren und Land, ob herzoglich oder zaristisch. Im ehemals östlichsten Land des Deutschtums bewahrten sie Tradition in Pflichterfüllung. Wir, die Nachfahren dieser Familie, sind verpflichtet, diese Werte - auch ohne Landbesitz - an unsere Nachkommen weiterzugeben.
Baronin Marissa v. Fircks
6. Reisetag, Dienstag 4. Juli
In der gläsernen Restauranthalle des Hotel Maritim, vor einigen Jahren war es noch ein schäbiges Touristenhotel, empfängt uns Daiva, unsere litauische Guide, mit den Worten: „Unser Bus wurde in do-Nacht ausgeraubt!“ Aufgebracht ist sie über die Untätigkeit der Wachleute, die sich nur für den Innenbereich des Hotels zuständig erklären. Was war geschehen?
In der Nacht waren die Radkappen des Busses abmontiert worden. Glücklicherweise entdeckte man sie später in Hotelnähe, und Valentin, unser Fahrer, konnte sie wieder anbringen. Daiva führt den glimpflichen Ausgang auf die Kerzen zurück, die wir am Vortag in der Kirche von Talsi aufgestellt hatten.
Mit Marina und Natalie, den beiden örtlichen Stadtführerinnen, brechen wir bald zur Besichtigung auf. Da ihre Informationen nicht immer gut verständlich waren, hier einige allgemeine Daten:
Riga ist die größte Stadt des Baltikums und Hauptstadt der Republik Lettland. Zur Sowjetzeit hatte sie 1 Mill. Einwohner, jetzt etwas weniger. Der Fluss Daugowa, dt. Düna, teilt die Stadt in zwei Teile. Nach ca. 15 Kilometern mündet die Daugowa in die Rigaer Bucht. Es leben in Riga 33% der Gesamtbevölkerung Lettlands, davon sind 39% Letten und 47% Russen.
Die Stadt war einst Zentrum des Ordensstaates, lange mächtige Hansestadt, und Brücke zwischen West und Ost. Es gibt noch Spuren der jahrhundertelangen Anwesenheit der Deutschen welche die Stadt als Bischöfe, Ordensmeister und Kaufleute beherrschten. Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es 46% Deutsche in Riga.
Berühmt als Park- und Gartenstadt verfügt sie über 70 innerstädtische Parks und Grünanlagen. 1997 wurde Riga wegen seiner hervorragenden Jugendstilhäuser in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen. - Die Stadt ist ein Zentrum von Politik und Wirtschaft, und hat einen internationalen Fughafen. 200 Zeitun gen und Zeitschriften erscheinen regelmäßig. Von den 33 Hochschulen des Landes sind 28 hier angesiedelt. - Es gibt fast zehn Theater, mehrere Konzertsäle sowie 50 Museen und Ausstellungsräume. Alle fünf Jahre wird das lettische Sängerfest hier abgehalten, das nächste im Jahre 2001, wenn die Stadt ihr 800-jähriges Bestehen feiert.
Und so verlief die Geschichte:
1201: Mit einem Kreuzfahrerheer gründet der Bremer Bischof Albert die Stadt an der Stelle eines livisch lettischen Fischerdorfes. - 1202: Albert und Theoderich von Treiden gründen den Schwertbrüderorden. Dieser schließt sich 1237 an den Deutschen Orden an. Bischof Albert verliert jetzt an Einfluss. Jahrelange Konflikte um die Macht sind die Folge. 1282: Beitritt zur Hanse. Vorher wurde die Zuwanderung deutscher Kaufleute und Handwerker gefördert. 1330: Sieg der Ordensritter. 1352: Gründung der „Kleinen Gilde“ der deutschen Handwerker. Letten hatten keinen Zutritt. 1354: Gründung der „Großen Gilde“, der Kaufmanns bruderschaft der Schwarzhäupter. Ihr Schutzpatron war der hl. Mauritius. Er war, wie unsere Bonner Stadtheiligen Cassius und Florentius, ein Märtyrer der Thebäischen Legion, die aus Nordafrika stammte und deren Soldaten überwiegend schwarz waren. Die Schwarzhäupter mussten jung, ledig und reich sein, und sie mussten aus dem Ausland stammen, „Nichtdeutsche“ hatten nur niedere Arbeit zu verrichten. 1558 - 1583: Livländischer Krieg, die Ordensritter werden von Rußland geschlagen. 1562: Abdankung des letzten Ordensmeisters, Gotthard von Kettler. 1581: Einzug der Polen. 1621: Vertreibung der Polen durch die Schweden. 1656: Vergebliche Belagerung durch die Russen. 1660: 2.Hauptstadt Schwedens. 1710: Im „Nordischen Krieg“ von den Russen erobert. 1714: Rigaer Gouvernement. 1812: Napoleon zieht auf seinem Weg nach Moskau an den angezündeten Vorstädten vorbei. 1861: wichtigste Hafenstadt des Zarenreichs. 1866: Aufhebung des Zunftzwangs. Auch Letten können jetzt Handel und Gewerbe treiben. 1905: Revolution in Rußland, Großdemonstrationen werden zusammengeschossen. 1915 - 1917: Im 1. Weltkrieg werden mit Herannahen der Front die Fabriken mit 200.000 Arbeitern und ihren Familien nach Rußland verlagert. Nach der russischen Februarrevolution ist Lettland geteilt. Riga gehört kurzfristig zum Deutschen Reich. Nach der deutschen Novemberrevolution wurde am 18.11.1918 ein unabhängiges Lettland proklamiert. 1919: Truppen der Roten Armee erobern die Stadt. Regierung von Petris Stucka. Die bürgerliche Partei mit Karlis Ulmanis behält die Oberhand. Janis Rainis, der hochverehrte lettische Schriftsteller, ist nach längerer Exilzeit jetzt Minister. Später trennt er sich von Ulmanis, weil er mit dessen Politik nicht einverstanden ist. Ulmanis selbst stirbt 1940 in russischer Verbannung. 1940: Sowjettruppen marschieren in Riga ein. Dies wurde durch ein geheimes Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts legitimiert. Der NKWD verbreitet Terror. 1941; Deutsche Soldaten „befreien“ die Stadt. „Wir wurden in unserer Geschichte nie erobert, sondern immer befreit“, sagen die Menschen dort mit Selbstironie.
In der Moskauer Vorstadt wird für Juden ein Ghetto errichtet. In der Folgezeit werden dort durch Verhun gern und Erschießen 60.000 Menschen umgebracht, darunter auch Juden aus Deutschland. Orte in den Wäldern um Riga, wie Bikemicki, Schmärly und Rumbula sind zu Orten des Grauens geworden. Die Deutschen fanden auch in lettischen Nazis tatkräftige Helfer. Aber meines Erachtens ist dies hier ein Thema, worüber man nicht spricht.
1944 Eroberung durch die Rote Armee. Zehntausende Menschen, vor allem Intellektuelle werden nach Rußland deportiert. Zerstörung der Petri-Kirche und des Schwarzhäupterhauses. Es werden die häßlichen Plattenbausiedlungen in den Vorstädten errichtet. 1983: Restaurierungsbeginn der Altstadt. 1987: 1 .Demonstration zur Erinnerung an die Deportationen. 1988: Gründung der lettischen Volksfront. 20.01.1991: Russen erstürmen das lettische Innenministerium. Fünf Menschen werden erschossen. 21.01.1991: Ausrufung der Unabhängigkeit.
Wanderung durch die Altstadt
Auf dem ehemaligen Rathausplatz bekommt man zunächst einen Schock. Er war 1944vollständig zerstört und später mit gesichtslosen Zweckbauten, der Technischen Universität und dem Okkupationsmuseum verunziert worden. Zur Zeit ist man dabei, einiges davon abzu reißen. Drei hünenhafte braune Gestalten, die drei lettischen Schützen, geben dem Platz jetzt seinen Namen. Sie sollen an die 10.000 lettischen Schützen in der Russischen Armee erinnern, die bei den Weihnachtskämpfen im „Verdun Lettlands“ im Januar 1917 gegen die Deutschen gefallen waren. Doch an der nächsten Ecke ist man wieder versöhnt, man steht vor dem wiederaufgebau ten „Schwarzhäupterhaus“. Nach dem Vorbild flämischer Zunfthäuser ist sein Giebel mit Skulpturen und Reliefs reich geschmückt. Es erstrahlt in Rot und Gold und wird von einer Reitergruppe gekrönt.
Die Petrikirche, als Kirche der Bürger erbaut und von ihnen alleine finanziert, wurde 1209 erstmals urkundlich erwähnt. Sie bekam 1352 die erste Stadtuhr. Ein Jahr später wurde ein Wächter eingestellt, der vor Feinden, Bränden und nichtgelöschten Herdfeuem warnen musste. Der erste Turm stürzte 1666 ein. Den zweiten traf 1721 der Blitz. Zar Peter der Große, der gerade in der Stadt weilte, half persönlich beim Löschen des Brandes und befahl den sofortigen Wiederaufbau des Turms. 1941 wurde dieser durch Kriegseinwirkung zerstört. Der jetzige Turm, ein kupfergedeckter Stahlbau, hat drei Plattformen. Mittels eines Aufzugs kann man in 72 Meter Höhe die schöne Aussicht über die Stadt genießen. Die Kirche wurde mehrmals umgebaut. Drei barocke Dolomitportale sind noch sehenswert. Innen gibt es einige Epitaphien und ein Roland-Standbild. Heute dient die Kirche als Ausstellungsraum.
Nördlich der Petrikirche sieht man in einer Häuserreihe ein kleines Kirchen schiff mit zwei romanischen Fenstern. Es ist die Georgskirche mit dem Heiliggeistspital. Es sind Reste einer Burg des Schwertbrüderordens, die 1202 errichtet und 1297 von den Rigaern bis auf die Kirche niedergerissen wurde. Seit 1554diente sie als Lagerhaus, jetzt als Museum.
Hinter der Georgskirche liegt der Konventhof, das ehemalige Spital zum Heiligen Geist. Ihre Ursprünge gehen auf das Jahr 1226 zurück. 1330 wurde es am jetzigen Standort errichtet. 1556 wird es eine Stiftung der großen Gilde. 1936 ist es ein Viertel für Altstadt bewohner. Nach dem totalen Verfall wird es ab 1995 wieder aufgebaut, durch das lettisch-deutsche Gemeinschaftsunternehmen REHO, Hotel de Rome. Die ehemaligen Wohn- und Speicherhäuser tragen noch Namen wie „Haus der Grauen Schwestern, der Weißen und Schwarzen Tauben“, der „Stall“ ist jetzt ein feines Hotel. Das gelb gestrichene Haus an der Ecke heißt nicht wegen seiner zufälligen Ecklage “Eckens Konvent”, sondern der Patrizier Nikolaus Eck hat hier 1596 aus einem Nachtasyl ein Haus für dreizehn bedürftige Witwen der Kleinen Gilde geschaffen. Eine Inschrift „Ziel meines Lebens ist Christus“ erinnert an den Stifter. Das Relief „Christus und die Sünderin könnte auch die „Witwe mit dem Scherflein“, oder die „blutflüssige Frau“ bedeuten, meint Herr Becks.
Die Johanniskirche aus dem 13. Jahrhundert mit dem gotischen Stufengiebel aus Backstein war die Hauskapelle des ersten Bischofshofes und des späteren Dominikanerklosters. Von diesem ist nur ein Tor, “Eselsbrücke” genannt, mit einem gotischen Bogen erhalten. An der Südffont der Johanniskirche sind zwei Masken mit offenem Mund eingelassen. Waren es Lautsprecher? Oder predigten durch diese die beiden Mönche, die während der Reformation hier bei Wasser und Brot eingemauert gewesen sein sollen? Die Johanniskirche ist geschlossen. Eine Skulptur der Bremer Stadtmusikanten erinnert auf dem Vorplatz an die Partnerstadt. Wir kommen am Richard-Wagner-Saal vorbei. Der Komponist wirkte hier am ehemaligen Deutschen Theater zwei Jahre als Kapellmeister. Wegen Schulden soll er 1839 vor seinen Gläubigem über die Ostsee geflohen sein. Dabei seien ihm die Motive zum „Fliegenden Holländer“ eingefallen. Aber auch Musiker wie Anton Rubinstein, Hector Berlioz und Clara Schumann gastierten hier. Am Theaterplatz im Haus der Großen Gilde ist heute die Philharmonie untergebracht. Die Kleine Gilde war Kulturhaus der Gewerksc haften und Verwaltungssitz. Ansichten und Wappen von Partnerstädten schmücken das jetzt im Tudorstil erbaute Haus. - Eine scheißende, eiserne Katze als eine Geste der Verachtung für den unfreundlichen Nachbarn thront auf dem Turm des gegenüberliegenden Hauses.
Das Russische Dramatische Theater ist mit Bienenkorbgalerien ausgestattet. Mittelalterlichen Ursprungs sind die kleinen Häuser, die sich einst an die Stadtmauer schmiegten. Beim weiteren Gang durch die Altstadt kommen wir an prächtigen Jugendstilhäusern und renovierten Barockbauten vorbei. Das Dannenstern- und Mentzendorffhaus gehören dazu.
Die Kaufmanns- und Gewerbehäuser des Speicherviertels stammen noch aus dem 16./17. Jahrhundert, Riga war damals Zentrum eines blühenden Getreide-, Hanf- und Leinenhandels. Einige der Speicher sind abgesichert und werden wahrscheinlich langfristig restauriert.
Vom Schwedentor, welches im 17. Jahrhundert durch ein Wohnhaus gebrochen worden war und dem danebenliegenden Scharfrichterhaus, kommt man an einem Stück renovierter Stadtmauer vorbei. Außer dem wiederaufgebauten Ramerturm gibt es am Ende der Mauer den mächtigen Pulverturm. Er hat einen Durchmesser von 14,5 m bei 2,5 m Wandstärke. Er diente mit seinem Anbau zu verschiedenen Zeiten als Kriegs/Revolutions- und jetzt als Museum für die lettische Unabhängig keit. Die ehemaligen Jakobskasernen rechts sind gelb herausgeputzt, und man kann dort stilvoll essen und einkaufen gehen.
An der Saima, dem lettischen Parlament, vorbei kommen wir zur Jakobikirche mit ihrem gotischen Kirchturm. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und hat vier mal die Konfession gewechselt. Heute ist sie Sitz des katholischen Erzbischofs. Einer Legende zufolge hatte sie eine Außenglocke, die immer dann läutete, wenn eine untreue Ehefrau vorbeiging. Als sie eines Tages überhaupt nicht mehr aufhörte zu läuten, stiegen die Frauen in den Turm und warfen die Glocke in den Fluss. Von untreuen Ehemännern wird nichts erzählt.
Die Drei Brüder sind sehenswerte Häuser aus dem 15. Jahrhundert. Das älteste besitzt noch einen gotischen Stufengiebel. Wegen der Lichtsteuer waren die Fenster sehr klein. Die Waren wurden im Keller und unter dem Dach gestapelt. Die Bewohner lebten in einem Hofanbau. Die beiden, jetzt schönsten Fassaden, wurden zur Barockzeit erneuert.
Die Mittagspause verbringen wir am Domplatz in der Nähe der Rozenastraße. Sie ist mit nur drei Meter Breite die schmälste Gasse Rigas. Zwei Damen mit Reifföcken konnten hier nicht aneinander Vorbeigehen. Fast so schmal ist auch die Troksnniela in der Nähe des Schwedentors. Im historischen „Cafe mit den 13 Stühlen“ ist es etwas knapp.
Gleich in der Nähe lassen wir uns nieder und Frau Krauter spendiert uns einen Balsam, weil sie heute Geburtstag hat. In diesem lettischen Nationallikör sind dreiunddreißig verschiedene Kräuter und Gewürze enthalten. Er soll schon Katharina der Großen, der russischen Zarin, wieder auf die Beine geholfen haben.
Man genießt den Balsam pur, mit Kaffee oder Tee, oder verdünnt ihn mit Wodka. Nun kommt ein Straßenmaler vorbei. Wen wundert es nicht, daß wir uns alle porträtieren lassen wollen. Aber die Wahl des Künstlers fällt auf Herrn Becks. Sein Gesicht ist am schönsten. Umgehend veranstaltet Herr Bergknecht eine Sammlung für das Honorar. Ob das Ehepaar Becks in Buschhoven zwischen Ikonen, Safarows „Türkischem Cafe“, und dem Linnicher-Glasbild noch Platz für dieses Konterfei hat? Schön wär's.
Später können wir uns endlich dem Dom zuwenden. Dieser größte Kirchenbau des Baltikums wurde von 1211-1226 unter Bischof Albert von Bremen erbaut. Zur gleichen Zeit wurde auch die Marienkirche zu Lippstadt unter Edelherr Bernhard EL zur Lippe errichtet. Beide Kirchen sind sich sehr ähnlich. Vermutlich waren lippstädter Steinmetze am Rigaer Dom beschäftigt. Bernhard warnämlich später Zisterziensermönch und Abt in Livland. Außerdemwurde er von seinem Sohn zum Bischof von Selonien, einem Nachbarbistum von Riga, geweiht. Daß er elf Kinder hatte, von denenvier Bischöfe und vier Äbtissinnen wurden, war für die damalige Einflussnahme auf die kirchliche Bautätigkeit nur förderlich.
Ursprünglich war der Dom eine romanische Hallenkirche. Kloster und Kreuz gang aus der Entstehungszeit sind noch teilweise erhalten. Die Seitenschiffe und ihre Kapellen kamen in der Gotik hinzu. Der Turm mit seinem barocken Helm hat eine Höhe von 90 Metern. Es sind einige Epitaphien erhalten. Je näher sie zum Altar lagen, desto teuer waren sie. Die Fenster, welche 1883-1885 in München gefertigt wurden, stellen unter anderem Bischof Albert, den Ordensmeister Wolter von Plettenberg und König Gustav II Adolf dar.
Weltbekannt ist die Orgel wegen seines schönen Prospekts und den 7000 Pfeifen mit den 124 Registern. Die Firma Walker in Ludwigsburg hat sie 1884 gebaut. Wegen der wunderbaren Akustik finden sehr häufig Orgelkonzerte statt. Die verschiebbaren Rückenlehnen zur Orgel oder zum Altar sind hier eine Beson derheit. Es gab auch schon Überschwemmungen im Dom. Seit 1988 werden auch wieder Gottesdienste gefeiert.
In der Nähe des Doms steht das Herder-Denkmal. Mit 20 Jahren kam dieser nach Riga und wirkte als Lehrer an der Domschule. In den fünf Jahren seiner Tätigkeit übersetzte er lettische Volkslieder ins Deutsche. Am Nachmittag fahren wir mit dem Bus durch das neue Zentrum und sehen viele markante Gebäude und Plätze der Stadt. Die Freiheitsstatue, auch liebevoll Kognakdame genannt, wurde 1931-1935 gebaut. Mir 43 Metern ist es das höchste Denkmal Europas.
Frau Milda, die nach Westen schaut und auch auf einem Geldschein abgedruckt ist, hält drei Sterne in hochgehobenen Händen. Sie symbolisieren die drei lettischen Provinzen Livland, Kurland und Lettgalen. Das Geld dafür wurde von der Gesamtbevölkerung aufgebracht und es liegen immer frische Blumen hier. Lenin, der Ihr den Rücken zudrehte und nach Osten schaute, wurde nach der Sowjetzeit demontiert.
Am Basteiberg, einer schönen Parkanlage am Stadtkanal, gibt es die Nationaloper, die Universität und verschiedene Museen. Eines davon ist für Krisjanis Barons. Dieser lettische Schriftsteller sammelte vierzeilige Volkslieder, die Dainas. 36.000 werden hier aufbewahrt.
Ein Hochhaus, das Hotel Latvija sticht ins Auge. Es wird zur Zeit renoviert. In der Nähe des Esplanade- Parks gibt es die Kunstakademie, das Kunstmuseum und das Nationaltheater. Zwei Orthodoxe Kirchen, die Christi-Geburt-Kathedrale und die klassizistische Alexander-Newski-Kirche, liegen ebenfalls hier. Die Kathedrale wurde zur “Familienzeit”, so nennen manche Stadtführerinnen die Sowjetzeit, zum Planeta rium umfunktioniert. Die schlanke, weiße Peter-und-Paulkirche, auch ehemals orthodox, ist heute Konzertsaal.
Als letzteres besichtigen wir gemeinsam die Albertstraße und sind überwältigt von der Ansammlung der Jugendstilfassaden. Michail Eisenstein, der Vater des berühmten Filmregisseur Sergeij Eisenstein, schuf um die Jahrhun dertwende viele dieser prachtvollen Stadthäuser. Sie quellen über von Omamentffiesen, Voluten, Girlanden, Löwenköpfen und Medusen häuptern. Auch ein bemaltes Treppenhaus können wir von innen sehen. So bereichert von allem Schönen kommen wir noch am Schloß, der ehemaligen Ordensburg vorbei. Es ist heute Amtssitz der Staatspräsidentin Vike Freiberga und beherbergt noch die Museen für lettische Geschichte, für ausländische Kunst und das
Janis-Rainis-Mueum. Dieser Schriftsteller und Dichter war für die Letten bei ihren Unabhängikeitsbestrebungen wichtig.
Am späten Nachmittag gehen wir vom Platzder lettischen Schützen über die Akmens-Brücke auf das linke Daugava-Ufer zu unserem Hotel. Es ist so ähnlich, als wenn man von Bonn nach Beuel geht. Nur ist der Fluss hier breiter und rechts sieht man die Vansu-Brücke, die im Volksmund Balaleika heißt, da sie an Stahlseilen aufgehängt ist. Auf der Zakusala, einer grünen Insel links im Fluss, steht der 368 Meter hohe Femsehturm. In 97 Meter Höhe gibt es eine Aussichtsplattform.
Eine Eisenbahnbrücke, ähnlich der Kölner Hohenzollembrücke, überspannt ebenfalls die Düna. Beim Blick zurück erkennt man mindestens fünf große Markthallen. Sie waren während des 2. Weltkriegs als Luftschiffhangars erbaut worden. Ins Blickfeld bekommt man ebenfalls das Hochhaus der Akademie der Wissenschaften. Es war 1958 im sozialistischen Zuckerbäckerstil erbaut worden, und wird vom Volksmund Stalintorte genannt. Es sollte zunächst als Unter kunft für sowjetische Landarbeiter dienen.
Wir machen noch einen Schlenker am sowjetischen Ehrenmal für die Befreier von der deutschen Besat zung, 1985 errichtet, vorbei. Es liegt in der Nähe unseres Hotels und ist ziemlich ungepflegt. Ein 79 Meter hoher Obelisk wird umgeben von zwei Skulpturen, „Mutter Heimat“ und die „Befreier“. Hier versammeln sich noch immer Menschen, die den Zerfall der Sowjetunion und ein unabhängiges Lettland nicht akzeptie ren können.
Der Tag geht zu Ende und mir kommt der Titel eins Fernsehfilms in den Sinn: “Ach Riga - Du Schöne!“ Und ich möchte hinzusetzen, aber auch „Du Geschundene“.
Maria Winden
7. Reisetag, Mittwoch 5. Juli
Bus-Abfahrt war um neun Uhr. Wir fuhren in Richtung Bauska durch die fruchtbare Ebene von Semgallen, in der viele Störche zuhause sind. Eine wunderschöne Landschaft mit kleinen Anwesen, keine starke Besiedelung.
Bauska, am Zusammenfluss der Memel /Memele und Muße / Müsa gelegen, 1443 -1456 wurde hier auf einem vier Meter hohen Granitfelsen eine der letzten Ordensburgen errichtet zur Absicherung des Handelsweges nach Litauen und der südlichen Grenze des Reiches (heutiges Lettland und Estland). Die Burg war Sitz des Ordensvogts, heute noch eine
imposante Ruine. Von einer daneben liegenden späteren Burg sind noch zwei Rundtürme und die hohen Mauern des Kastellbaues gut erhalten. Der 22 m hohe Hauptturm kann bestiegen werden. Von dort bietet sich eine gute Sicht auf die beiden Flüsse und die Stadt.
Nach einer Fahrt von etwa zehn Kilometer kamen wir zum eigentlichen Ausflugsziel dieses Tages, zum Barockschloß Ruhenthal / Rundäle, das zu den berühmtesten historischen Bauten des damaligen Kurlands zählt. Das Schloß ist heute zum Teil Museum.
Wir wurden vom Direktor des Museums, Herrn Dr. Lancmanis, begrüßt und durch Vermittlung von Freifrau von Fircks von ihm persönlich durch alle bisher restaurierten Räume des Schlosses geführt. Die Führung dauerte fast drei Stunden. Es war ein Erlebnis besonderer Art!
Zur Geschichte: Nachdem im 15. Jh. die Burg Bauska erbaut war, konnte eine Besiedelung des umliegenden Landes erfolgen. So entstand das Gut Ruhenthal/Rundäle, das erstmals urkundlich 1505 erwähnt worden ist. 1735 erwarb Graf Emst Johann Biron, Günstling der russischen Zarin Anna, dieses Gut und ließ durch den berühmten italienischen Baumeister Rastrelli dort einen Sommersitz erstehen. Rastrelli war Hofbaumeister der Zarin. Er baute das Winterpalais in St. Petersburg, eines der prächtigsten Paläste in Europa.
Es kamen Mengen von Facharbeitern aus Rußland nach Ruhenthal, 1736 waren es schon mehr als tausend. Alleine vier Millionen Ziegelsteine wurden aus dem hochwertigen Semgallener Lehm hergestellt. Dazu mussten zwölf Ziegelbrennereien gebaut werden. Steine für das Fundament des Schlosses bekam man, indem man das alte Schloß/Gut abbaute. Für alle notwendigen Arbeiten mussten täglich über vierhundertunddreißig Pferdewagen eingesetzt werden.
Das Projekt zeigt das Ausmaß einer Herrscherresidenz, die Ideen von Versailles. In der Grafischen Sammlung Albertina in Wien sind acht Blätter des Bauent wurfs erhalten. Schon 1737 konnten die Ausstattungsarbeiten beginnen. Die einzigartigen blau bemalten Kachelöfen fertigten in den errichteten Töpfereien Meister aus Danzig und Rußland. An den besonders prächtigen vergoldeten Öfen arbeiteten österreichische Meister. Eine große Tischlerwerkstatt wurde eingerichtet, damit u. a. alle Treppengeländer mit den ausnahmslos prächtigen Schnitzereien gefertigt werden konnten. Gleichzeitig wurde von Rastrelli der Park projektiert. Er wurde angelegt mit 328.185 Linden, 45.004 Kastanien, 1.885 Eichen.
1737 wurde Emst Johann zum Herzog ernannt und durch die kurländische Ritterschaft zum neuen Regenten Kurlands gewählt. 1740 starb Zarin Anna. Herzog Emst Johann fiel in Ungnade und wurde 22 Jahre nach Sibirien ver bannt. 1763 konnte er unter der Zarin Katharina II. aus der Verbannung zurück kehren. Ihm wurde der Titel des Herzogs von Kurland wieder zuerkannt und er konnte seinen zweiten Regierungsabschnitt in Kurland beginnen.
Das Schloß hatte durch die lange Zeit des Stillstands sehr gelitten, war fast verwahrlost. Wiederum unter Rastrelli wurde es von 1763 - 1768 umgebaut und restauriert. Die Treppenhäuser und die Galerien blieben. (Die Treppenstufen sind heute noch die gleichen.) Die Wohnräume wurden von den Paraderäumen getrennt und bekamen einen neuen Dekor im Rokokostil in Anlehnung an die Schlösser Charlottenburg und Potsdam.
Für die Ausführung der künstlerischen Arbeiten wurden der Meister der Technik vergoldeter Stukkaturen und Bildhauer Johann Michael Graff aus Berlin und die in St. Petersburg wirkenden ital. Maler Francesco Martini und Carlo Zucchi gewonnen. Diese Künstler waren ausschlaggebend für das hohe Niveau. Es wurde das kurländische Versailles geschaffen. Graff arbeitete fünfzehn Jahre hier, ging dann an den polnischen Hof und verstarb dort.
Hundertachtunddreißig Räume hat das Schloß auf zwei Stockwerken. Die Repräsentationsräume sind im Ostflügel, die Gemächer des Herzogs im West flügel und die der Herzogin, ihrer Gäste, der Hofdamen und Kavaliere im West flügel. Auf dem Weg zum herzoglichen Schlafzimmer hängen Porträts der Dynastie Biron und der damaligen europäischen Herrscher. Das Porträt von Herzog Emst Johann befindet sich hier zwischen dem russischen Zaren Peter I. und dem preußischen König Friedrich II. und symbolisiert so die politische Lage Kurlands zwischen beiden Großmächten.
Der Goldene Saal oder Thronsaal blieb im Lauf der 250 Jahre besser als alle anderen. Schloßräume in Ruhenthal erhalten. Es liegt z.B. noch der originale
Fußboden. Die Wände sind mit künstlichem rosa und blauem Marmor verkleidet und mit goldenen Stuckarbeiten von Graff verziert. (Der künstliche Marmor war sehr viel aufwendiger herzustellen, als wenn Natur-Marmor verwendet worden wäre, sollte aber in der Wirkung den natürlichen Marmor übertreffen.) Das prächtige 2oo m2 große Deckengemälde von Martini und Zucchi stellt die herr schaftlichen Tugenden dar, nach der damaligen Vorstellung. Es ist der prunkvollste Raum im Schloß. Beim Goldenen Saal befindet sich ein ovales Porzellankabinett. Auf 45 Rocaille-Konsolen von Graff stehen kostbare chinesische und japanische Porzellanvasen aus der Zeit.
In der Großen Galerie wurden die offiziellen Bankette veranstaltet. Die Gemälde haben die Nacht und die Morgendämmerung zum Inhalt. Die Große Galerie als ein Beispiel der italienischen Monumentalmalerei ist eine Rarität im ganzen Baltikum.
Der für Hofbälle vorgesehene Weiße Saal sollte eine leichte und heitere Stim mung schaffen. Er ist der größte Raum des Schlosses. Der helle Eindruck wird noch durch die fünf Spiegelfenster verstärkt, die die dreizehn echten Fenster ergänzen. Graff hat in diesem Saal die lebendigste und schönste seiner Raum- schöpfüngen verwirklicht. Der bildhauerische Dekor bedeckt Wände und Decke.
Berühmt ist das Storchennest in der zentralen Deckenrosette geworden. Es ist aus echten Zweigen geflochten, die nur ein wenig vergipst sind. Seit 1992 (!) nistet auf dem Schornstein des Nordwestflügels eine echte Storchenfamilie, deren Nest durch das Fenster des Weißen Saales zu sehen ist.
Der prächtigste Raum im Südflügel ist das Rosenzimmer. Über die Wandver kleidung aus rotem Kunstmarmor ranken sich unzählige Girlanden aus Rosen und anderen Blumen. Ausgeprägter als irgendwo im Schloß sind hier die belieb ten Motive der Rokokoschlösser Berlin und Potsdam verwendet worden, die ihrerseits den Geschmack Friedrichs des Großen widerspiegeln. Der wunderbare Kronleuchter ist in einer kurländischen Glashütte in dieser Zeit hergestellt.
Johann Michael Graff hat in dem reich geschmückten Boudoir der Herzogin eine Diwan-Nische in Form einer Muschel geschaffen. 1769 dankte der Herzog zugunsten seines Sohnes Peter ab. Herzog Peter hatte eine wunderschöne Frau, Herzogin Dorothea, Tochter des letzten Reichsgrafen von Medem, und vier sehr schöne Töchter. Ein Porträt der Herzogin hängt im Vorraum des Goldenen Saales und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Herzog Peter vergötterte die Malerin Angelika Kauffmann (1741-18o7: klassische Bildnisse und mythologi sche Szenen von anmutiger Empfindsamkeit) und erwarb 18 Gemälde. Zwei davon sind im Schloß zu sehen. (Gemälde von Angelika Kauffmann hängen in der Eremitage, im Louvre, in Wien, Dresden und München.) Die Königl. Por zellanmanufaktur Berlin (KPM) brachte 1790 das “Kurland-Muster“ heraus. Herrliche Stücke aus dieser Zeit sind in den Vitrinen zu bewundern.
Herzog Peter war keine führende Persönlichkeit, hatte nicht die Energie des Vaters. So kam es, daß er 1795 das Herzogtum für eine Abfindung von zwei Millionen Rubel und eine Rente auf Lebenszeit an Rußland abtrat. Damit kam es zur Aufhebung der kurländischen Unabhängigkeit und zum Anschluß an Ruß land. Herzog Peter zog auf seine schlesischen Güter.
Für das Schloß begann eine wechselvolle Geschichte mit Verwüstungen, Plün derungen, Zweckentfremdungen. 1972 wurde ein selbständiges Schloßmuseum gegründet und mit einer Restaurierung des Schloßensembles begonnen, die noch andauert. Das Schloßmuseum hat viel angekauft, viel von anderen Museen erhalten und auch Schenkungen bekommen, so daß eine Einrichtung aus dem 18. Jh. gezeigt werden kann, die der seinerzeitigen entspricht.
Dem Schloßmuseum gehört eine große Sammlung von Werken der Malerei und der angewandten Kunst und es besitzt einen großen Bestand kirchlicher Kunst Lettlands. Auf einem Plakat am Eingang des Schlosses war zu lesen: “Ausstellung im Schloß Rundäle vom 12. Juni bis 31. Oktober 2000 - Kurland in Europa - Herzog Peter - Das Haus Biron und die kurländischen Legenden“.
In der größeren der ehemaligen Küchen wirkt jetzt das Schloßrestaurant. Dorthin konnten wir uns nach der Führung begeben und die überaus leckeren Vorbestel lungen genießen.
Aber damit war der Tag für uns noch nicht zu Ende! Im Anschluß an die Erholungspause fuhren wir weiter über Elley / Elega nach Mitau /Jelgava.
Elley / Elega: Im Mittelalter verlief hier der wichtigste Handelsweg zwischen Riga und Königsberg. In späteren Jahren gehörte das Schloß den Grafen von Medern. Wir wanderten durch den Park auf verwehten Spuren. Von dem einst so prächtigen Besitz ist fast nichts mehr zu finden.
Mitau / Jeljava hat heute 74.00o Einwohner. - Der Livländische Orden begann 1265 mit dem Bau einer Burg. 1573 Verleihung der Stadtrechte, seit 1617 ständi ge Residenz der Herzöge von Kurland, ab 1642 offizielle Hauptstadt. Bis weit in das 19. Jh. führte die Poststrecke zwischen St. Petersburg und Westeuropa durch Mitau.
1737 entwarf ebenfalls Rastrelli im Auftrag von Herzog Emst Johann ein prächtiges Barockschloß. Das Schloß sollte am Standort der alten Ordensburg, auf einer Insel zwischen den Flüssen Lielupe und Driksa entstehen. Damit musste auf einen Park verzichtet werden. Es wurde die Burgruine gesprengt und 1738 der Grundstein zum Schloß gelegt. Johann Michael Graff übernahm die bildhauerischen Arbeiten wie in Ruhenthal. Das Schloß wurde repräsentativer als das von Ruhenthal. Durch die Verbannung des Herzogs kamen auch hier die Bauarbeiten zum Erliegen. 1763 konnte weitergebaut werden und auch dieses Schloß erhielt - wie Ruhenthal - klassizistische Züge. Als Folge der vielen Brände blieb fast nichts von der ehemals prunkvollen Innenausstattung erhalten.
Das Schloß hat zwei Vemichtungswellen über sich ergehen lassen müssen: 1920 und 1944. In der Gruft der kurländischen Herzöge, der Dynastien Kettler und Biron, wurden Körper und Kleider verstreut gefunden. Man hat nach besten Erkenntnissen alles zugeordnet, Holzsärge angefertigt und jeweils in die restaurierten Sarkophage eingesetzt. Glanzstück ist der 1587 entstandene Prunksarg des ersten Herzogs von Kurland, Gotthard Kettler.
1955 - 1961 wurden Restaurierungsarbeiten im Inneren des Schlosses vorgenommen. Heute ist die einstige herzogliche Residenz Sitz der Lettischen Landwirtschaftsakademie mit 7ooo Studenten. - Der Öffentlichkeit zugänglich sind die Vestibüle und Gewölbegänge aus der ersten Bauperiode und die Gruft.
Mit einer Fülle von Eindrücken und um so vieles bereichert, fuhren wir zurück nach Riga in unser Hotel. Dort haben wir nach unserem gemeinsamen Essen den Tag teilweise auch nachdenklich ausklingen lassen.
Eleonore Krauter
8. Reisetag, Donnerstag 6. Juli
Nach drei stationären Tagen im Hotel Maritim in Riga verstauen wir unsere Koffer wieder im Bus und fahren in nordöstlicher Richtung. Daiva ist “stinkig” mit dem Fahrer Valentinas, der nicht auf sie gehört hat und nun den Weg allein finden muss.
Nach 40 km Fahrt erreichen wir Sigulda, das alte Siegenwald, mit der berühmten Rodel- und Bobbahn. Wir jedoch suchen “Altes” aus der Geschichte. Die Kirche aus dem 13. Jh., in recht schlechtem Zustand, bleibt für uns verschlossen. Aber neben dem Tor zur alten Zwingburg aus dem 13. Jh. graben ehrenamtliche junge Frauen und Männer, und wir können auf das Gelände hinter den Burgresten gelangen. Ein neues Freilichttheater neben den Ruinen animiert unsere Künstlerin Renate Kistenbrügge zu einem Balladenvortrag. Ein Stück weiter des Weges bietet sich der Ausblick über das Gauja-Tal auf die alte Burganlage von Turaida am anderen Ufer. Nun geht es im Bus über eine Brücke auf das andere Ufer, wo bald linker Hand die Gutmannshöhle liegt (12 m breit, 10 m hoch und 19 m tief). Der Legende nach ist hier auf tragische Weise durch eine verwickelte Liebesge schichte die wunderschöne Maija - genannt Roze von Turaida - ums Leben gekommen. Seitdem entspringt hier eine 6° warme Tiefquelle, deren Wasser alle menschlichen Beziehungen günstig beeinflussen soll. In den weichen Devonstein der Grotte haben sich seit dem 17. Jh. viele Besucher verewigt, auch eine Anna Magdalena von Tiefenhausen.
Auf dem nächsten Parkplatz müssen wir im Bus einen heftigen Hagelschauer abwarten, danach beginnt der Rundgang über den Burgberg von Turaida.
1. Stopp: Ehemaliger Kornspeicher, heute Cafe, leider seit Jahren wegen Reno- vierungsarbeiten geschlossen.
2. Stopp: Große Linde mit dem Grab der Roze von Turaida.
3. Stopp: Kirche von Turaida: Die Kirche hat mehrere Vorgängerkirchen gehabt, die heutige wurde 1750 als Holzkirche errichtet, und ist die einzig erhal tene livländische Holzkirche aus dem 18. Jh. Turm und Sakristei wurden später hinzugefiigt. Im Inneren geben die niedrige Decke und die Sprossenfenster einen ganz wohnlichen Eindruck. Und die Kirche erfüllt außer als Gottesdienstraum im vorderen Teil im hinteren den eines Museums über ihre eigene Geschichte.
4. Stopp: Volkslieder- und Skulpturenpark oder Dainu kalus - Berg der Lieder.
Die vierzeiligen Volkslieder der Letten, Dainas genannt, wurden von KriSjänis Baron (1865 -1944) gesammelt und ihm zu Ehren dieser Park 1985 eingerichtet.
in dessen Nähe er seinen Lebensabend verbrachte. Themen der Lieder sind:
Natur, Arbeit, Krieg, Liebe, Freude. Die Skulpturen des lettischen Bildhauers Indulis Ranka haben die gleichen Themen, alle befassen sich mit der lettischen Volkstradition, z. B. einem jungen Mann im Widerstand, eine Frau mit der Honigemte. Daiva ermuntert uns zu einem
Volkslied: “Geh aus mein Herz” scheint uns passend an diesem anmutigen Ort. Viele besteigen noch den erhaltenen Turm der Burg, bevor wir weiterfahren zum Gut Orellen.
Das Gut Orellen ist wieder einmal ein besonderes Ziel, abseits des allgemeinen Touristenweges! Die Frage huscht an meinem Ohr vorbei: Wer hat denn diesen Punkt aufs Programm gesetzt? Naja, unser Reiseleiter. Er hat nämlich in Heidel berg bei dem Theologieprofessor Hans von Campenhausen gehört, der auf diesem Gut seiner Vorfahren die Kindheit verbrachte. Eine ehemalige lettische Lehrerin, deren Sohn das Gut erworben hat und nun versucht, wieder etwas daraus zu machen, und bei der wir mit dreißig Personen angemeldet waren, führt uns durch das Haupthaus, das noch in erbärmlichem Zustand ist. Und trotzdem kann ich mir gut vorstellen, wie heimelig es in diesem Haus zuging mit seinen Holzwänden, die viele bunte Bemalungen statt Tapeten trugen.
Im 1. Stock des Lusthauses serviert uns die freundliche Lettin Tee, Piroggen, eine Hefebrezel und Makronen. Und es reicht für uns alle! Sie zeigt einen Aus stellungskatalog “Gutshof unter den Eichen” - Orellen und die Familie von Campenhausen in Livland von 1998. Die Ausstellung war im Schloßmuseum Rundale und im Herder-Institut Marburg zu sehen, initiiert vom Direktor Dr. art. h. c. Imants Lancmanis. Die Reisegruppe hat das schöne Buch am Ende meinem Mann geschenkt, es ist eine Freude, darin zu lesen. [Wir leihen es gerne aus!]
Im Bus eine weitere Überraschung: Frau Kistenbrügge und Frau Herzog ent schuldigen sich in vertonten Versen für ihre Verspätung am Anfang der Reise und servieren Vodka, der an diesem feuchten Tag so gut tut.
Unser Ziel ist heute Cesis, das ehemalige Wenden. Die alte, hübsche Hansestadt liegt inmitten des Hochlandes des Gauja-Nationalparkes. 1209 ließ sich der Schwertbrüderorden hier nieder, vom 13. bis 16. Jh. war Wenden die größte Festung des Ordens, Sitzungsort des Domkapitels und Residenz der Ordens meister, die in der Johanniskirche bestattet sind, u. a. Wolter von Plettenberg (1494 -1535). In der ehemaligen Vorburg ist heute das Museum untergebracht, über dem die lettischen Fahne weht, die hier im 15. Jh. zur lettischen Fahnegewählt wurde.
Valentinas fährt uns und Daiva zu dem Ausgangspunkt für einen Fußweg ins Gauja-Tal mit dem beeindruckenden “Ergenklintis un Gauja”, dem “Adler-” oder “Orgelfelsen”.
In dem kleinen, schnuckeligen Hotel Cesis, betrieben von einem Letten, einem Dänen und wohl auch einem Deutschen, ist das halbovale Restaurant besonders einladend. Wir werfen die letzten Santimus zusammen, denn morgen in Estland müs
sen wir mit Sentis bezahlen. Drei verschiedene Währungen während einer Reise, nicht konvertierbar, das bedeutet, dreimal sinnvoll das Restgeld auszugeben. Ich jedenfalls lasse mich einladen und behalte auch den Abend dieses inhaltsreichen letzten Reisetages in Lettland in bester Erinnerung.
Anke Becks
9. Reisetag, Freitag 7. Juli
Wir trennten uns von dem gemütlichen Hotel in Cesis, und da wir eine längere Fahrt vor uns hatten, konnten wir in Ruhe unsere Morgenandacht im Bus halten. Für mich neu und faszinierend war die Auslegung des Begriffes ‘Gerechtigkeit4, den Herr Pfarrer
Becks anders als im sozial-politischen Sinn verstanden wissen wollte. Gerechtigkeit - ein Verhältniswort: Gott wird der Bedürftigkeit des Menschen gerecht, und wir sollen den Bedürfnissen der anderen gerecht werden.
Lange konnte ich meinen Gedanken zu diesem Thema nicht nachhängen, da wurde Daiva ihrer Aufgabe als Reiseleiterin gerecht und informierte uns ausführlich über die Geschichte Lettlands von 1918 bis zur Gegenwart.
Am 18. November 1918 wird die Republik Lettland unter dem Ministerpräsidenten Karlis Ulmanis ausgerufen. Nach heftigen Kämpfen zwischen Sowjettruppen, denen sich die Lettischen Roten Schützen angeschlossen hatten, und deutschen Freicorps wird 1920 schließlich der Friedensvertrag mit Sowjetruss- land unterzeichnet. 43% des Landes, das 2000 Großgrundbesitzern gehörte, wird enteignet.
Die Unabhängigkeit des Landes dauert bis 1939, als der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin den Sowjets die Annexion Lettlands 1940 ermöglicht. 5000 Juden und 13000 Letten werden nach Sibirien deportiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Lettland also Sowjetrepublik und die Zuwanderung von 400000 Russen und 100.000 Menschen anderer Nationalitäten läßt den Bevölkerungsanteil der Letten von 83% auf 60% sinken.1987 erfolgt das dritte nationale Erwachen. Am 25.3.88 wird erstmals die rot-weiß-rote Fahne gehißt. Die berühmte 6oo km lange Menschenkette demonstriert für Unabhängigkeit, und 1990 wird die Unabhängigkeit ausgerufen. Doch russische Panzer lassen sich nicht aufhalten und töten mehrere Men schen, darunter einen 13-jährigen Jungen. Das Referendum vom März 91 bringt dann bei einer Wahlbe teiligung von 88% eine 74 prozentige Mehrheit für die Unabhängigkeit. 1992 wird eine eigene Währung eingeführt.
Während Estland von Anfang an die Unterstützung Finnlands und Schwedens hatte, Litauen auf Goldrück- lagen aus der Schweiz zurückgreifen konnte, bekam Lettland seine Rücklagen, die sich in Moskau befan den, nie zurück.
Im folgenden gab Daiva eine ausführ liche Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung der Baltischen Staaten, die ich tabellarisch festhalten möchte. Die Daten stammen aus der Kanzlei von Parlamentspräsident Landsbergis aus dem Jahr ‘99:
Während wir diese Ausführungen ge duldig anhörten, zog draußen sonnen beschienene Landschaft vorbei, weite grüne Wiesen, durchsetzt mit den leuchtenden Farbflecken der Weidenrös chen, und wir näherten uns allmählich dem Ort mit dem exotisch klingenden Namen Aluksne, deutsch schlicht Ma rienburg.
Der Bus hielt am Bibelmuseum vor der Kirche, nur leider war beides geschlos sen, und Daiva schlug einen Spazier gang vom Zentrum des 10000 Einwohner zählenden Städtchens zum Aluksne See vor. Von der Ordensburg, der Ma rienburg, die 1342 erbaut und 1702 ge sprengt wurde, war nur die Vormauer geblieben.
An der schön gelegenen Freilichtbühne konnte Frau Kistenbrügge noch einmal eine Kostprobe ihrer Vortragskunst geben, und dann zogen wir wieder zurück zum Bus am ruhigen Seeufer entlang - der Bootsverkehr soll erst noch entwickelt werden.
Die wiederholten Telefonate Daivas hatten Erfolg. Eine blonde Dame mit großem Schlüsselbund näherte sich dem Gebäude mit dem grünen Dach, einem ehemaligen Handelspavillon aus dem Jahre 1908, in dem wir uns Bibeln ansehen wollten. Aber der Schlüssel trat noch lange nicht in Funktion. Immer wieder wurde ein Prospekt mit do Beschreibung des Museums, auch in englischer Sprache, geschwenkt, aber der Eintritt
blieb verwehrt. In keiner Sprache hatte Daiva bei der blonden Dame Erfolg, nur als sie mit Geldscheinen raschelte, wurden wir endlich ins Vorzimmer eingelassen. Vier erhobene Finger zeigten den Eintrittspreis pro Nase, und die von Daiva gezückten Scheine wurden mit Mühe in den Schlitz eines Kästchens versenkt. Die Bitte um eine Quittung lehnte die Dame mit empörter Miene ab. Wieder wurde zur Abschreckung der Prospekt geschwenkt. Vielleicht ließen sich die Massen ja doch noch von der Besichtigung abhalten. Aber die große Gruppe behielt die Übermacht.
Unter lautem Ah und Oh öffnete sich das Gitter vor dem winzigen Raum, in dem dann wirklich die Bibel von Emst Glück und weitere lettische Bibeln zu sehen waren. Ernst Glück, aus dem Leipziger Raum stammend, wirkte in Aluksne von 1672 bis 1705. Er gründete die erste Schule für lettische Bauemkinder, bildete die Schüler dann zu Lehrern aus, die bei den Pfarrern einquartiert wurden. Glück selbst hat sich am slawistischen Institut in Leipzig weiter in der lettischen Sprache vervollkommnet, kehrte nach Aluksne zurück und übersetzte 1685 das Alte Testament und 1689 das Neue.
Nachdem die Gruppe an den Ausstellungsstücken vorbeidefiliert und das Haus wieder verschlossen war, erbot sich die Schlüsselgewaltige, uns die Kirche aufzuschließen. Dem prächtigen Äußeren dieses klassizistischen Baus aus den Jahren 1781-88 entsprach das freundliche helle Innere. Wir hörten, daß die Stuckarbeiten von einem Krakauer Meister ausgefiihrt wurden und das Altarbild ‘Taufe Christi4 die Kopie elftes Gemäldes von Francesco Albani ist.
Die Besichtigung war beendet, wir stiegen in den Bus und wollten abfahren. Da hieß es: Frau Schäfer fehlt! Es folgte eine aufgeregte Suche mit Posten an den
Ecken des Kirchplatzes. Um die Gemüter zu beruhigen ging Frau von Fircks ans Mikrofon und las von Vegesack 4 Verlust der Tanten'™. aus der Sammlung ‘Die Welt war voller Tanten1, die uns schon zu Beginn der Fahrt erheitert hatte. Zum Glück war der Verlust nicht endgültig, die Zahl der Reiseteilnehmer bald wieder aufgeftillt, und es ging mit einiger Verspätung weiter.
Hinter Veclaine erreichten wir um 13.20 Uhr die estnische Grenze und wunderten uns über den geringen Autoverkehr. Die Pässe wurden wieder eingesammelt, und wir warteten geduldig. Das Schild weckte gewisse Assoziationen, doch die Sanitärpause ließ auf sich warten!
Als alle Geldwechselaktionen getätigt worden waren (1 DM » 8 Kronen), ging die Fahrt nach einer Stunde weiter. Auf der estnischen Seite grüßten die drei Löwen des dänischen Königs, die zum Wappen Revals und damit auch Estlands wurden.
Nach einiger Zeit bogen wir von der Straße nach Pskov in nördlicher Richtung ab, um den Nationalpark Haanja mit der höchsten Erhebung, dem Suur Munamägi, dem Großen Bierberg, zu erreichen.
Wir stiegen nicht aus, um den Gipfel zu besteigen, denn wir wurden ja von Frau Margit Utsal zum Kaffee erwartet, wie Daiva schon lange angekündigt hatte. Mit der telefonischen Anmeldung hatte es wohl nicht so ganz geklappt, denn Daiva verkündete leicht frustriert: “So stark telefonisiert wie Litauen (99 %) ist Estland noch nicht!
Wir fanden aber die Abzweigung zur Vaska Tourist Farm leicht, und da sich Valentin mit Recht weigerte, den Bus auf den Feldweg zuschicken, näherten wir uns zu Fuß dem Picknickplatz, wo in idyllischer Lage oberhalb des Vaska Sees eine prächtige Tafel fiir uns gedeckt war. Mit Gebäck, frischgebackenem saftigem Schwarzbrot und selbstgemachtem Streichkäse durften wir uns bedienen, auf der Wiese lagern und bekamen dazu Volkstänze einer Trachten gruppe geboten - eine Augenweide! Auch zum
Mittanzen wurden wir aufgefordert, und, erhitzt nach reichlicher Bewegung, genossen wir eine weitere Stunde in dieser Abgeschiedenheit. Der Abschied fiel uns wahrhaftig schwer!
Durch Vöru am See Vagula järv entlang, ging es in die Estnische Schweiz nach Otepäa, In einen Ort, der für den Wintersport, vor allem für das Skilaufen bekannt ist. Auch die russischen Schriftsteller Sol schenizyn und Sacharov haben sich dort gerne aufgehalten.
Bei dem Ort Elva gab es von Daiva wieder eine schöne Geschichte. Die ersten Häuser des Ortes gehörten einem Georgier, der Angst vor Donner und Blitz hatte, und bei einem heftigen Gewitter rief er *elva‘ aus, das estnische Wort für Blitz!
Die Einfahrt nach Tartu / Dorpat, der zweitgrößten Stadt Estlands erfolgte über die Rigastraße. Wir hörten, daß die Stadt an Bedeutung zugenommen habe und jetzt ein wissenschaftliches und kulturelles Zentrum sei. Der Vorschlag des Ministerpräsidenten, einen Teil der Ministerien dorthin zu verlegen, wurde jedoch nicht angenommen.
Um unser Hotel Ihaste zu erreichen fuhren wir allerdings wieder aus dem Stadtgebiet heraus und fanden es in einem Wohngebiet mit eigenartig zusammengesetzter Architektur. Säulenbestandene ‘möchtegeme* Prunkvillen wechselten mit Häusern, die unfertig dastanden, bei denen in Eigenarbeit Stein auf Stein aufeinandergesetzt war. Auf etwas verschachtelt angelegten Gängen und Treppen erreichte schließlich jeder sein Quartier im Hotel.
Ute Metzler
10. Reisetag, Samstag 8. Juli
Das abgelegene Hotel Ihaste - wenn es denn ein Hotel war - wollen wir rasch vergessen, auch das Abendessen auf viel zu engem Raum, eingepfercht neben der doppelten Kegel bahn, und auch das überraschend gute Frühstücksbuffet in einem anderen fensterlosen Kellerraum - denn Dorpat, die alte estnische Universitätsstadt seit 1632 und mit gut hunderttausend Einwohnern heute zweitgrößte Stadt Estlands erwartet uns mit etwas kühlerem, aber sonnigem Wetter.
Trotz mancher Bausünde in sowjetischer Nachkriegszeit und mancher Baulükke ahnt man noch, daß Dorpat / Tartu als “die schönste Stadt Estlands und Perle des Klassizismus” gepriesen wird, wenn man auf dem etwas gestreckten, aber doch wohlproportionierten Vitoli-Barclay-Platz steht, der sich leicht erweiternd und etwas ansteigend vom Ufer des Emajgi bis zum Rathauszieht. Der Name des Platzes erinnert an den russischen Fürsten Michael Bogdanowitsch Barclay de Tolly, der aus einem livländischen Adelsgeschlecht schottischer Herkunft stammt und am 27. 12. 1761 in Luhde-Großhoff in Livland geboren wurde. 1810-12 war er zaristischer Kriegsminister und 1812 Oberbefehlshaber der russischen Hauptarmee gegen die Große Armee Napoleons I. Barclay starb am 26. Mai 1818 in der Nähe des ostpreußischen Insterburg.
Die alte, unter der Zarin Katharina 1781 - 84 erbaute Kivisild-Brücke, die erste Steinbrücke in Livland überhaupt und das Wahrzeichen der Stadt, wurde 1941 von den Russen auf
ihrem Rückzug gesprengt. - Auf dem Weg zum Rathaus steht rechter Hand das “Schiefe Haus” von 1793, in dem einst der Schriftsteller Oskar Luts arbeitete. Heute ist in seinem Obergeschoß eine Kunstgalerie eingerichtet.
Wegen des gleitenden, sandigen Baugrundes mussten die größeren Gebäude auf Holzpfäh
len gegründet werden, die nun, infolge des sinkenden Grundwasserspiegels, zu verrotten
drohen. Auch das schöne klassizistische drei geschossige Rathaus, 1789 von Johann
Heinrich Bartholomäus am oberen, südsüdwestlichen Ende des Vitoli-Barclay-Platzes
erbaut, ist auf Pfählen gegründet. 1805 erhielt es “im Interesse der Universität” - will
heißen: um Professoren und Studenten zur Pünktlichkeit zu erziehen - eine Uhr.
Links am Rathaus vorbei steigen wir auf zum Domberg. Hier stand eine estnische Bauemburg, die 1030 vom Kiewer Fürsten Jarosław Tark / “der Kluge” erobert wurde. 200 Jahre später, 1234, nachdem die Deutschen Ordensritter nach 25-jährigem Kampf Tartu gewonnen hatten, wurde Tartu regionales Zentrum und Bischofssitz und auf dem Domberg wurde zur Sicherung der Eroberung und Kolonisierung eine neue Burg angelegt. Als Tartu Ende des 13. Jh’s der Hanse beitrat, umgab die Stadt eine zwei
Kilometer lange Mauer mit achtzehn Türmen und mehreren Toren. Günstig an
zwei sich kreuzenden Femstraßen gelegen blühte es vor allem durch den Handel
mit Pskow / Pleskau und Nowgorod auf.
Nach dem leichten Aufstieg vom Südosten her bleiben wir vor der zwischen 1807 und 1810 erbauten Sternwarte stehen, die sich zu Anfang der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen astronomischen Forschungszentrum entwickelte. Ihr erster Direktor war der am 15. April 1793 im dänischen Altona geborene Geodät und Astronom Friedrich Georg Wilhelm Struwe, später Professor in Sankt Petersburg, wo er am 23. November 1864 starb. Mit Hilfe des von Fraunhofer entwickelten Refraktors - damals das größte Teleskop der Welt - untersuchte Struwe die Doppel- und Mehrfachsteme und katalogisierte den Sternenhimmel. 1836/37 bestimmte er den Höhenunterschied zwischen Kaspischem und Schwarzen Meer. - Im Wende-Jahr 1989 wurde auf dem Observatorium die estnische Nationalfahne gehißt.
Vor der Anatomie steht die Büste des Mediziners und Sammlers estnischer Sagen Friedrich Robert Faehlmann (1798 -1850). Das älteste Denkmal auf der Anlage des Dörnbergs ist das von Johann Wilhelm Krause, dem Architekten und Erbauer der Universität, 1806 geschaffene Völkerdenkmal, unter dem die beim Ausschachten der Baugruben für die Universitätsgebäude gefundenen unbekannten Gebeine bei gesetzt wurden.
Vorbei an Teufels- und Engelsbrücke, 1907 bzw. 1838 erbaut, - erstere soll nach einen Dorpater Professor namens Manteuffel benannt sein - erreichen wir die imposante Ruine des Doms mit seiner in Höhe und Mächtigkeit beeindruckenden zweitürmigen, wehrhaften Westfassade. Die älteste Bausubstanz stammt aus dem 13. Jh. Im 15. Jh. erweitert zu einer fünfschiffigen Basilika mit acht Jochen wurde die einst größte Kirche des Baltikums in Livländischen Krieg (1558 - 1583) zerstört. Während vom weiten Kirchenschiff nur noch die romantisch anmutenden Tragsäulen mit ihren gotischen Bögen vorhanden sind, baute Johann Wilhelm Krause den Chorraum zu einer lichten Universitätsbibliothek um. Heute ist in ihm auf drei Zwischenetagen das Historische Museum der Universität untergebracht.
Gegenüber der NW-Ecke des Domes steht auf einem kleinen romantischen Hügel die Statue des jung verstorbenen estnischen Schriftstellers Kristjan Jaak Peterson (1801 - 22), dargestellt als zügiger Wanderer mit flatterndem Bauernrock und Wanderstab in Erinnerung daran, daß er den 250 km langen Weg aus seiner Heimatstadt Riga zur Dorpater Universität, wo er als erster Este studieren durfte, zu Fuß zurücklegen musste.
Unweit davon steht an einem kleinen Rondell das Standbild von Karl Ernst Ritter von Baer, mit einem leichten Mantel auf einem Sessel sitzend und ein Buch studierend. KEvB wurde am 28.2. 1792 auf Gut Piep bei Järvamaa geboren, studierte in Dorpat und war hier und in Königsberg Professor der Anatomie und Zoologie. Als Entdecker der Säugetiereizelle 1826 gilt er als der frühe Begründer der Embryologie. Auch auf anderen naturkundlichen Gebieten tat er sich hervor: So erkannte er, daß in Eurasien alle in NS-Richtung fließende Flüsse infolge der Erdrotation (Kurlionis Kraft) ein höheres Ost- und ein niedrigeres West-Ufer haben. Forschungsreisen führten ihn zum Kaspischen Meer und zur Halbinsel Novaja Semlja im Nordpolarmeer. Den Fischern am Peipussee empfahl er zur Schonung der Jungfische grobmaschigere Fangnetze. KEvB starb am 28. 3. 1876 in Dorpat.
Am Fuß des Domberges zur Innenstadt hin liegt das ebenfalls von Johann Wilhelm Kraus 1805 - 09 erbaute und im klassizistischen Stil gehaltene Hauptgebäude der Universität mit seinen mächtigen, antikisierenden Frontsäulen. Die Aula im Inneren hat wegen ihrer Säulen aus Kiefem-Hohlstämmen eine wunderbare Akustik, ist dadurch allerdings auch feuergefährdet. - An der ehemaligen Universitätskirche, die heute das
Philologische Seminar beherbergt, war seit 1902 der praktische Theologe Traugott Hahn Universitätsprediger. Im Januar 1919 wurde er von der Revolutionsregierung verhaftet und unmittelbar vor der Befreiung Dorpats erschossen. Traugott Hahn entstammte einer bedeutenden Theologenfamilie: Sein Großvater Hugo war Pfarrer der deutschen Gemeinde in Kapstadt und leitete im Auftrag der Rheinischen Mission Wuppertal-
Barmen in Südafrika die Mission unter den Hereros. Sein gleichnamiger Vater war Pastor zunächst auf Oesel und in Livland und schließlich Pfarrer der deutschen St.-Olai-Kirche in Reval / Tallinn, von wo er 1915 nach Sibirien verbannt wurde. Der Sohn des Universitätspredigers Wilhelm war Ende der 50-er Jahre Rektor der Heidelberger Universität und zu Beginn der 60-er Jahre Kultusminister von Baden-Württemberg.
Auf einem kleinen, schönen Platz an der Nordseite der Kirche steht das 1992 in Gegenwart des schwedischen Königspaares wiedererrichtete Denk mal für Gustav II. Adolph mit der Sockelinschrift: "FUNDATOR UNIVERSITATIS DORPATIENSIS - GUSTAVUSIIADOLPHUSREXSUE- CIAE”. Die Gründungsurkunde für die nach dem berühmten Uppsala zweiten schwedischen Universität hatte Gustav Adolph auf seinem Kriegszug zur Unterstützung der deutschen Protestanten 1632 in Deutschland unterschrieben.
Die 1310 von einem Lübecker Meister erbaute und weit über die Grenzen des Baltikums hinaus für ihre Terrakottaplastiken bekannte Johanniskirche macht immer noch einen sehr trostlosen Eindruck. Das Dach wurde zwar inzwischen erneuert, aber der Turm ist weiterhin rissig. In den 50-er Jahren sollte die 1944 ausgebrannte Ruine abgerissen werden, was aber durch die Intervention eines namhaften Kunstgeschichtlers verhindert werden konnte. Inzwischen in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
wird der Baukörper mit Mitteln des Bundesministeriums des Inneren in Berlin zumindest stabilisiert.
An die Schrecken der jüngsten sowjetischen Zeit erinnert ein trostloses Gebäude südwestlich der Johanneskirche, in dessen Kellerräumen 1941 vor dem deutschen Einmarsch 192 politische Gefangene erschossen wurden. Nach Rückkehr der Russen 1944 wurden ihre Gräber umgepflügt. An der Südseite steht das einstige Gymnasium Dorpats im “Zopfstil”, dessen Gründungsrektor Hugo Troffler dafür sorgte, daß durch Gewährung von Stipendien auch arme Schüler aufgenommen werden konnten.
Der fast dreistündige Rundgang hat wohl allen deutlich werden lassen, welche Bedeutung besonders die Universität über Estland hinaus für das Baltikum hatte. Wenn auch die Forschung und geistige Bildung ausschließlich von deutschsprachigen Professoren und bis auf wenige Ausnahmen auch für deutschsprachige Studenten betrieben wurde, so hatte sie doch zumindest indirekt Wirkung auf die Heranbildung einer estnischen Führungsschicht. Durch den Wechsel der Professoren hin und her nach und von deutschen, vor allem preußischen Universitäten war die Verbindung zum Mutterland immer gewährleistet, wenngleich die Grundhaltung in den Geisteswissenschaften und der Theologie in der Regel konservativ blieb. Die Ausstrahlung der Universität - auch durch Forschungsreisen nach Rußland - diente der Vermittlung geistigen und naturwissenschaftlichen Wissens über das Baltikum hinaus ins europäische Rußland.
Nach der sehr informativen Führung hatte Daiva uns ein schönes Kellerlokal empfohlen, und hier fanden sich peu ä peu auch die meisten von uns ein.
Gestärkt von einem guten Essen überlegte jeder, wie er den geschenkten freien Nachmittag bis zur gemeinsamen Busrückfahrt ins Hotel, das keines war, nutzen könne. Einige erkundeten noch einmal die Altstadt und fanden bald ein Straßencafe. Andere machten sich in die ehemalige Mühlenstraße auf, um das Haus zu suchen, in dem Else Hueck-Dehios Roman “Liebe Renata” spielt. - Ich selbst stieg noch einmal auf den Dörnberg, um das im Domchor auf mehreren Zwischenetagen eingerichtete Universitätsmuseum zu besuchen. Die aus schließlich estnische Beschriftung machte die Übersicht zwar nicht gerade leicht, doch die Anordnung der Ausstellungsstücke - medizinische und astronomische Instrumente, originale Studierzimmer, Bücher und Urkunden - war recht anschaulich. Ganz im Gegensatz zur estnischen Beschriftung war das Gros der ausgestellten Urkunden und Bücher - wie nicht anders zu erwarten - deutsch. Vor allem drei alte Schriften erregten mein Interesse, deren Titelblätter ich mir notierte und hier in den Kästchen wiedergeben habe.
Alles in allem war der Aufenthalt im stillen und nahe der russischen Grenze etwas abgelegenen Dorpat, das man nicht mit den jetzigen Hauptstädten Riga oder Tallinn vergleichen darf, anregend und die Muße am freien Nachmittag auch spürbar erholsam.
Manfred Becks
11. Reisetag, Sonntag 9. Juli
Eine weite Strecke liegt heute vor uns, darum auch der zeitige Aufbruch (8.30 Uhr) von Tar tu / Dorpat.
Wir verlassen die Stadt Richtung Norden, durch eine Landschaft, die durch ein leichtes Auf und Ab gekennzeichnet ist. Dichte Wälder, ausgedehnte Wiesen, kleine und große Seen, die im Sonnenlicht blinken, Störche, die auf Futtersu- che für ihre meist zahlreiche Nachkommenschaft sind, (Anzeichen für einen feuchten Sommer - auch bei uns?), eingestreute Bauernhöfe, zu denen schmale Sandwege fuhren, mit hübschen Bauemgärten, verlas sene Kolchosen begleiten unseren Weg.
An der Mündung eines der etwa dreißig Zuflüsse in den Peipussee liegt Mustvee (must vesi = Schwarz-Wasser). Ende des 18.Jahrhunderts siedelte sich hier eine große Zahl Altgläubiger an, die die Reformbewegung der russisch-orthodoxen Kirche nicht mitmachen wollten und darum in ihrer Heimat verfolgt wurden. Eine russisch-orthodoxe Kirche ist im Ort erhalten geblieben.
Hier liegt auch die weite Fläche des Peipussees vor uns. Er ist der viertgrößte Binnensee Europas (50 km breit, 140 km lang und 8 m tief). Dank der warmen Wassertemperaturen im Sommer und der vielerorts schönen Sandstrände eignet sich der See zum Baden.
Hinter der oft mit Schilfbewachsenen Uferzone breiten sich Kiefern und Birken in lockerem Wuchs aus. Fischfang - oft wenig ertrag reich - und Gemüseanbau sind die Haupterwerbszweige der Men schen am Peipussee, vom spärlichen Tourismus abgesehen. Die Erzeugnisse werden am Straßenrand zum Verkauf angeboten. Manch schöner Blumengarten erfreut das Auge.
Während der Fahrt nach Narva nutzt unsere unermüdliche Reiseleiterin Daiva die Zeit, uns über die wirt schaftliche Situation Estlands zu informieren.
Estland war auch in das Wirtschaftssystem der Sowjetunion eingebunden. Schon 1987 faßten hier die Ideen besonders der wirtschaftlichen Souveränität Fuß. Grund war der geplante Ausbau der Phosphorminen in Nordestland, der katastrophale Umweltschäden zur Folge gehabt hätte. Große Probleme kamen beim Aufbau der Wirtschaft hinzu: veraltete Technik, ungeklärte Eigentumsverhältnisse, die die Investitionen hemmten, Unsicherheit der Menschen über ihre Zukunft, um nur einige zu nennen. Um die wirtschaftliche Situation zu verbessern, strebte man vor allem die Privatisierung an. Als Vorbild für eine freie Wirtschaft galt Finnland.
Im ersten Jahr der freien Wirtschaft gab es bereits 2000 kleine Privat betriebe, meist landwirtschaftliche Betriebe. Die wirtschaftlichsten Kolchosen wurden von deren Vorsitzenden übernommen. Viele der Kleinbauern hatten und haben es schwer, auf den überdüngten Böden
genügend Ertrag zu erwirtschaften, um überleben zu können. Weite Flächen liegen brach. Während der fünfzig Jahre sowjetischer Besetzung ist aus dem fruchtbaren Wald- und Ackerland ein ökologisches Notstandsgebiet geworden. Um die Wirtschaft auf einen konkurrenz
fähigen Standard zu bringen, sind eine Modernisierung und eine bessere Ausnutzung der Energie vorrangig.
Heute sind die Hauptindustriezweige: Bekleidungs-, Nahrungsmittel-, Holz- und Möbelindustrie sowie die Metallverarbeitung z. B. die Herstellung von Meßinstrumenten und Elektromotoren. Hauptexport länder sind Rußland, Finnland und Deutschland, von denen Rußland aber nur selten bezahlt. Besonderes problematisch für das Land ist, daß vor allem für die landwirtschaftlichen Produkte im Westen nur geringe Absatzchancen bestehen.
Estland kann aufgrund der Ölschiefervorkommen in der Gegend um Narva seine Elektrizität selbst produzieren, sogar Lettland und die Region um St. Petersburg mit Strom versorgen. Auch hier akzeptiert man, daß Rußland nicht bezahlt.
Ölschiefer hat nur geringen Brennwert und ist somit für die Energieerzeugung wenig geeignet. Dement sprechend große Mengen wurden bisher abgebaut, ohne daran zu denken, daß die auch enthaltenen wertvollen Grundstoffe für die chemische Industrie dabei verlorengingen und durch den Raubbau die Vorräte an Öl schiefer in ca 30 Jahren erschöpft sein werden. Die beiden Kraftwerke nahe Narva (Kothla-Järve und Jöhvi) produzieren Unmengen von Schwefeldioxyd, durch das die Umwelt - Luft, Böden, Mensch und Tier - in höchstem Maße belastet wird. Außerdem sickern Giftstoffe von den Halden ins Grundwasser. Ähnlich problematisch ist die Produktion von Papier, Zellstoff sowie von Düngemitteln u.a. in Tallinn, wo bereits ein Betrieb ganz, andere teilweise stillgelegt wurden.
Der Kampf um die Unabhängigkeit Estlands begann mit einem Umweltproblem. Im unabhängigen Estland ist das Problem geblieben, aber man weiß um die Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen und zu erhalten.
Es würde zu weit führen, all die statistischen Angaben, die Daiva uns mitteilte, hier niederzuschreiben, zumal sich diese Angaben in der Zeit des Umbruchs sehr schnell ändern. Wichtig ist noch zu erwähnen, daß in der Zeit der sowjetischen Besetzung des Landes besonders in der Umgebung von Narva viele russische Industrie arbeiter mit ihren Familien angesiedelt wurden mit der Intention der Zurückdrängung der Esten und deren Kultur. Darum ist der russische Bevölkerungsanteil hier sehr hoch (96%). Heute kommt es gerade in diesem Gebiet häufig zu Unruhen u.a. wegen der Staatsangehörigkeit. Diese Unruhen werden über die Medien von russischer Seite geschürt.
Unter dem Eindruck der vielen Informationen über Estland erreichen wir zur Mittagszeit Narva - eine Stadt ohne Gesicht. Monotone Reihen und Quader der Blocks in Plattenbauweise mit abgeplatzten Anstrichen, kaum mal eine Grünfläche, welche die Schäbigkeit, die Eintönigkeit unterbrechen würde. Den Menschen ist wahrscheinlich nur die Pflege der eigenen Wohnung wichtig; denn gelegentlich sieht man Menschen an Fenstern, Balkonen arbeiten, mit bescheidenen Mitteln ihr Wohnfeld nach eigenen Vorstellungen gestalten.
Die Hennannsfeste beherrscht das Stadtbild. Ursprüng lich als Holzkonstruktion gebaut, wurde sie Mitte des 14. Jahrhunderts von den Dänen kastellartig ausgebaut. Der “Lange Hermann“ überragte schon damals die An lage. Unter den Ordensrittern erfolgte der Ausbau schon fast bis zur heutigen Größe. Die Schweden errichteten Uggt- weitere Gebäude, vor allem den Befestigungsgürtel. Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts diente die Festung als
Kaserne. Im 2. Weltkrieg wurde sie durch schwere Kampfhandlungen stark zerstört. Seit 1955 ist man mit dem Aufbau beschäftigt. Der “Lange Hermann“ dient heute als Stadtmuseum, in dem u.a. eindrucksvolle Bilder aus der Geschichte der Stadt Narva zu sehen sind.
Eindrucksvoll ist der Blick vom Wehrgang des “Langen Hermann“ auf die Umgebung der Stadt1 besonders auf die am anderen Ufer der Narva (Narova) gelegene Festung Iwangorod - von Iwan III. erbaut. Die Narva bzw. die beiden Festungen waren immer schon Grenze zwischen Ost und West, so wie es auch heute noch ist.
Obwohl man ohne Visum diejGrenze nicht passieren kann, ist der kleine Grenzverkehr zwischen Estland und Rußland sehr lebendig Man ist unterwegs von hüben nach drüben mit den unterschiedlichsten Waren: Blumen, Teddybär, Waschbecken, Rohren, Flaschen und vielem, was sich in den großen Einkaufstaschen verbirgt und mit den selbstgebastelten Einkaufswagen transportieren läßt.
Unweit der Stadt Narva am Finnischen Meerbusen liegt ein beeindruckender Sammelfriedhof für die gefallenen Deutschen, die bei den schweren Kämpfen im 2. Weltkrieg an der Narva-Front ums Leben kamen. Seit 1996hat man auf dem Gräberfeld 3500 Gefallenen eine würdi
ge Ruhestätte geschaffen. Die Namen der Toten sind in Stelen eingemeißelt.
Die Fahrt entlang der Küste des Finnischen Meerbusens führt über Sillamäe-Toila nach Ontika und Valaste, wo die Glintküste - eine 20 km lange Steilküste mit horizontal gelagerten Silursedimenten - ihre größte Höhe mit 55,5 m erreicht. Bei Valaste kann man den höchsten Wasserfall Estlands bewundern, der 26 m tief ins Meer fällt.
Immer wieder bietet sich auf unserer Fahrt Richtung Tallinn ein Blick auf den Finnischen Meerbusen bis wir bei Lümala Richtung Rakvere/Wesenberg abbiegen. Die Ruine der Ordensburg überragt die Stadt und ist weithin sichtbar.
Auf der Autobahn erreichen wir jetzt schnell unser Tagesziel: Tallinn/Reval, wo wir im Hotel “Central“ gut untergebracht sind. Nach dem Abendessen machen wir mit Daiva einen Spaziergang zu den wichtigsten Sehens würdigkeiten der Unterstadt: Rathausplatz, Ratsapotheke, Handwerker- und Kaufmannshäuser, die “Dicke Margarete“, Stadtmauer, “Langes Bein“, “Kurzes Bein“,...
Daß es in der Stadt nicht immer so ruhig zugeht und wie anziehend sie für Touristenströme aus aller Welt ist, das sollten wir erst am übernächsten Tag bei der Stadtführung erfahren.
Lucie und Erich Krikkis
12. Reisetag, Montag 10. Juli
Im Nationalpark Lahemaa „Land der Buchten“
Gummistiefel, Wasserschuhe, Schuhwerk ungenügend?
Ein Höhepunkt des Tages war bereits für den Vormittag geplant: Eine Wanderung durch das Viru Hochmoor über eine Strecke von 3,5 km. Die Sonne empfing uns am Morgen mit strahlendem Sonnenschein, und wir vergaßen alle Sorgen um evtl, fehlende wasserdichte Schuhe.
Die Moorlandschaft ist Teil des estnischen Nationalparks Lahemaa (Buchtenlandschaft), die etwa 40 km östlich von Tallin liegt. Während der Busfahrt erfuhren wir von Reiseleiterin Kadri mehr: Der 680 km2 große Nationalpark Lahemaa stellt ein Gesamtbild dessen dar, was die Natur Nordestlands an typischer Landschaft im Urzustand zu bieten hat. Er wurde bereits 1971 angelegt, um die ursprünglichen Natureigenheiten sowie die kulturellen und historischen Denkmäler zu erhalten. Ungefähr 70 % des Territoriums ist naturbelassenes Gelände meist mit Wald, auch Urwald und Hochmoor bedeckt; deswegen konzentriert sich das Hauptinteresse der Besucher auf Wälder und Moore, sowie auf ortsfremdes Gestein wie z.B. Riesenfind- linge des einst vergletscherten nordeuro Pflanzenarten, die bereits auf der Roten Liste verzeichnet sind, können hier gefunden werden. Außerdem gibt es 14 Seen sowie zahlreiche Bäche und Flüsse. Zur Zeit bestehen fünf streng geschützte Zonen, in denen als seltene Bewohner Braunbären, Luchse, Nerze, Wölfe, Biber und Elche Vorkommen, hinter den Vögeln sind Schwarzstörche, Seeadler und Prachttaucher anzutreffen. Unsere Blicke glitten nach draußen zu den dichten Fichtenwäldern: Würden wir hier im Unterholz endlich den ersten Elch entdecken? Und Ute und Willi M. hatten Erfahrung: Gegen angrifislustige Braunbären hilft Singen. In Gedanken zückte ich bereits das grüne Liederheft.
Das Viru Hochmoor konnten wir trockenen Fußes über die Planken des Bohlensteges durchqueren. Vom Beobachtungsturm des Lehrpfades genossen wir die Schönheiten der dunklen Sumpfceen, in denen sich der blaue Himmel spiegelte und die Eigenart der Krüppelkiefem. Letztere sind durch den Wind und den nährstoff armen Boden in den letzten 100 Jahren zu knorrigen Gebilden geworden. Man glaubte früher, es handle sich um Feen, die bei Tageslicht die Form von Bäumen annehmen. Am Boden betrachte ten wir Moose, Beeren und Pilze. Doch bis auf eine kleine Eidechse und einen entfernten kurzen Kuckucksruf - von Elchen, Braunbären oder seltenen Vögeln keine Spur und keinen Ton. Kadri wusste die Lösung: Im Moor herrscht Stille.
Über Vitna erreichten wir das inmitten des Land schaftsparks gelegene barocke Gutshofensemble Palmse der Familie von Pahlen (Eigentum von 1674 - 1923). Prominente Familienmitglieder waren Carl Magnus von der Pahlen (1779- 1863), Generalgouvemeur der Ostseeprovinzen und Baron Alexander von der Pahlen (1820-1895), Haupt der Ritterschaft Estlands und Initiator der Baltischen Eisenbahn. Als letzten Besitzer sahen wir Fotos aus dem Jahre 1923 von Georg von der Pahlen und seiner Familie, die noch heute vor Ort aktivin Erscheinung tritt.
1972 begannen die Russen ihren Plan zu verwirklichen, Palmse als einheitliches Gutsensemble wieder aufzubauen und hier ein Kulturzentrum zu errichten. Mittelpunkt ist das ehemalige Herrenhaus, das Ende des 18. Jahrhunderts unter Anleitung des bekannten Gouvemementarchitekten J. C. Mohr umgebaut wurde. So sehen wir das Hauptgebäude auch heute.
Wir konnten uns im Musiksaal durch ein Streichquartett mit Wiener Klassik in Empfang genommen fühlen. In Wahrheit aber übten die Musiker für ein Benefiz konzert, bei dem für die weitere stilgemäße Möblierunggesammelt werden soll. Außer den Rokokokachelöfen war von der ursprünglichen Möblierung nur ein durch gesessener Lederstuhl im Schlafzimmer zurückgeblieben. Die zahlreichen übrigen Gutsgebäude sind eben falls restauriert und werden u.a. als Brennerei und Hoel genutzt. Leider war an diesem Montag das Cafć geschlossen. Aber Bauern verkauften am Straßenrand Erdbeeren, und der Fahrer hatte Kaffee gebrüht.
Weiter ging unsere Fahrt nach Sagadi, dem ehemaligen Besitz der Familie von Fock. Das 1750 erbaute eingeschos sige Gutshofensemble bietet zusammen mit dem Park, den Teichen, der Allee zum Meer und den Wirtschaftsgebäuden einen reizvollen Anblick. Im Jahre 1977 wurde mit den Renovierungsarbeiten begonnen mit dem Ziel, ein Schulungszentrum für Förster und ein Waldmuseum zu gründen. Wir sahen u.a. Stühle, eingerahmt mit Elch- und Hirschgeweihen. Ob sie wirklich bequem sind? Wir hätten es gerne ausprobiert. Gleichzeitig dient das Gebäude als Kulturzentrum für Konzerte, Ausstellungen und Theaterauffiihrungen.
Da die Küstengegend jahrzehntelang Teil der verbotenen Zone war, sind die alten Fischerdörfer nahezu unverändert geblieben. So ist das malerische Fischerdorf Altja am Finnischen Meerbusen eines davon und verleiht der Umgebung eine reizvolle, nostalgische Abwechslung. Wir fühlten uns zwischen den alten Fischerhäusem mit ihren gepflegten Blumengärten und den geschützten Wegen am Wasser wie in der Som merfrische Anfang des Jahrhunderts. Ich warf einen Stein mit dem Wunsch, es möge noch lange so idyllisch bleiben auf den haushohen Steinhaufen. Hoffentlich sind alle übrigen Wünsche der Gruppe in Erfüllung gegangen.
Dabei konnten wir auf unserer Fahrt auch hin und wieder einen neueren Betonklotz, sprich Reha-Zentrum, übersehen, offensichtlich in der guten Absicht gebaut, vielen kranken Menschen Erholung und Genesung zu gewähren. Von Feme über das Wasser sahen wir die weißen Häuser der Halbinsel Vergi, Segelhafen und Sitz einiger kleiner Fischverarbeitungsgenossenschaften.
Reizvoll war auch der Flecken Vösu am Südufer der Bucht von Käsmu. Seine Bedeutung verdankt er Intellektuellen und Künstlern, die im letzten Jahrhundert begannen, dort ihre Sommerhäuser zu errichten (heute 10.000 Bewohner im Sommer / 500 im Winter). Vor Winden geschützt, bietet die flache Bucht mit feinsandi- gem Strand und dem anschließenden Föhrenwald günstige und ruhige Erholungsmöglich keiten. Den Reiz des Ortes und seiner Umgebung macht der Reichtum an dicken bemoosten, manchmal manns- oder haushohen Findlingen und seine Quellen aus.
Wir machten Rast am Wasserfall Verlaste Juga, der am Steilhang der estnischen Küste ca. 26 m im freien Fall über grünen Schiefer zur Ostsee rauscht.
Beim traditionell letzten gemütlichen Abend konnte Wehmut nur zeitweise aufkommen, denn für den nächsten Vormittag war noch ein mit Sehenswürdigkeiten ausgefiillter Stadtrund- gang in Tallin vorgesehen. Dieser 12. Reisetag schloss mit einem herzlichen Danke für eine vielseitige, höchst informative und außerordentliche Reiseplanung und -begleitung an Frau und Herrn Pfarrer Becks. So manche fesselnde Andacht, z.B. die in der beeindruckend kunstvoll restaurierten Kirche von Nurmhusen, wird mir in Erinnerung bleiben.
Gerhild Bergknecht
13. Reisetag, Dienstag 11. Juli
VORBEMERKUNG: Der letzte Tag der Studienreise galt der Besichtigung von Tallinn / Reval, das sich infolge umfangreicher und sorgfältiger Renovierung der Altstadt mit Dörnberg und Unterstadt, aber auch anderer Stadtteile, als “Perle” der Hauptstädte der drei baltischen Staaten erwies. Start vom Hotel: 08.30 Uhr. “Kirche im Bus” fiel aus. Zunächst verabschiedete sich Daiva, unsere sehr gute und sachkundige, stets hilfreiche Führerin durch die drei baltischen Länder mit sehr herzlichen Worten. Sodann übernahmen zwei ortsansässige Führerinnen die Führung in Tallinn / Reval. Eine von ihnen war schon tags zuvor im Nationalpark Lahemaa unser Guide.
ALLGEMEINES ZUR HAUPTSTADT ESTLANDS: TALLINN/ REVAL
Tallinn/Reval - urkundlich 1154 (erste Estenburg ) erstmals erwähnt ist von den Dänen gegründet worden. Der Name leitet sich Taani Linn ab, was estnisch soviel wie “Stadt der Dänen“ bedeutet. Im Dänischen taucht der Name „Revele” für Tallinn auf, aus dem sich das deutsche „Reval” ableitet. Dänenkönig Waldemar II. landete mit großer Flotte 1219 in der Gegend des heutigen Tallinn, zerstörte die bereits erwähnte Estenburg „Lindamisa” und errichtete an ihrer Statt seine (neue) Burg. Erste estnische Zeugnisse liegen 5 000 Jahre zurück. Um die Burg entsteht das alte Tallinn mit Dörnberg (Oberstadt) und Unterstadt, beides entwickelt sich im Laufe der Zeit weiter.
Mit der Festsetzung der Dänen in Estland geht die Landnahme und Christi anisierung durch den von Bischof Albert von Livland 1202 gegründeten „Schwertbrüderorden” einher, der bis zum Tode dieses Bischofs 1219 bereits Livland, Estland und Teile Kurlands beherrschte. Im Zuge dieser Entwicklung gelangen viele Deutsche in jene Gebiete. Auf dem Lande etablieren sie sich als Gutsbesitzer, in den Städten, so auch in Tallinn, als Kaufleute, Advokaten, Professoren, Pastoren, Apotheker und auch als Handwerker. „Es entstand (dort) eine deutsche Stadt”, so der Große Brockhaus, Ausgabe 1956. Immerhin hatten 1918 siebentausend Deutsche in der estnischen Hauptstadt Tallinn vier Gymna
sien und in jeder estnischen Provinzstadt gab es eine deutsche Schule. Übrigens, gleich, ob unter schwe discher oder später russischer Herrschaft, die Amtssprache in Livland, Estland und Kurland war deutsch. Zur Zeit gibt es in Tallinn ein deutsches Gymnasium, an dem ab der 2. Klasse - bei 12 Jahren höherer Schule - deutsch gelehrt wird.
Das heutige Tallinn hat zwischen 400.000 und 420.000 Einwohner und bedeckt eine Fläche von ca. 180 km2. Es hat viele Kalksandsteinbauten aus dem 19./20. Jh. und seit 1880 eine Straßenbahn.
RUNDFAHRT IN TALLINN UND GANG ÜBER DEN DOMBERG
UND DURCH DIE UNTERSTADT VON TALLINN/REVAL
Rundfahrt: Die Fahrt führt über die große Narva-Straße und die Kreuzwaldistraße zu dem weiträumigen Park mit Anlagen des Katharinentales, estnisch: Kadriorg. Dort steht auch das repräsentative Barockschloß mit Haupt- und Nebenflügeln, erbaut von Gaetano Chiaveri, der auch die Hofkirche in Dresden erbaute. Außerdem gibt es dort auch zahlreiche Holzhäuser aus dem 19./20. Jh., die unter Denkmalsschutz stehen. Die Narva-Straße wurde im Krieg ziemlich zerstört. Dort waren viele Industriebauten, die nach und nach renoviert und dann einer anderen Funktion als ehedem zugeführt werden, wie es z.B. die neue Commerzbank ist. In der Kreuzwaldistraße sieht man auch die neuere Ar chitektur der 20-er und 30-er Jahre.
In Kadriorg befindet sich u.a. das Rundfunkhaus, das Parkhotel mit Spielkasino, das estnische Fernsehen (Estland verfügt über einen öffentl.-rechtl. Sender und drei Privatsender) sowie Ministerien und das deutsche Gymnasium.
Von Kadriorggeht die Fahrt zur Tallinn-Bucht mit Badestrand. Die chinesische Botschaft liegt am Wege, am Meeresufer das Russalka, ein von Amandus Adamson 1902 geschaffenes Monumentaldenkmal, das den Untergang des gleichnamigen Kriegsschiffes im Jahre 1893 im Finnischen Meerbusen darstellt.
Weiter geht's zum Sängerstadion bzw. Sängerfestplatz; bekanntlich sind auch die Esten sehr sangesffeudig. In der hohen, weiten Muschel der Bühne haben 30.000 Sänger Platz, die in Chören verschiedener Genese - Kinder-, Frauen-, Männer- und gemischte Chöre - auftreten. In der ersten Ausführung der Muschel hatten gerade mal 1.000 Sänger Platz. Das erste estnische Sängerfest fand in Tartu/Dorpat vom 18.-21.6. 1869 statt. Das Sängerfest in Tallinn 1999 war somit das 130., das von rd. 100.000 Zuschauern in zwei Tagen besucht wurde.
Die großen nationalen Sängerfeste, die immer mit der gesungenen Nationalhymne beginnen, finden alle ftinf Jahre in Tallinn statt. In der Zeit zwischen diesen großen Sängerfesten finden im ganzen Land Ausschei dungswettkämpfe der Chöre statt, denn nur die besten kommen nach Tallinn. Als Beispiel für die Notwen digkeit der Ausscheidungswettkämpfe mag die Tatsache dienen, daß es an einer Schule mehrere Chöre gibt.
Bis zur “Wende in Estland” waren diese Sängerfeste fiir den ethnischen Zusammenhalt der Esten unter fremder Herrschaft sehr wichtig und nötig. Nach der Wende begann in Estland eine Diskussion über den Wert und die Weiterführung der alle fünf Jahre stattfindenden nationalen Sängerfeste dahin, ob, nachdem man die Freiheit nun habe, diese noch nötig seien. Ergebnis: Weitermachen! Nächstes nationales Sängerfest in Tallinn 2004.
Weiter ging es die Küste entlang in Richtung NO, vorbei an schönen Anlagen, Marienberg, Treppe zum Schloß des (russ.) Grafen Orlowski, einigen Denkmalen zum Naherholungsort Pirita, am gleichnamigen Fluß dies- und jenseits gelegen.
Man sieht die Ruine des Brigittenklosters in Pirita, das zunächst gemischtes, später reines Nonnenkloster war. Es wurde Anfang des 15 Jh. erbaut und die Ruine dient heute im Sommer als Aufführungsort von Konzerten und Theaterstücken. Im 20. Jh. fanden dort Ausgrabungen statt die für die Allgemeinheit offen liegen.
Gleich daneben liegt der Yachthafen und das Olympische Dorf, das für die Segelwettbewerbe der Olympiade 1980 gebaut wurde, die in Rußland stattfand und wegen des Afghanistan-Krieges, den Rußland 1979 begonnen hatte, von den USA, Deutschland und Großbritannien boykottiert wurde. - Vom Yacht hafen Tallinns wurden immer schon die baltischen Regatten durchgeführt. Vorbild dafür: die Kieler-Woche, nur nicht so groß. Heute finden die Regatten bereits mit breiterer internationaler Beteiligung, auch deut scher, statt. - Das olympische Dorf wird auch jetzt noch als Unterkunft für Wettkampfteilnehmer bei größeren Sportveranstaltungen genutzt. An diese Stätten schließt sich nach Osten der über 2 km lange Badestrand Tallinns an. - Wegen der günstigeren klimatischen Bedingungen, weil durch natürliche Barrieren geschützt, wird allgemein der westliche Badestrand Estlands mit den vorgelagerten Inseln bevorzugt.
Die Fahrt geht weiter zum Hafen. Dort wird ein mehr “technischer Halt” gemacht. Man kann auch noch Geld tauschen. Täglich kommen Tausende Finnen per Fähre wegen der in Estland günstigen Einkaufsmöglichkeiten dort an. Lebensmittel und besonders Alkohol sind von den Finnen begehrt. Beides ist 3 - 4 mal billiger als in Finnland.
Vom Hafen fahren wir zum Dörnberg, dessen schöne Silhouette wir auf der Fahrt bewundern können.
Rundgang Dörnberg
Der Gang beginnt am Schloßplatz. Zunächst berichtet unsere Führerin, daß Tallinn von einer Stadtmauer umgeben war, die im 14 Jh. zu bauen begon- nen wurde, im 16 Jh. sei sie fertiggestellt gewesen. Ursprünglich habe sie 65 Türme gehabt, 35 seien noch in irgendeiner Form da. Die Mauer selbst ist derzeit noch über eine Strecke von 1,85 Km erhalten geblieben. Baltikum-Führer enthalten darüber z.T. andere Angaben. Wie dem auch sei, jedenfalls gehört die noch erhaltene Mauer mit den Türmen zu den besterhaltenen Befestigungsanlagen in Nordeuropa.
An der Alexander-Newski-Kathedrale geht es schnurstracks vorbei. Sie wurde in der Zeit von 1894 bis 1900 erbaut. Dann stehen wir vor dem Schloßkomplex Toompea. Nach langer, wechselvoller Geschichte hat es sein heutiges Aussehen gefunden. Es war immer Verwaltungs-/ Regierungssitz der verschiedenen Herrscher und dient auch heute als Regierungssitz; der estnische Staatspräsident residiert in Kadriorg (s.o.) / Katharinental.
In unmittelbarer Nähe zum Schloß steht der wuchtige Pikk Her mann = langer Hermann, der 45 m hoch ist. Auf ihm weht wieder (zuerst bei Ausrufung der ersten Republik am 24. 2. 1918) seit der zweiten Unabhängigkeit Estlands - 20. 8.1991 - die blau-schwarz- weiße Landesfahne. Zum Jahrestag der Unabhängigkeit besteigt der Staatspräsident Estlands den Turm.
Der Dörnberg war in vergangenen Zeiten Sitz des Adels. In der Altstadt/Unterstadt lebten Kaufleute, Handwerker und Angehörige anderer Berufe.
Das Stadtwappen Tallinns ist vom dänischen König gestiftet worden: drei blaue Löwen auf goldenem Grund in einem Eichen kranz.
In Tallinn haben über die Zeiten hinweg - gleich unter welcher Herrschaft - die Deutschen „etwas zu sagen gehabt”, sie haben es mit geprägt.
Neben dem Schloß steht die Domkirche aus dem 13.Jh., ursprünglich spätgotisch. Sie wurde aber durch spätere An- und Erweiterungsbauten im Innern und Äußeren verändert. In der Kirche befinden sich Epitaphe angesehener Bürger, u.a. der von A. J. Krusenstem, Admiral in russischen Diensten, der erstmals auf russischen Schiffen die Welt umsegelte und vor rd. 150 Jahren dort begraben wurde.
Außerdem schmücken die Kirche zahlreiche Familienwappen - aus Holz und bemalt -, die nicht nur Familien aus Tallinn sondern darüber hinaus aus ganz Estland , z. T. auch aus Livland gehören. Die Sammlung umfaßt ca. 150 solcher Wappen. Neben der Domkirche steht das Haus der estnischen Ritterschaft aus dem vorvorigen Jahrhundert, dessen Inneres im großen unverändert ist.
Von dort geht es zu einer Aussichtsterrasse. Der Blick von ihr auf die Altstadt und darüber hinaus mit der großartigen Stadtsilhouette ist „einfach super”. Die Altstadt steht unter Denkmalsschutz. Auffallend im Hintergrund links die Ölaikirche (13. Jh.) deren einstiger Turm mit 159 m zu den höchsten der Welt gehörte. Nach Zerstörung durch Blitzschlag im 19. Jh. wieder in der alten Form, allerdings nur mit 124 m hohem Turm, aufgebaut. Danach geht‘s zur Alt-/Unterstadt.
Gang durch die Alt-/Unterstadt
Die Altstadt wird durch eine schöne Gasse, vorbei an der Residenz des deutschen Botschafters, erreicht und zwar bei der Nikolaikirche, die im 13 Jh. für deutsche Kaufmannns- und Handwerkerfamilien errichtet wurde. Dort befindet sich ein Fragment des “Totentanzes” (Ende 15 Jh.), das dem Lübecker Meister Bemt Notke zugeschrieben wird.
Weiter geht‘s zur PIKK = Lange Straße in der früher die Kaufmannsund Handwerkerschaft Tallinns, vornehmlich Deutsche, wohnten. In dieser Straße befinden sich die Gildehäuser der alten Tallinner Kaufleute und Handwerker. In der Straße stehen viele alte und repräsentativer Gebäude. Zwei besonders schöne Jugendstilhäuser fallen auf. Auch gibt es in der PIKK ein Schwarzhäupterhaus (Gildehaus für unverheiratete Kaufleute) gegründet 1399. Das zweite, mehr gibt es im Baltikum nicht, steht, wie wir sahen, in Riga.
Das Gebäude der Kanutgilde, die „feinere Handwerker“, meist aus deutschen Landen stammend, in sich vereinte, ist mit Bildern des Martin Luther und Kanutus, den beiden Schutzheiligen dieser Gilde, ge schmückt.
Die russische und die schwedische Botschaft sind dort ebenfalls in schönen alten Gebäuden angesiedelt, wie überhaupt die ganze Straße sehenswert ist.
Auf gleichem Wege verlassen wir wieder die PIKK. Dabei wird auf “die schönste Kirche Tallinns” hinge wiesen, die Heilig-Geist-Kirche.
Diese Kirche wird 1316 erstmals erwähnt. Sie besitzt einen wertvollen, holzgeschnitzten Hochaltar - auch von Notke - aus dem Jahre 1483 und eine sehr schöne Orgel. An ihrer Außenfassade sieht man die älteste buntbemalte Holzuhr Tallinns. Diese Kirche hat für die Esten immer eine bedeutende Rolle gespielt.
Nun wird der Rathausplatz erreicht, ein eindrucksvoller Platz, den viele schöne, alte Häuser umgeben. Blickpunkt ist natürlich das repräsentative, wuchtige Rathaus mit seinem schlanken Turm aus dem 15. Jhh., noch stilrein spätgotisch. Den Turm ziert eine Wetterfahne, die einen fahnenschwenkenden Landsknecht, den “alten Thomas” darstellt. Im prächtigen Bfirgersaal des Rathauses finden heute offizielle Empfänge und daneben auch Konzerte statt.
Auf das Eckhaus zur PIKK wird besonders hingewiesen, weil es das älteste Haus Revals ist, daneben steht die älteste Apotheke (1422) Nordeuropas.
Das Rathaus selbst ist das besterhaltene gotische Rathaus Nordeuropas. Auf dem Rathausplatz endete dann die Führung gegen 12.30 Uhr.
Nach einer Erfrischung ging die Gruppe zu Fuß zum Hotel, um von dort um 13.45 Uhr unsere letzte Fahrt mit dem Bus zum modernen, kleinen Flughafen von Tallinn anzutreten. Die Führe rin, die uns tags zuvor durchs Moor führte, begleitete uns dort hin und verabschiedete sich sehr herzlich.
Nach rd. einstündigem, ruhigen Flug landen wir in Stockholm, warten rd. 21/2 Stunden und fliegen dann mit der Lufthansa nach Frankfurt, wo wir „ohne besondere Vorkommnisse” planmäßig landen. Alle Rei sende bekommen auch ihr Gepäck und können dann den dort wartenden Bus nach Bonn besteigen. Am 12. 7.0.15 Uhr erreichen wir wohlbehalten die Matthäikirche, den Endpunkt der Reise.
Karl-Ludwig Haedge
13. Reisetag, Dienstag 11. Juli
Um 9.00 Uhr Beginn der Besichtigung von Tallinn, der Hauptstadt Estlands, am Finnischen Meerbusen gelegen, mit seinen 420.000 Einwohnern, seiner Größe von 180 km2, den vielen Parks und Grünanlagen. Über die im Krieg zerstörte und mit Nachkriegsbauten versehene Narwastraße, vorbei an dem Park von Kadriorg (Katharinenthal) mit der Sommerresidenz der Zaren (Baubeginn 1718 unter Peter I.) geht es an der Tallinner Bucht entlang zur Liederwiese mit der 1960 erbauten Sängerbühne.
Die Sängerfeste sind für die Esten wie für das gesamte Baltikum von entscheidender Bedeutung für das nationale Selbstbewußtsein. 1823 wird der erste Chor gegründet, 1869 findet das erste landesweite Sänger- fest mit 1000 Teilnehmern in Tartu statt, nur von Männern und einem Blasorchester bestritten. 1990 bringt das Sängerfest 30.000 Sänger und 290.000 Zuhörer zusammen. Mit einem Festzug von der Stadt zur Sängeranlage beginnt das jeweilige Fest, so hoffentlich auch 2004. Während in den zurückliegenden Jahren das Sängerfest eine der wenigen Möglichkeiten war, estnische Tradition und Zusammengehörigkeitsgefühl zu wahren und zu pflegen, hat nach der Wende eine Werteverschiebung stattgefunden. Das Bestreben, in die bis dahin verschlossenen Reiseorte (insbesondere Skandinavien und Mittelmeerraum) zu fahren, ist in den Vordergrund getreten. Die Esten durften zwar die gesamte Sowjetunion bereisen, aber nicht ihre eigene Küstenzone mit den ihr vorgelagerten Inseln (militärisches Sperrgebiet) und das nur 80 km entfernt liegende Helsinki.
Der zweite Busausstieg erfolgt am Olympischen Segelzentrum der Olympischen Spiele von 1980, an der Mündung des Pirita-Flusses gelegen. Leider erlaubte die kurzbemessene Zeit nur einen Blick aus dem Bus auf das ebenfalls am Fluss Pirita gelegene Kloster der Hei ligen Brigitta, 1407 - 1436 erbaut, 1577 zerstört. Beeindruckend ist der erhalten gebliebene Westgiebel der einstigen dreischiffigen Klosterkirche.
Die Rückfahrt in die Stadt bot schöne Ausblicke auf Hafen, Stadt und die Grünanlagen mit den Denkmälern für die Opfer des 2.Weltkrieges und für das 1893 in der Bucht gesunkene Kriegs schiff Russalka. Durch den Hafenausbau können jetzt Kreuzfahrt schiffe jeglicher Größe in Tallinn anlegen. An solchen Tagen sind die engen mittelalterlichen Straßen dem Ansturm der Touristen kaum gewachsen und verlieren ihren besonderen Reiz. Mit der Strandpforte und der Dicken Margarete erreichen wir die Stadtmauer, welche die Altstadt umschließt. Mit dem 1,85 km langen originalgetreuem Mauerwerk und den vielen noch erhaltenen Wehrtürmen vermittelt sie ein anschauliches und beeindruckendes Bild einer mittelalterlichen Stadtbefestigung. Mit einem Blick auf die 1870 erbaute ev.-luth. Karlskirche, die Nationalbibliothek (mit 5 Millionen Bänden) und die Johanniskirche kommen wir zum Dörnberg und damit zur Altstadt.
Überden Domberg als isolierten Teil der nordbaltischen Kalkstufe (Glint) mit Schloß und Langem Hermann, der Domkirche, der russisch-orthodoxen Alexander-Newsky-Kathedrale, der Dom schule und dem Haus der Ritterschaft u.a. geht der Weg dann weiter in die Unterstadt. Der Domberg mit seinen vielen Holzbauten blieb von Bränden nicht verschont. 1684 brannte z.B. die Domkir che bis auf die Mauern nieder, 1686 begann aber bereits wieder der Gottesdienst.
Früh beginnt die Besiedlung im Tallinner Raum; der erste schriftliche Nachweis ist der Weltkarte des arabischen Geographen Al-Idrisi zu entnehmen. Für die aus dem sibirischen Raum kom menden Esten und Finnen mit ihrer Liebe zu Mythen und Legenden ist die Herausbildung des Domberges nicht nüchtern als “Kalk stufe“ zu erklären; für sie ist er das Grab des Kalev, von seiner Witwe Linda zusammengetragen. Den letzten Stein, der im See ihrer Tränen (Ülemiste järv) liegt, können wir später noch auf der Fahrt zum Flugplatz sehen. 1219 wurde die Estenburg von Dänen erobert; die drei blauen Löwen des Wappens des dänischen Königs Waldemar II., des Eroberers der Stadt, sind noch heute das Wappen von Tallinn und gleichseitig Staatswappen.
Die Burg - das spätere Schloß und heute Sitz der Regierung - nimmt die Südwestecke des Domberges ein mit der imposanten Westmauer und dem erhöhten Bergfried, dem “Langen Hermann“. Auf ihm wird jeden Morgen um 7.00 Uhr unter den Klängen der Nationalhymne die Landesfahne gehißt. Nach kurzer Besichtigung des Dominneren mit Barockkanzel und -altar, mit den Wappenschilden balten-deutscher Adeliger sowie bedeutenden Grabmälem berühmter Persönlichkeiten geht es vorbei an schön restaurierten Adels
häusern (meist Winterhäusem der deutschen Gutsherren) über den kurzen Dörnberg in die Unterstadt. Hier hatten Kaufleute und Handwerker ihr Domizil.
Von dem Aussichtspunkt am Ende der Kohtu bietet sich eine schöne Aussicht auf die Unterstadt. Der Blick geht über Türme und Ziegeldächer hinüber zum Hafen in der geschützten Tallinner Bucht (stets ein begehrtes Ziel für das russische Imperium). Zwischen Unterstad t und Domberg erstreckt sich die gegen den Burgberg gerichtete innere Stadtmauer mit dem Mägdeturm und dem Kiek in de Kök, einem mächtigen Geschützturm. Diese innere Stadtmauer gilt als Zeichen für den häufigen Zwist zwischen der Macht auf dem Domberg und den Kaufleuten und Handwerkern in der Unterstadt. Die Nikolai-Kirche, die heute ein Museum ist und deren wertvolles Inventar durch Auslagerung vor den Kriegszerstörungen gerettet wurde, war leider geschlossen. So konnten wir den berühmten Altar von Hermen Rode nicht bewundern, dafür aber jeder für sich den von Bernd Notke geschaffenen Flügelaltar in der Heilig-Geist-Kirche.
Die Freie Hansestadt Reval mit lübischem Recht zeigt sich in der Unterstadt
u. a. beeindruckend in vielen Gebäuden, die wir zum Teil sehen, konnten:
- das Haus der Großen Gilde für Kaufleute und Reeder
- das Haus der Kanutgilde für feinere Handwerker mit den Statuen von Martin Luther und. des heiligen Kanutus
- das Haus der Olaigilde für die einfachen Handwerkerzünfte. Das Gebäudeder Olaigilde wurde später mit dem
- Schwarzhäupterhaus vereinigt. Die Bruderschaft der Schwarzhäupter wurde 1399 gegründet. Sie leitet ihren Namen von dem häufig als Mohr dargestellten heiligen Mauritius ab. Ihre Mitglieder waren unverheiratete Kaufleute, die zum Schutz der Stadt verpflichtet wurden. Die verzierte Fassade zeigt u.a. Frauengestalten als Allegorie auf Gerechtigkeit und Frieden.
- das stilreine, spätgotische Rathaus auf dem großräumigen Rathaus-Platz. (Der mühselige Aufstieg auf den Turm belohnte mit einem herrlichen Blick über Stadt und Hafen, wovon sich einige Mitglieder unserer Reisegruppe selbst überzeugt haben.)
- das Handwerkerhaus, die Ratsapotheke und viele andere Wohn- und Kaufmannshäuser.
Sowohl an der Großen Gilde als auch an dem Schwarzhäupterhaus sind die Beischläge, die der Hausnummerierung dienten, noch erhalten. Die meisten von
ihnen mussten den späteren Bürgersteige weichen.
Neben der prägenden Gotik findet man auch Gebäude der Renaissance, des Barock, des Klassizismus und des Jugendstils. Alle Stile stehen nicht gegen einander, sondern vermitteln ein harmonisches Architekturbild. Es ist eine Freude zu sehen, wie schön sehr viele Gebäude restauriert worden sind. Wenn man auch schon vor der Wende bemüht war, einzelne Gebäude zu erhalten und zu pflegen, wovon wir uns bei einem Besuch 1983 überzeugen konnten, so findet man heute wenige Gebäude, die noch nicht restauriert sind. Damals war es umgekehrt. 11% der Altstadt waren durch Kriegseinwirkungen zerstört, von der gesamten Stadt waren es mehr als 50 %.
In den wenigen Stunden, die uns zur Besichtigung der Stadt zur Verfügung standen, konnten wir nur einen Überblick über Tallinn gewinnen. So waren wir froh, die Morgenstunden zum Erleben dieser so schönen Stadt genutzt zu haben.
Elisabeth Hendl