Reisebericht einer Begegnungsreise nach Ecuador mit dem Bistum Speyer und MISEREOR

Der erste Tag in Quito: Die zweitgrößte Stadt Ecuadors liegt 2.800 m über dem Meeresspiegel in einem Hochlandbecken zwischen den beiden in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Kordilleren. Die Gruppe von Lehrerinnen, Referendarinnen und Lehramtsstudierenden, die ich als „MISEREOR-Frau“ begleite, erweist sich als robust und unkompliziert. Den anstrengenden Reisetag (14 Stunden Flug von Frankfurt via Madrid) mit der Zeitumstellung und der Anpassung an die Höhe haben alle schnell aus den Kleidern geschüttelt. Erster Programmpunkt ist die „Jungfrau von Ecuador“, eine künstlerisch anspruchslose riesenhafte Statue – die Aussicht von dort über Quito Colonial ist jedoch atemberaubend. Quito liegt in einem vier Kilometer breiten und 60 Kilometer langen Längstal. Wir wandern zu Fuß durch die Altstadt, besichtigen einige Kirchen, darunter die Kathedrale und die prächtig ausgestattete Jesuitenkirche im maurisch-barocken Stil, und den Platz der Unabhängigkeit. Die Altstadt ist seit 1978 UNESCO-Weltkulturerbe. Buntes Treiben auf dem Platz der Unabhängigkeit: eine lautstarke Menschenrechtskundgebung vor dem Regierungspalast, auf den Bänken alte Herren, in lebhafte Gespräche vertieft, dazwischen Touristen, Scharen von Schuhputzerjungen, Straßenverkäufer und Indígenas, die bunte Tücher feilbieten – und Tauben über Tauben.

Das künstlerische Highlight ist zweifellos die Jesuitenkirche. Der Eindruck ist überwältigend; allerdings kann ich den Gedanken an das Leid, das mit dem Bau dieses Gotteshauses und anderer Kirchen der Kolonialzeit untrennbar verbunden ist, nicht abschütteln. Das Gold, mit dem die Wände, die Altäre, die Kanzeln, die Säulen geschmückt sind, gehörte den Indígenas. Sie mussten die Gotteshäuser nach abendländischem Vorbild bauen – doch wenn die Kirchen fertiggestellt waren, durften sie sie, obwohl getauft, nicht mehr betreten. Den Gottesdienst mussten sie von einer Stelle außerhalb des Gotteshauses verfolgen. Das Kircheninnere blieb für die weiße koloniale Oberschicht reserviert. Heute begegnet man in den Straßen nicht mehr vielen Ecuadorianern, die man als „weiß“ bezeichnen könnte, die also als direkte Nachfahren der Spanier erkennbar wären. Ecuador ist ein multikulturelles und multiethnisches Land. Dabei ist die „Vermischung“ der verschiedenen ethnischen Gruppen, die Mestizaje, weit fortgeschritten.

Nach dem Stadtrundgang steigen wir in unseren Bus und fahren zum Äquatordenkmal. Im 18. Jahrhundert vermaßen französische und spanische Wissenschaftler die Äquatorlinie. Doch sie irrten sich um etwa 200 m. Gleich neben dem historischen Äquatordenkmal gibt es daher heute in einem Freilichtmuseum einen anderen Platz, der den Anspruch erhebt, die eigentliche „Mitte der Welt“ zu kennzeichnen. Natürlich lässt es sich niemand aus unserer Gruppe nehmen, einen Fuß rechts, den anderen links der Äquatorlinie zu positionieren. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, gleichzeitig auf der südlichen und auf der nördlichen Hemisphäre zu stehen?

Wir fahren durch den quirligen Feierabendverkehr zurück zum Hotel. Mehrmals taucht der schneebedeckte, kegelförmige Gipfel des Cotopaxi aus den Wolken. Mit 5.897 m ist der Cotopaxi der zweithöchste Berg Ecuadors. Eine kleine Straßenszene hat sich mir eingeprägt: Auf einer Verkehrsinsel haben junge Straßenhändler ihr Quartier aufgeschlagen. Es scheinen vier Geschwister zu sein. Die beiden älteren, ein Junge von vielleicht 17 und ein Mädchen von 16 oder 15 Jahren, laufen über die Straße und bieten den Autofahrern, die an der roten Ampel warten, Gebäck an. Die kleine Schwester ist etwa sechs Jahre alt und hat ein Auge auf das Baby, dessen Kinderwagen mitten im Verkehrsgewühl in einer Wolke von Abgasen steht. Das Mädchen holt den Hosenmatz, der aus vollen Lungen schreit, aus dem Wagen, um ihm zu trinken zu geben – und schon gibt unser Busfahrer Gas, und es geht weiter.

Am Abend folgt dann ein Gespräch mit Alexander Sitter aus dem Erzbistum München-Freising, der bei der ecuadorianischen Bischofskonferenz arbeitet. Es geht um die Kirche in Ecuador, die Reformen des Präsidenten Correa, um religiöses Leben, Bildung und (fehlende) Jugendarbeit. Sehr interessant; vor allem die Jüngeren aus unserer Gruppe löchern Alex Sitter mit Fragen. Ein langer Tag voller Eindrücke und offener Fragen, der Appetit macht auf mehr!

Petra Gaidetzka

21.08.2014

Wir verlassen Quito in Richtung Riobamba und fahren auf die Panamericana – die längste Straße der Welt, die (fast ohne Unterbrechungen) Alaska mit Feuerland verbindet. Die Panamericana Sur führt uns heute durch vier Provinzen: Pinchincha, Cotopaxi, Tungurahua und Chimborazo. Monika Bossung-Winkler gibt im Bus einen Überblick über Befreiungstheologie und die Indigenen-Bewegung.

Abstecher zum Cotopaxi-Nationalpark und kleine Wanderung um die Limpiupungo-Lagune (auf etwa 3.000 m Höhe). Die im Nationalpark vorkommenden Tiere – Puma, Lama und Wildpferde – sichten wir nicht, dafür aber Geierfalken, eine große Eidechse und einen ebenfalls stattlichen, wunderschön gefärbten Frosch; unser Führer David zeigt und erklärt uns viele für diese Landschaft typische Wildpflanzen. Über uns kreist ein großer Vogel – ein Kondor? Wohl eher nicht, denn es soll in Ecuador nur noch 70 Exemplare geben. Die Kondore vermehren sich sehr langsam, weil sie monogam leben und jeweils nur ein Junges aufziehen. Die Attraktion des Parks ist natürlich der Cotopaxi selbst, 5.897 m hoch, ein aktiver Vulkan, der dennoch häufig bestiegen wird (als dritter Bergsteiger hat 1880 auch der Erstbesteiger des Matterhorns, Edward Whymper, den Cotopaxi bezwungen – heute gibt es einen regelrechten Tourismus auf den Gipfel). Die schneebedeckte Spitze taucht freundlicherweise mehrfach aus den Wolken auf, exklusiv für uns – ein grandioser Anblick.

Der Chimborazo ist weniger zuvorkommend. Als wir uns Riobamba nähern, sehen wir nur seine Basis. Sein majestätischer Gipfel verbirgt sich leider im Nebel. Der Chimborazo ist zwar nur rund 600 m niedriger als der höchste Berg der Anden, der Aconcagua in Argentinien, aber er steht erst an 23. Stelle der Anden-Gipfel. Die Anden sind die längste und nach dem Himalaya die höchste Bergkette der Welt; sie sind jedoch jünger als die Alpen.

Wir besuchen am Nachmittag ein Tagungszentrum der Diözese Riobamba, in dem Bischof Leonidas Proãno mit seinen Priestern gelebt hat, und treffen Padre Rolando, den Leiter der Sozialpastoral des Bistums. Die Sozialpastoral ist Partner von MISEREOR. Padre Rolando erzählt uns vom Einsatz des legendären „Indio-Bischofs“ für die indigene Bevölkerung in der Sierra, der nicht unerheblich zur Landreform beigetragen hat. „Ich glaube an den Menschen, und ich glaube an die Gemeinschaft“, lautete ein Wahlspruch von Bischof Proãno. Padre Rolando berichtet über das von MISEREOR unterstützte Programm der ökologisch-nachhaltigen Landwirtschaft. Im Fokus stehen die indigenen Frauen, weil die Männer oft anderswo erwerbstätig sind. Das Bildungs- und Gesundheitswesen ist in staatlicher Hand; die Kirche hat sich daraus zurückgezogen, auch weil entsprechendes Engagement vom Staat nicht mehr gewünscht wird.

Das alte Riobamba wurde 1797 durch ein Erdbeben völlig zerstört. Die Stadt wurde an anderer Stelle wieder aufgebaut.

22.08.2014

Wir brechen sehr früh (6.00 Uhr) von Riobamba auf und fahren nach Alausi. Im Hochland werden die Felder bis in eine Höhe von 4.200 m bestellt – auch in extremen Steillagen. Die vulkanische Erde ist sehr fruchtbar. Zahlreiche Feldfrüchte werden angebaut, darunter Quinoa; durch regelmäßigen Fruchtwechsel wird die Bodenfruchtbarkeit erhalten.

David erzählt im Bus über die Gerichtsbarkeit der Indígenas – nichts für schwache Nerven. Wenn die Schuld eines Indigenen erwiesen ist, greifen drakonische Maßnahmen zur „Reinigung“ und Resozialisierung: Eiskaltes Wasser wäscht die Schuld hinweg, durch Peitschen mit Brennnesseln werden die schlechten Energien ausgetrieben, dem Delinquenten werden Sozialstunden auferlegt – so wird er wieder in die Gesellschaft aufgenommen. Das Spießrutenlaufen (öffentliches Auspeitschen mit Brennnesseln) ist sicher kein Spaß. In extremen Fällen (z. B. Vergewaltigung eines Kindes) wird auch Lynchjustiz ausgeübt, die vom Staat geduldet wird.

Von Alausi fahren wir mit der Andenbahn zur „Teufelsnase“ – eine spektakuläre Zugfahrt durch eine gewaltige Berglandschaft. Faszinierend ist, dass auf dieser Höhe Palmen, Agaven, Kakteen und Yucca wachsen (bei Riobamba sieht man sogar Zypressen). Auf der Rückfahrt passieren wir kurz vor Alausi eine Stierkampfarena. Schon am Vortag haben wir bei Riobamba junge Stiere auf der Weide gesehen; sie werden für die Kämpfe gezüchtet. Von Alausi geht es mit dem Bus weiter nach Ingapirca. Das Land ist sehr fruchtbar. Wir sehen Mais- und Getreideanbau (Weizen, Hafer, Gerste) auf kleinen Feldern, Rinder, Esel, Pferde, Schafe, Hühner und viele glückliche Schweine, Regenrückhaltebecken – und in einem Dorf einen Fleischmarkt mit frisch geschlachteten Schweinen, deren Fleisch am Ort sofort frisch zubereitet und verkauft wird.

In Ingapirca kann man Überreste von Siedlungen der Cañari und Ausgrabungen einer Inka-Festung (Sonnentempel) besichtigen. Weiterfahrt nach Cuenca. Hier gibt es zunächst einen Abstecher in eine Panamahut-Fabrik. Der Besuch ist  hochinteressant. Der legendäre Panamahut stammt nicht aus Panama, sondern aus Ecuador. Alle authentischen Panamahüte werden in Cuenca hergestellt.

Beim Abendessen lernen wir Freunde von Monika Bossung-Winkler kennen, Pepe (früher für den von MISEREOR unterstützten Entwicklungsfonds Populorum Progressio tätig, heute Hochschul-Mitarbeiter und ständiger Diakon) und seine Frau. Pepe spricht über das besondere Verhältnis der Indigenen zum Land und zur Erde (Pachamama).

23.08.2014

Cuenca ist eine wohlhabende Stadt. Die gepflegte koloniale Altstadt ist wegen ihres guten Erhaltungszustandes von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden. Wir besichtigen einige Kirchen und die große Markthalle.

Danach bringt uns der Bus zum Nationalpark Las Cajas. Das Bergland zwischen Cuenca und Las Cajas ist anders, als wir es bisher erlebt haben: Es gibt zum Teil Wald, dafür aber keinen Ackerbau an den Berghängen. Im Nationalpark Las Cajas erleben wir eine durch Vergletscherung während der Eiszeit geformte Tundralandschaft (Paramos). Vom höchsten Punkt (4.450 m) bringt uns die „halsbrecherische“, aber sehr gut ausgebaute Passstraße in endlosen Serpentinen zur Costa, d. h.: in rund zwei Stunden auf Meeresniveau! Die Vegetation wird immer dichter und lieblicher; dann geraten wir (auf ca. 1.000 m Höhe) in die Nebelwaldzone. Zum ersten Mal sehe ich mit eigenen Augen „Urwald“ – eine dichte grüne Wand, Baumriesen, Artenvielfalt, Feuchtigkeit. Und schon sind wir in der Küstenebene. Plantage reiht sich an Plantage: Bananen, Kakao, Teak, Bambus, Mango, Reis, Zuckerrohr. Durch die Landreform ist der Großgrundbesitz praktisch aufgehoben worden; die Plantagen werden heute durch bäuerliche Kooperativen bewirtschaftet, die ihre Produkte an die großen Firmen (wie z. B. Dole) verkaufen. Reis dient zur Ernährung der eigenen Bevölkerung und geht nicht in den Export. Auf den Reisfeldern sind Kraniche zu sehen. Am Straßenrand Obststände, auf dem Mittelstreifen ambulante Händler, kurz vor Guayaquil tauchen Rikschataxis auf.

Guayaquil ist die größte Stadt Ecuadors; im Einzugsbereich leben drei Millionen Menschen. Wir überqueren den Rio Guayas auf einer 4 km langen Brücke und fahren zunächst durch die Barrios Populares. Was ins Auge springt: die auffällig müllfreien Bürgersteige und ein Antennenwirrwar unterhalb der Dächer. Eine Autoprozession fährt an uns vorbei: blumengeschmückte Wagen, Lautsprechermusik, auf einem Fahrzeug die geschmückte Statue der Jungfrau Maria mit einem Panamahut auf dem Kopf. Die Barrios Populares sind „wild“ entstanden und nachträglich urbanisiert worden. Die Struktur der Stadtviertel in der Innenstadt verändert sich derzeit, weil die Wohlhabenden in „bewachte Siedlungen“ umziehen.

Wir beziehen unser Quartier im idyllischen Stadtbezirk Los Ceibos, in einem evangelischen Gästehaus mit schönem Innenhof, Brunnen und Pool.

24.08.2014

Sonntagvormittag – der Verkehr in der Innenstadt ist überschaubar, vergleicht man ihn mit dem Feierabendverkehr vom Samstagnachmittag. Wir besuchen die Messe in der Kathedrale. Zwar verstehe ich kaum ein Wort (wegen mangelnder Spanisch-Kenntnisse, aber auch aufgrund der schlechten Akustik in der riesigen neugotischen Kirche) – aber in einem katholischen Gottesdienst findet man sich immer zurecht. Ich muss an einen Satz von Padre Rolando in Riobamba denken, den jeder verstanden hat, als der Padre die Gruppe zum Abschluss segnete: „La iglesia de Cristo está universal.“ Irritierend finde ich das Fehlen einer Orgel – in der Kathedrale von Guayaquil wie auch in fast allen anderen Kirchen, die wir besucht haben. Gesang und instrumentale Begleitung kommen vom Band.

Nach der Messe beobachten wir die Leguane im Parque Seminario vor der Kathedrale. Danach Gang zur Franziskanerkirche, wo wir das Ende einer Messfeier erleben, die sehr viel lebendiger abläuft als der Gottesdienst in der Kathedrale. Die Kirche ist auch deutlich gefüllter als die Kathedrale. Es wird kräftig gesungen, der Priester dirigiert und zieht das Tempo an!

Wir statten dem belebten Malécon einen Besuch ab. Es scheint das Sonntagsvergnügen der Mittelschicht zu sein, auf der Uferpromenade mit Aussichtstürmen, Einkaufszentren und Spielplätzen zu flanieren. Eltern mit ihren Kindern, junge Pärchen, Großfamilien sind unterwegs. Auffallend ist die starke Präsenz von Sicherheitskräften. Mit ihren Helmen, schwarzen Uniformen und Schlagstöcken sehen sie martialisch aus. In Quito und Cuenca war die Polizeipräsenz deutlich geringer – im Grunde kaum anders als in einer deutschen Großstadt. Die Bevölkerung der Küstenregion unterscheidet sich stark von der des Hochlandes, ist weniger indigen geprägt. In Quito haben wir bisher (wenige) Afroecuadorianer gesehen, in den anderen Orten des Hochlandes sind uns ausschließlich Indígenas und Mestizos begegnet. Die Afroecuadorianer, Nachfahren der ehemaligen, aus Afrika nach Südamerika verschleppten Sklaven, stellen fünf Prozent der Gesamtbevölkerung von Ecuador und leben vorwiegend an der Küste, dominieren aber auch in Guayaquil nicht das Straßenbild. Mehrheitlich besteht die Bevölkerung der Costa aus Mestizen, die hier Cholos genannt werden.

Wir statten dem Künstlerviertel Las Peñas zu Füßen des Cerro Santa Ana einen Besuch ab. Durch die bunten, verzierten Holzhäuser wirkt das Viertel – im Grunde handelt es sich nur um eine einzige Straße – sehr pittoresk. Am Ende der Straße ragen futuristische neue Hochhäuser auf. Abschließend Rundfahrt mit dem Ausflugsschiff auf dem Rio Guayas.

Am Abend lernen wir Claudia Uribe, die Direktorin der Stiftung ADES, und ihren Mann kennen. Sie kommen in  unsere Unterkunft, um die nächsten Tage mit uns zu planen: Kennenlernen der Schule Generación Nuevo Milenio (ADES ist Schulträger), Hospitation in verschiedenen Klassen, gemeinsames Kochen und Essen und Projekte mit den Schülerinnen und Schülern.

ADES steht für: „Asesores in Desarrollo Scoial“ (mehr auf: www.fundacionades.com).

25.08.2014

Wir fahren am Morgen zur Schule „Generación Nuevo Milenio“ in der Siedlung Bastión Popular. Die Schule existiert seit acht Jahren und hat rund 220 Schülerinnen und Schüler – darunter 45 Kinder mit besonderem Förderbedarf, von Lernbehinderungen über Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu körperlichen und leichten geistigen Behinderungen. Das Bildungsangebot umfasst Vorschule, Primarstufe und Sekundarstufe I. Die Schule ist privat, erhält aber staatliche Zuschüsse (auch aus einem Stipendien-Fonds) und wird u.a. vom Kindermissionswerk gefördert.

Nach einem Einführungsgespräch mit der Leiterin, Elisabeth, werden die Lehrerinnen und Studierenden aus unserer Gruppe auf verschiedene Klassen verteilt, um zu hospitieren. Währenddessen erhalten Monika Bossung-Winkler, Birgitta Greif (Leiterin der Schulabteilung des Bistums Speyer) und ich eine Führung durch die Schule. Wir besichtigen die Schulküche und die Bibliothek, in der auch Schülerarbeiten aus dem Kunstunterricht ausgestellt sind (sehr beachtlich!), und werfen einen Blick in etliche Klassenzimmer sowie in den Computerraum. Anschließend fahren wir mit Claudia von ADES zum Supermarkt, um für den nächsten Tag einzukaufen. Wir wollen mit den Schülern ein einfaches Mittagessen (Sandwiches und Obst) zubereiten und gemeinsam mit den Kindern und dem Lehrerkollegium essen.

Im Supermarkt fotografiere ich etliche Werbeplakate. Es fällt auf, dass für Konsumgüter ausschließlich weißhäutige, europäisch aussehende, zum Teil sogar blonde Models werben. Auch die Puppen in der Spielzeugabteilung sind blond, rosig und absolut europäisch. Wo ist die lateinamerikanische Identität 200 Jahre nach der Loslösung Ecuadors von Spanien?

Nach unserer Rückkehr steht eine Auswertungsrunde auf dem Programm, Beobachtungen aus der Hospitation werden ausgetauscht und Fragen gestellt. Claudia und Elisabeth stehen Rede und Antwort. Der Staat pocht auf Qualitätssicherung und Bildungsstandards; daher müssen einige Lehrerinnen von „Nuevo Milenio“ (das Kollegium ist rein weiblich) nebenberuflich nachstudieren. Sie verstehen sich nicht nur als Pädagoginnen, sondern auch als Entwicklungspsychologinnen und Sozialarbeiterinnen und beschränken sich nicht nur auf den Unterricht, sondern machen Hausbesuche und beraten die Familien. Häusliche Gewalt und Drogenkriminalität sind die vorherrschenden Probleme in diesem Arbeiterviertel, das auf uns zwar ärmlich wirkt, aber keinesfalls als Slum zu bezeichnen ist. Auf uns macht das Viertel einen friedlichen Eindruck – aber die Warnungen von Elisabeth und Monika Bossung-Winkler, das gut gesicherte Schulgelände nicht unbegleitet zu verlassen, müssen wohl ernst genommen werden

Nach unserem Abschied aus der Schule dann der Kulturschock: Wir fahren zum Büro von ADES, das unmittelbar in der Nähe einiger hochmoderner Shopping Malls liegt, und gehen zum Essen in den Konsumtempel. Anschließend ist freie Zeit zum Bummeln und Einkaufen, worüber vor allem unsere Jüngsten, die Studierenden (genannt „die Kinder“), hocherfreut sind. Geschäfte und Restaurants, wie sie überall auf der Welt zu finden sind (von Esprit über Zara, Ralph Lauren, Samsung, Fossil bis zu Burger King und Pizza Hut), reihen sich aneinander. Hochglanz, wohin das Auge blickt! Auf mich wirkt das einschüchternd und zugleich abstoßend. Die Bilder aus dem Hochland und vom Vormittag kann ich nicht ausblenden: Bergbauern und -bäuerinnen, wettergegerbt und krumm von der Arbeit, die große Getreidebündel auf dem Rücken tragen oder ihren Esel antreiben, Marktfrauen, kleine Schuhputzer und Wasserverkäufer auf dem Mittelstreifen der Schnellstraße, Bettler an den Kirchenportalen, sie alle haben keinen Anteil an dieser Konsumwelt. Wie wollen und werden wir leben, damit alle überleben und gut leben können? Was ist das „gute Leben für alle“ – das „buen vivir“, das in der Verfassung Ecuadors als Entwicklungsziel und Bürgerrecht festgeschrieben ist? Heißt die Lösung: Einkaufszentren für alle? Und wenn nein, warum nicht? Ich finde, wir müssen diese Fragen mit unseren Junglehrerinnen und Studierenden diskutieren, die mit glänzenden Augen vom Shoppen zurückkommen. Aber nicht mehr heute, entscheidet Birgitta Greif. Ich hoffe, dass sich die Gelegenheit noch ergibt und ich auch die MISEREOR-Sicht auf ein Land wie Ecuador ein wenig deutlich machen kann.

26.08.2014

Die Kinder der Schule „Nuevo Milenio“ führen uns einige Tänze vor, die sie für ihr Sportfest einstudiert haben. Anschließend kauft eine Abordnung frisches Obst auf dem Markt des Stadtviertels, während die übrigen aus unserer Gruppe bereits mit dem Zubereiten der Mittagsmahlzeit beginnen. Sandwiches werden geschmiert, Früchte und Gemüse werden appetitlich angerichtet. Ich gehöre zur Gruppe der „Marktgänger“. Wir werden von zwei kräftigen Schülern der Abschlussklasse und einer (ebenfalls sehr kräftigen) Lehrerin begleitet und müssen alle Wertsachen, Portemonnaie, Kamera, sogar die Billiguhr, die ich mir für die Ecuador-Reise zugelegt habe, zurücklassen, ehe wir es wagen können, die Markthalle zu betreten. Ob eine reale Bedrohung besteht, vermag ich nicht zu sagen. Unsere ecuadorianischen Gastgeber und auch Monika werden das schon richtig einschätzen, sagen wir uns – und sind ein wenig eingeschüchtert und vor allem erleichtert, nachdem wir unsere Einkäufe wohlbehalten in der Schule abgeliefert haben.

Die Schülerinnen und Schüler werden heute frühzeitig nach Hause geschickt. Anschließend setzen wir uns mit dem Lehrerkollegium zusammen. Die deutschen und ecuadorianischen Lehrerinnen tauschen sich miteinander aus. „Nuevo Milenio“ ist eine Inklusionsschule – und Inklusion ist für alle Mitglieder unserer Gruppe, die fertigen Lehrerinnen wie auch die Lehramtsstudierenden, ein wichtiges Thema. Ein Viertel der Kinder von „Nuevo Milenio“ hat einen wie auch immer gearteten Förderbedarf. Anders als bei uns stehen keine zusätzlichen, besonders ausgebildeten Lehrkräfte – d.h. keine Sonderpädagogen – zur Verfügung. Jedes Kind braucht seine persönliche Ansprache. Das funktioniert in „Nuevo Milenio“ dank des großen Engagements der Lehrkräfte sehr gut. Allerdings stieß die Entscheidung, Förderkinder aufzunehmen, bei den Eltern der „regulären“ Kinder zunächst auf Widerstand; die Schule erlebte einen Einbruch bei den Anmeldezahlen. Inzwischen spricht der Erfolg für sich. Die Klassen sind klein, keine Klasse zählt mehr als zwölf Schülerinnen und Schüler.

Die Elternarbeit umfasst Hausbesuche, Elterngespräche und die Mütter-Gruppe „Werte stricken“. Diese Gruppe trifft sich regelmäßig und behandelt, während Pullover und Taschen gestrickt oder gehäkelt werden, jeweils einen Wert, der in der Erziehung vermittelt werden soll (wie z. B.: Pünktlichkeit, Höflichkeit, Ehrlichkeit). Die Produkte, die die Frauen bei den Treffen herstellen, verkaufen sie und stocken so ihr Einkommen auf.

Die Projekte für den morgigen Tag werden vorgestellt. Danach verabschieden wir uns von den Lehrerinnen und fahren zu einem Kunsthandwerkermarkt, um „Mitbringsel“ für unsere Lieben zu Hause einzukaufen. Nach einer kurzen Pause in der Unterkunft folgt eine einstündige, intensive Gesprächsrunde zum Thema „MISEREOR“. Unsere Reise durch Ecuador firmiert als „MISEREOR-Begegnung- und Projektreise“, doch den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern war MISEREOR bisher allenfalls vom Namen her bekannt. Alle sind jedoch aufgeschlossen und hoch interessiert. Ich hoffe, dass es gelingt, einige Kontakte über die Reise hinaus aufrechtzuerhalten und zu vertiefen.

27.08.2014

Deutsch-ecuadoriaischer Projekttag in der Schule „Nuevo Milenio“: Am Vortag haben die Lehrerinnen wunderschöne Ankündigungsplakate gestaltet. Vom Bibel-Spiel über Brotbacken, Tanz, Ballsport, Basteln mit Wolle und  Musik bis zur Konstruktion einer tragfähigen Brücke aus Papier ist für alle Klassenstufen und Interessen etwas dabei. Vieles funktioniert über non-verbale Kommunikation. Die Gäste aus Deutschland machen sich mit Händen und Füßen verständlich; die ecuadorianischen Lehrerinnen springen ihnen mit ihrer schnellen Auffassungsgabe und ausdrucksvollen Körpersprache hilfreich zur Seite. Die Kinder sind mit großem Eifer bei der Sache. Ein Riesenspaß ist das „Wasserballon-Werfen“, ein Kreisspiel, bei dem alle Beteiligten darauf warten, dass der mit Wasser gefüllte Ballon endlich platzt!

Obwohl rechtschaffen müde, macht sich die Gruppe am Nachmittag auf zur Stadtrandsiedlung Monte Sinaí. Hier arbeitet Hogar de Cristo, Partnerorganisation von MISEREOR, mit Zuwandererfamilien vom Land (mehr auf: www.hogardecristo.org.ec). Hogar de Cristo wird u.a. vom St. Pius-Gymnasium Coesfeld, einer MISEREOR-Partnerschule, unterstützt, und Birgitta Siepelmeyer, Englisch- und Spanisch-Lehrerin am St. Pius-Gymnasium, ist Mitglied unserer Reisegruppe. Wir erhalten zunächst einen Überblick von Luís Tavara über Geschichte und Philosophie von Hogar de Cristo und die verschiedenen Bereiche, in denen die von Jesuiten gegründete Organisation tätig ist: Die Unterstützung der Familien reicht vom Hausbau über Mikrokredite, Gesundheitshilfe und Ernährungsberatung, Produktion von Sojamilch und Fischzucht bis zur Hilfe für Frauen und Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Voller Stolz zeigt uns Luís Tavara einige Musterhäuser, die Fischzuchtteiche und die Halle, in der Bauteile für die Häuser aus Bambus angefertigt werden. Es sind vor allem die Frauen, die Kleinkredite für den Hausbau und die Gründung eines kleinen Geschäfts erhalten. Wir sind sehr angetan von den vielen praktischen Ideen, die uns an Beispielen vorgeführt werden: So produzieren die Familien unter den Stelzenhäusern Gemüse und züchten Fische in kleinen Bassins. Der Fußboden in den größeren Häusern wie auch in den Verwaltungsräumen von Hogar de Cristo besteht aus Bambus-, Ziegel- und Marmorresten, die von verschiedenen Baufirmen der Stadt zur Verfügung gestellt werden. Im Materiallager gibt es  Möbel aus Recycling-Materialien (zum Beispiel Lattenroste aus Paletten); auch ausrangierte Computer warten darauf, überholt oder ausgeschlachtet und neu zusammengebaut zu werden. In der Bäckerei stellen Frauen – Kreditnehmerinnen von Hogar de Cristo – Sojagebäck her. Sie erhalten bei Hogar de Cristo eine handwerkliche Ausbildung und verkaufen das Gebäck an benachbarte Schulen. Andere Frauen lernen schneidern und verkaufen die von ihnen gefertigten Kleider. Ein besonderes Highlight unseres Besuchs ist der Abstecher zum „Schönheitssalon“. Hier werden Haare gewaschen, geschnitten und gelegt, Locken geglättet, Masken aufgetragen und Massagen verabreicht. In allen Wirtschaftsbetrieben von Hogar de Cristo arbeiten Kreditnehmerinnen; sie erhalten eine Ausbildung, ein Couching, um ihre eigene Geschäftsidee zu entwickeln, und eine Starthilfe, die es ihnen ermöglicht, eine Existenz für sich selbst und ihre Familien aufzubauen.

„Wir arbeiten vorwiegend mit Frauen“, erklärt uns Luís Tavara, „weil Frauen verlässliche Partner sind. Gib einer Frau ein Darlehen, und sie wird es für ihre Familie verwenden.  Sie wird den Mikrokredit sinnvoll einsetzen und zuverlässig zurückzahlen. Die Männer verwenden Kredite tendenziell für sich selber, zur Erfüllung eigener Kreditwünsche, und die Quote der Nicht-Rückzahler ist bei Männern viel höher als bei Frauen.“

Ein blühendes Projekt – und doch ist in Monte Sinaí nicht alles Gold, was glänzt. Hier leben 180.000 Menschen, die zum größten Teil keinen Besitztitel für ihr Land haben. Sie haben ungenutzte Grundstücke besetzt, sind also illegale Siedler. Der Staat beansprucht das Land für sich selbst und droht den Familien mit Vertreibung, um am Monte Sinaí Wohnraum für die Mittelschicht zu erschließen.  Teile des Viertels wurden bereits mit Polizeigewalt geräumt. Hogar de Cristo protestiert gegen diese Menschenrechtsverletzung und strebt eine dauerhafte Lösung für zunächst 500 Familien an. Diese Familien erhalten ein Stück Land zu ihrer Verfügung, das der Organisation gehört. Gleichzeitig verhandelt Hogar de Cristo mit den staatlichen Stellen, um Entschädigungszahlungen für die Vertriebenen zu erwirken.

Erfüllt von vielen Eindrücken und Gefühlen kehren wir in unsere Unterkunft, die Casa Alianza im Viertel Los Ceibos, zurück. Mit Luís Tavara haben wir einen Besuch im Viertel Monte Sinaí vereinbart, um mit eigenen Augen zu sehen, wie die von Hogar de Cristo unterstützten Familien leben.

28.08.2014

Wir fahren am frühen Vormittag nach Mapasingue – einem Viertel im Norden von Guayaquil, das wie Bastión Popular aus einer illegalen Ansiedlung hervorgegangen ist. Diese unkontrollierten Landnahmen nennt man in Ecuador „invasiones“. Nach und nach sind viele dieser Viertel infrastrukturell erschlossen und legalisiert worden. Hier, in den „urbanisierten“ Stadtvierteln, leben nach wie vor Familien mit geringem Einkommen. Doch die Ärmsten der Armen können sich die nach deutschen Maßstäben heruntergekommenen, aber immerhin festen Häuser in Mapasingue oder Bastión Popular nicht leisten; sie leben weiter außerhalb in Marginalsiedlungen wie Monte Sinaí.

In Mapasingue findet man kleine Geschäfte, Kirchen, Gesundheitszentren und andere Gemeinschaftseinrichtungen. Die Straßen sind asphaltiert, wenn auch oft in einem schlechten Zustand. Manche Häuser sind mit Blumenkästen und Kübelpflanzen verschönt worden, andere wirken baufällig und verwahrlost. Auf Höhe der Dachrinnen spannt sich ein Wust von wild verschlungenen Stromleitungen von Haus zu Haus. Graffiti sind allgegenwärtig. Die Menschen machen auf uns keinen aggressiven, sondern eher einen freundlichen und interessierten Eindruck. Viele winken, wenn der Bus sich vorsichtig durch die engen Straßen tastet. Doch wir werden wieder und wieder gewarnt, nicht unbegleitet durch das Viertel zu gehen. Drogenhandel und Beschaffungskriminalität scheinen die vorherrschenden Probleme zu sein.

Unser Ausflug nach Mapasingue beginnt an der „Biblioteca activa con apoyo escolar“ von ADES, mitten im Stadtviertel an einem kleinen Platz gelegen, der ein wenig wie eine italienische Piazza wirkt. Der Name „Biblioteca“ täuscht. Es gibt in dem kleinen Haus, das die Fundación ADES von Monika Bossung-Winkler übernommen hat, heute keine Bücher mehr. Monika hat hier in den letzten Jahren ihres Ecuador-Aufenthalts gewohnt. Anfangs stand die Bibliothek den Schulkindern von Mapasingue zur Verfügung. Das war noch vor bzw. zu Anfang des Computer-Zeitalters. Estefania, die Tochter der ADES-Chefin Claudia, erklärt uns, dass die Kinder heute nicht mehr lesen, sondern lieber online spielen und auch ihre Hausaufgaben am liebsten am Computer erledigen. Das Angebot der Stadtteilbücherei wurde deshalb immer weniger nachgefragt. Estefania arbeitet neben ihrem Master-Studium (Politologie) ebenfalls für ADES. Resolut, wie sie ist, entschied sie, die Bücherregale durch einige Computerarbeitsplätze zu ersetzen. Im Erdgeschoss des kleinen Hauses sehen wir Kinderspielzeug. Heute kommen nicht nur Schulkinder in die Biblioteca, um für ein Referat zu recherchieren, sondern auch deren jüngere Geschwister, Mütter und Großmütter. Mithilfe von ADES haben die älteren Frauen gelernt, den Computer zu nutzen, sich Informationen über Google zu beschaffen und Mails zu verschicken. Die Biblioteca ist zum Treffpunkt und zu einem Kommunikationszentrum für die Bevölkerung des Stadtteils geworden.

In Kooperation mit dem Ministerium für wirtschaftliche und soziale Inklusion (MIES) engagiert sich ADES in verschiedenen Sozialprojekten. Wir besuchen mit Estefania und Jessica, einer jungen Afroecuadorianerin, einen Seniorentreffpunkt mitten in Mapasingue. Die älteren Herrschaften kommen hier jeden Vormittag zusammen, tauschen sich miteinander aus, tanzen und basteln. Wir werden eingeladen mitzutanzen – wobei sich der Tanz als durchaus sinnvolle leichte Gymnastik zu schmissiger Musik herausstellt. Danach „dürfen“ wir mit den Senioren basteln. Ihre Erzeugnisse verkaufen sie, um ihre Gemeinschaftskasse aufzufüllen. Doch heute lassen die Künstler es sich nicht nehmen, die aus Recycling-Materialien hergestellten Gegenstände – von der Vase über kleine Kästchen und Körbchen, Papierblumen und Sandbilder – an die Gäste aus Deutschland zu verschenken. Ich darf mir ein Kästchen aus fest gerolltem Papier aussuchen, das die Gestalt einer Schildkröte hat. Es wird einen Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch bekommen!

Nach der Bastelstunde zeigen uns die Senioren ihre Stadtteilkirche. Sie befindet sich oben auf dem Hügel, gleich neben einer Polizeistation. Hier gibt es außerdem verschiedene kleine Geschäfte, einen Kiosk, einen Lebensmittelladen, eine Schneiderwerkstatt und ein kirchliches Gesundheitszentrum, wo Ärzte, Therapeuten und eine Ernährungsberatung Sprechstunden anbieten. Im Gesundheitszentrum ist natürlich auch eine Apotheke untergebracht – denn das ein Geschäftszweig, der in Guayaquil boomt. An praktisch jeder Straßenecke, neben jedem Supermarkt findet man eine „Farmacia“. Oft handelt es sich um eine Art Kiosk; die Medikamente werden durch ein kleines Fenster verkauft. Es gibt aber auch große Apotheken- und Drogeriemärkte mit Selbstbedienung.

Auf dem Rückweg halten wir an einer Markthalle, um uns mit einem einfachen Mittagessen zu versorgen, und später an einem großen Supermarkt, wo wir Getränke für die Gruppe einkaufen. Es ist ein Supermarkt der Kette „Mi Comisariato“ – gleich neben dem hochmodernen Einkaufszentrum, das wir am Montag besucht haben. Zwischen den Shopping Malls, Autohäusern und Bankgebäuden im Stadtzentrum und Vierteln wie Bastión Popular, Mapasingue oder Monte Sinaí liegen Welten. Der globale Norden und der globale Süden, beides ist in Guayaquil zu finden. Mit unserem Bus fahren wir täglich an Konsumpalästen vorbei, auch an schön angelegten Parks und Privatschulen – und nachdem wir ein Auge dafür entwickelt haben, entdecken wir auch immer wieder die schwer bewachten Zugänge zu den Wohnvierteln der Wohlhabenden. „Gated communities“ nennt man diese Siedlungen. Hier lebt die obere Mittelschicht in gepflegten Häusern und Wohnungen. Es gibt Gemeinschaftseinrichtungen wie Swimming-Pools und Tennisplätze. Man kann diese Siedlungen nur durch die Sicherheitsschleuse betreten oder verlassen, nachdem man sich ausgewiesen hat. Nur Bewohner und deren Gäste haben Zugang. Die Kinder, die hier realitätsfern aufwachsen, sollen einmal die wirtschaftliche und intellektuelle Elite bilden, die die Zukunft Ecuadors gestaltet. Wie viel wissen sie von den Lebensumständen der Menschen in den Marginalsiedlungen, der Zuwanderer vom Land, der Straßenhändler und Hausangestellten, die am Abend in ihre Quartiere am Stadtrand zurückkehren?

Immer wieder hören wir von unseren Gesprächspartnern, wie gefährlich es sei, sich in den Straßen zu bewegen. Vor jedem Supermarkt, Hotel oder Bankgebäude patrouillieren Sicherheitskräfte. Die öffentlichen Parks, die Flaniermeile am Rio Guayas, Schulzentren und Universitäten werden ebenso bewacht wie die Zugänge zu den Armenvierteln. Praktisch alle Fenster sind vergittert – in Bastión Popular und Mapasingue ebenso wie in den Wohnvierteln der Mittelschicht. Was für eine Gesellschaft ist das, in der Gutsituierte sich gegen die Außenwelt abschotten? Selbst die Leute von ADES kennen sich in den Vierteln ihrer Klienten nicht aus. Sie fahren morgens mit dem Auto zum Treffpunkt und erwarten dort die Klienten – seien es Senioren oder alleinerziehende Mütter, die sie beraten; auf dem gleichen Weg verlassen sie das Viertel wieder, sobald ihre Arbeit getan ist, und kehren in ihre eigenen Wohnbezirke zurück.

In dieser Massivität sind wir mit dem Sicherheitsproblem allerdings erst in Guayaquil konfrontiert worden. In Cuenca konnten wir uns frei bewegen und hatten niemals das Gefühl, unsere Taschen und Wertsachen über ein vernünftiges Maß hinaus schützen zu müssen. Auch in Guayaquil haben wir Gewalt und Kriminalität – zum Glück – noch nicht am eigenen Leib erlebt, aber unsere Gesprächspartner sprechen so häufig davon, dass wir fast den Eindruck einer Paranoia erhalten, die in den wohlhabenderen Schichten der Bevölkerung grassiert. Ecuador ist ein schönes Land, das sich nach einer schweren Wirtschaftskrise wieder im Aufwind befindet; die Regierung Correa hat große Anstrengungen unternommen, das Straßennetz, das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie das Sozialsystem zu modernisieren, und war damit bisher auch sehr erfolgreich. Dennoch handelt es sich um eine Gesellschaft der Ungleichheit, in der kritische Stimmen ungern gehört werden. Präsident Correa schafft es, politische Gegner durch öffentliche Bloßstellung – zum Beispiel bei den berüchtigten Samstagsansprachen – zum Schweigen zu bringen. Die Zeitungsverlage werden regelmäßig mit Verleumdungsklagen überzogen und so diszipliniert. Der Wirtschaftsfachmann Correa hat viel für die Entwicklung Ecuadors getan, er setzt seine links-nationalistische Vision mit viel Energie und ohne Rücksicht auf Verluste um, doch er bezieht dabei – wie seine Kritiker sagen – nicht alle Teile der Bevölkerung mit ein. Correa tritt für eine südamerikanische Nation ein, die sich aus dem Machtzugriff des „US-amerikanischen Imperialismus“, wie er es nennt, und internationaler Organisationen befreit.

29.08.2014

Zusammen mit einer Gruppe von Kindern der Schule „Nuevo Milenio“ fahren wir zum Parque Histórico am Ufer des Río Daule. Wir verbringen den Vormittag im tropischen Regenwald, bewundern farbenprächtige Papageien, gut getarnte Ozelots und die vom Aussterben bedrohte Harpyen, besichtigen ein koloniales Herrenhaus und spazieren durch den Botanischen Garten. Anschließend wieder ein Kulturschock: Wir lernen die Welt der Oberen Zehntausend kennen, die Plaza Lagos, und sehen nach der Mittagspause auf einer Rundfahrt eine Reihe von „Gated Communities“ der oberen Mittelschicht. Ein Leben mit allem Komfort, aber hinter Mauern und Sicherheitsschleusen – für die meisten von uns unvorstellbar.

Am späten Nachmittag treffen wir den Prorektor der Technischen Universität Santa Maria zu einem Gespräch. Die TU ist eine Filiale der chilenischen Universidad Técnica Federico Santa María. In Guayaquil liegt der Schwerpunkt auf Wirtschaftsinformatik, Kommunikationswissenschaft und International Business. Die Universität ist mit dem UNESCO-Preis für Friedensforschung ausgezeichnet worden. Wir fragen Prof. Anastasio Gallego nach seiner Bewertung des Correa-Regimes. Er holt weit aus und beschreibt den geschichtlichen Hintergrund, auf dem das „Movimiento al Socialismo“ in der ecuadorianischen Ausprägung zu sehen ist: die Ära der Diktaturen in Lateinamerika (1964-1983), die daran anschließende neoliberale Epoche und das Erstarken der links-nationalen Bewegung in Haiti, Venezuela, Bolivien und Ecuador. Im Neoliberalismus hat der Staat nur moderierende Funktion, er greift nicht in den freien Markt ein, der in allen Lebensbereichen (z. B. auch im Gesundheits- und Bildungswesen) präsent ist. In der neoliberalen Ära wurden Schulen, Telekommunikation, Energieversorgung und Rohstoffförderung weitgehend privatisiert. Ein Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild existierte nicht. Diese Politik habe die Armut in Lateinamerika verschärft – erklärt Prof. Gallego –, in Ecuador lebten vor dem Systemwechsel 40% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (d.h. sie mussten mit einem Tagesverdienst von damals einem Dollar auskommen). Das Volk sei von den sog. demokratischen Regierungen nicht wirklich repräsentiert worden. Die Bewegung „als Socialismo“ sprach dagegen Arbeiter und Studierende, Campesinos und Indígenas gleichermaßen an. In Ecuador setzte Rafael Correa 2006 den klassischen Parteien das „Movimiento PAIS“ entgegen („Für ein aufrechtes und souveränes Vaterland“).

Nach seinem Wahlsieg verhandelte Correa die Auslandsschulden neu. Ecuador verweigerte fällige Zinszahlungen, weil sie moralisch nicht gerechtfertigt seien. Damals floss das Geld aus dem Erdölverkauf zu 70% in den Schuldendienst, zu 10% in soziale Projekte und zu 20% in die Stabilisierung der Wirtschaft. Nach der Neuverhandlung der Schulden wurde der Anteil für soziale Projekte signifikant erhöht. Ecuador schloss neue Verträge mit internationalen Firmen über die Erdölförderung und investierte in Verkehrsinfrastruktur und Energieversorgung (besonders in die Wasserkraft – bis 2007 sollen die fossilen Energieträger vollständig durch erneuerbare Energien ersetzt werden).

Correa habe das Land nachhaltig verändert, erläutert Prof. Gallego. Der Anteil der Menschen in extremer Armut sei auf 23% zurückgegangen. Die Regierung Correa strebe nicht nur die Energiewende an, sondern auch eine grundlegende Veränderung des Produktionsmodells: Bisher würden Rohstoffe (wie z. B. Rohkakao) aus- und Konsumgüter (wie z. B. Schokolade) eingeführt – doch künftig solle im Land selbst für die Bevölkerung produziert werden. Prof. Gallego führt als Beispiel die Banane an. Ecuador ist der weltgrößte Bananen-Exporteur. Bisher erhebe die EU Einfuhrsteuern in Höhe von 170 US-Dollar pro Tonne. Ecuador habe neue Verträge mit der EU geschlossen, wonach die Steuer im Jahr 2020 nur noch 30 US-Dollar pro Tonne betragen soll. Ecuador werde in Zukunft einen Teil der Bananenernte im Land selbst verarbeiten und die Produkte exportieren, um so auch die Abhängigkeit von ausländischer Entwicklungshilfe zu reduzieren.

Wir fragen nach der Regierungsform und dem misslungenen „Erdöl-Deal“ mit der Weltgemeinschaft. Prof. Gallego skizziert das Präsidialsystem und den (wie er zugibt, schwierigen) Prozess der Dezentralisierung der Macht; die Provinzen sollen mehr Autonomie erhalten. Im Yasuní-Nationalpark soll ab 2016 Erdöl gefördert werden. Correa hatte von der Weltgemeinschaft Ausgleichszahlungen gefordert, damit Ecuador auf die Förderung verzichtet und die Flora und Fauna im Nationalpark (und damit das Weltklima) schützt. Die Rechnung ging nicht auf. Daher sollen die Erdölvorkommen nun „mit den besten Technologien und unter internationaler Aufsicht“ (Gallego) erschlossen werden – auch um zu verhindern, dass die Ölfelder von Peru aus angezapft werden. Die Förderpläne Correas werden von Indigenen und Naturschützern gleichermaßen kritisiert.

Eine weitere Frage lautet, wie sich die Marginalsiedlung Monte Sinaí in den nächsten zehn Jahren verändern wird. Prof. Gallego kennt Hogar de Cristo gut; er ist Mitglied des Direktoriums. Wie bereits Luís Tavara, weist er darauf hin, dass die Stadtregierung von Guayaquil und die nationale Regierung unterschiedliche politische und humanitäre Ziele verfolgen. Hogar de Cristo erhielt das Angebot, mit dem Wohnungsbauministerium zusammenzuarbeiten – dabei soll es nicht nur um Schaffung von Wohnraum, sondern auch um die soziale Infrastruktur von Monte Sinaí und die Bekämpfung der Drogenkriminalität gehen.

30.08.2014

Fahrt nach Salinas am Pazifik. Die Städte Salinas, Santa Elena und La Libertad im Westen der 2007 neu errichteten Provinz Santa Elena sind praktisch zusammengewachsen und stellen mit rund 500.000 Einwohnern und einer Million Touristen pro Jahr das bedeutendste Naherholungszentrum für die Bevölkerung Guayaquils dar. Wir verlassen Guayaquil auf der Schnellstraße und fahren an weiteren „gated communities“ und vielen neu erschlossenen Bauplätzen vorbei. Die bewachten Viertel für die Mittel- und Oberschicht gibt es, wie wir später sehen werden, auch in Salinas. Zwischen den bewachten Siedungen sehen wir einige „invasiones“ und, je weiter wir aufs Land hinausfahren, Fincas aller Art – vom Landgut über kleinere Gehöfte bis zu Stelzenhäusern aus Bambus. Neben Monokulturen (meist Bananen) sehen wir auch Biolandwirtschaft (Stockwerkanbau). Auf dem Weg zur Küste fahren wir durch trockenes, braunes, zum Teil unbestelltes Hügelland. Aber der Schein trügt, zwischen dem Meer und Guayaquil bereitet man sich auf die Regenzeit und die Überschwemmungen vor, die „El Niño“ bringen wird. Deshalb stehen die traditionellen Häuser auch auf Stelzen. In einigen Vierteln Guayaquils wie Mapasingue und Bastión Popular wurden sie durch gemauerte Häuser ersetzt, doch das war nur möglich, weil gleichzeitig Kanäle gebaut wurden.

Während der Fahrt erzählt uns Claudia von der Fundación ADES, die sie vor 20 Jahren mit einigen Gleichgesinnten gegründet hat. Es handelt sich um eine Privatinitiative, die keine formale Verbindung zur Kirche hat, aber den Prinzipien der kath. Soziallehre (Solidarität, Subsidiarität) verpflichtet ist. Die Fundación finanziert sich und den Eigenanteil für die staatlich geförderten Sozialprojekte durch Sozialforschung und Beratung für andere Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaftsunternehmen und staatliche Organisationen. Die eigenen Bildungs- und Sozialprojekte führt ADES zusammen mit dem Inklusions-Ministerium und mit Unterstützung ausländischer Geldgeber durch (das Kindermissionswerk förderte z.B. den Wiederaufbau der Stadtteilschule „Generación Nuevo Milenio“ nach einer Überschwemmung und ein Ernährungsprogramm für die Schulkinder). ADES hat 32 fest angestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; dazu gehören die Lehrerinnen der Schule „Nuevo Milenio“. Ausländische Nichtregierungsorganisationen stoßen bei der Regierung Correa auf Misstrauen. Der Staat akzeptiert ADES, weil es sich um eine einheimische Organisation handelt, die ihre Gelder transparent einsetzt.  Die Schule „Nuevo Milenio“ arbeitet auch mit der örtlichen Pfarrei zusammen. Da der staatliche Lehrplan keinen Religionsunterricht vorsieht, findet am Wochenende in der Schule Kommunionunterricht durch Freiwillige der Pfarrgemeinde statt.


In Salinas treffen wir mit Bertram Wick, Weihbischof der Erzdiözese Guayaquil, zusammen. Er ist Schweizer, seit vielen Jahren im Land, zunächst in der Gemeindeseelsorge tätig – und jetzt als „Baby-Bischof“, wie er sich selbst nennt (da er erst vor wenigen Monaten geweiht wurde), für die Region um Salinas zuständig. Das Erzbistum ist in vier Regionen aufgeteilt. Bischof Wick berichtet über die Projekte, die er als Pfarrer angestoßen hat – vom Aufbau einer Mittelschule über häusliche Krankenpflege, Hausbau und Infrastruktur (Kanäle), Aloe-vera-Anbau und -Vermarktung bis zur Gründung christlicher Wohngemeinschaften. Bischof Wick erläutert uns die problematische Beziehung zwischen Kirche (Erzdiözese) und Staat in Bezug auf das Bildungs- und Gesundheitswesen. Die hohen Auflagen von Seiten des Staates bringen die kirchlichen Schulen in Schwierigkeiten. Lehrkräfte wandern ab, weil der Staat höhere Gehälter zahlt als die kirchlichen Schulträger. In Zukunft wird die Kirche möglicherweise eigene Schulen aufgeben und in staatlichen Schulen  Nachmittagsbetreuung und Katechese-Angebote am Wochenende anbieten. Die Kirche versteht dies als Dienstleistung vor allem für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Ordensschulen stehen finanziell besser dar als die diözesanen Schulen. Die Ordensgemeinschaften spielen in Ecuador weiterhin eine wichtige Rolle in Seelsorge und Bildung, haben aber z.T. Nachwuchsprobleme. Die Erzdiözese Guayaquil finanziert sich fast ausschließlich aus freiwilligen Beiträgen ihrer Mitglieder. Die Kirchenbürokratie und die Verwaltung der kirchlichen Einrichtungen sind sehr zentralistisch. Neue Kirchen werden, weil die Bevölkerung sie wünscht, nicht von der Erzdiözese, sondern von den Stadtverwaltungen gebaut und dann von der Kirche aus Spendengeldern unterhalten. Die verfassungsgemäße Trennung von Kirche und Staat gibt der Kirche einerseits Unabhängigkeit von staatlicher Aufsicht – sie bedeutet andererseits, dass die Kirche sich selbst finanzieren muss. „Wir sind pleite!“, sagt Bischof Wick offenherzig.

In den Schulen der Erzdiözese und der Orden gibt es Religionsunterricht, in den staatlichen Schulen nicht. Die Kirche setzt daher stark auf die außerschulische Katechese. Vor der Erstkommunion sind 60 Katechese-Stunden verpflichtend; es wird erwartet, dass mindestens ein Elternteil zusammen mit dem Kind teilnimmt. Auch vor der Firmung sind 60 Katechese-Stunden vorgesehen und vor der Taufe vier Taufgespräche mit Eltern und Paten.

Der Weihbischof bestätigt, dass die Missionierung durch evangelische Freikirchen und Sekten in Ecuador sehr erfolgreich ist. Das sehen wir auch, wenn wir durch das Land fahren – immer wieder entdecken wir (meist kleine) Kirchengebäude, „Iglesias Cristianas“, die verschiedenen protestantischen Kirchen, der Pfingstbewegung, den Zeugen Jehovas, den Mormonen zuzurechnen sind.

Nach dem herzlichen Abschied von Bischof Wick fahren wir weiter zum Strand. Ein Teil der Gruppe fährt mit dem Boot auf den offenen Pazifik hinaus, um Buckelwale zu beobachten – ein gigantisches Erlebnis. Die anderen verbringen den Mittag am Strand. Später treffen wir uns wieder und fahren zum Kap „La Chocolatera“ – es ist der westlichste Punkt des ecuadorianischen Festlandes.

31.08.2014

Nach dem Besuch der Sonntagsmesse in einer der Innenstadtkirchen bringt uns der Bus aufs Land hinaus. Wir fahren durch eine weite, intensiv landwirtschaftlich genutzte Ebene zu den Vorbergen – vorbei an Zuckerrohr-, Reis-, Bananen-, Kakao- und Mangoplantagen. Unser Ziel sind die sieben Wasserfälle bei Naranjal. Die abenteuerliche Wanderung führt uns zunächst an Feldern und Fincas vorbei und dann in den Wald – immer bergauf, über Stock und Stein zum ersten Wasserfall. Blauschwänzige Eidechsen und riesengroße Schmetterlinge mit kobaltblauen Flügeln kreuzen unseren Weg. Ein Teil der Gruppe wagt den halsbrecherischen Aufstieg von Wasserfall zu Wasserfall, die „Fußkranken“ strecken bereits am ersten (kleinen) Wasserfall die Waffen.

Im Bus berichtet uns Monika Bossung-Winkler von ihrem Zusammentreffen mit Freunden, die der katholischen bürgerlichen Mittelschicht angehören und dem Correa-Regime kritisch gegenüberstehen. Die Distanz der Kirche zur Regierung wurde auch bereits im Gespräch mit Bischof Bertram Wick deutlich.

Ehe wir in unser Quartier im Viertel Los Ceibos zurückkehren, machen wir Halt bei den eindrucksvollen Wasserspielen am Malécon del Salado.

01.09.2014

Heute Morgen steht ein Besuch bei CEPAM an, einer Frauenorganisation, die von Brot für die Welt unterstützt wird. CEPAM steht für „Centro de Atención y Ayuda para la Mujer“ (mehr auf: www.cepamgye.org). Die Organisation bietet Frauen und Mädchen, die von häuslicher und sexueller Gewalt betroffen sind, eine Anlaufstelle, psychologische Betreuung, mentale Unterstützung und Rechtshilfe und veranstaltet Präventions-Workshops mit Schülerinnen und Schülern. Wir werden von 30 Jugendlichen aus der Schule "Generación Nuevo Milenio" begleitet und können bei einem der Workshops hospitieren.

Die Gewalt gegen Kinder und Frauen entsteht aus dem Machismo, aus der sozialen Frustration und der damit oft verbundenen Suchtproblematik. Es gibt auch viel (Zwangs-)Prostitution mit mafiösen Strukturen; Kinder werden entführt und sexuell ausgebeutet. Der Staat hat noch keinen Weg gefunden,  das Prostitutionsproblem wirksam zu bekämpfen. 20% aller Schwangerschaften landesweit sind Schwangerschaften von jungen Mädchen unter 18 – doch auf dem Land und in den ärmeren Bevölkerungsschichten ist der Anteil weit höher.

Das Bewusstseinsbildungs- und Präventionsprogramm von CEPAM strahlt in alle Provinzen Ecuadors aus. Die Aktivitäten von CEPAM fügen sich in ein staatenübergreifendes Programm für die Andenländer zur Prävention von Kinder- und Jugendschwangerschaften ein.

Am Nachmittag fahren wir noch einmal zu Hogar de Cristo und zusammen mit einer Mitarbeiterin in eine der „wilden“ Siedlungen am Monte Sinaí, die hier „invasiones“ genannt werden. Die Wohnverhältnisse sind nach unseren Maßstäben mehr als prekär, aber die Siedlungen haben immerhin eine gewisse Infrastruktur. Viele Familien betreiben „urban gardening“. Wir treffen Nellie, eine Bewohnerin der Siedlung, Afroecuadorianerin und Leiterin eines Nachbarschaftskomitees. Beim Rundgang durch die Siedlung winken uns viele Leute herzlich zu – von Feindseligkeit oder auch nur Distanz ist nichts zu spüren. Sie freuen sich offensichtlich darüber, dass sich jemand für sie interessiert.

Als wir an der kleinen katholischen Kapelle vorbeikommen (wohl verwahrt hinter Mauer und Zaun), erscheint aus dem Nichts eine Ordensschwester, schließt das Tor auf und zeigt uns freudestrahlend Kapelle und Schulzimmer. Es sind drei Oratorianerinnen, die mit den Familien und Kindern in der Siedlung arbeiten. Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich ein Kirchlein einer evangelikalen Missionsgesellschaft. Diese Freikirchen und US-amerikanischen Sekten sind sehr erfolgreich in Ecuador. In der Siedlung gibt es auch eine kleine bilinguale Grundschule für indigene Kinder; im Container wird auf Spanisch und Kichua unterrichtet. Diese Schule ist staatlich und kostet daher kein Schulgeld.

Wir kommen an einer Baustelle vorbei: Man legt einen Abwasserkanal an, um für die Regenzeit vorzusorgen. Die Menschen schaffen sich also selbst eine Infrastruktur, aber das vordringliche Anliegen ist die Legalisierung der invasiones. Die Menschen brauchen die Sicherheit, dass sie nicht mehr vertrieben werden. Erst nach der Legalisierung können sie darauf hoffen, dass die Stadt Wasserleitungen legt, die Straßen asphaltiert und schließlich auch feste Häuser baut. Das nennt man dann "Urbanisierung". Mit Unterstützung von Hogar de Cristo sind sieben Frauen aus der Siedlung nach Quito gefahren, um ihre Situation der verfassunggebenden Versammlung vorzutragen.

Die Viertel, die wir gesehen haben –  Bastión Popular und Mapasingue –, sind ebenfalls aus wilden Siedlungen hervorgegangen und schon seit längerer Zeit urbanisiert. Erstaunlicherweise ist hier das Gewaltproblem viel höher als in den illegalen Stadtrandsiedlungen. Bei den Zuwanderern vom Land ist einfach weniger zu holen, Raubüberfälle lohnen sich noch nicht. Ansonsten ist Gewalt in Guayaquil allgegenwärtig. Überall Polizei, überall Sicherheitsschleusen - es gibt viel Drogenkriminalität, Straßenraub und Wohnungseinbrüche, sodass sich alle, die nicht gänzlich mittellos sind, hinter Gittern verschanzen, Handwerker und Kleingewerbetreibende in Vierteln wie Mapasingue, die untere Mittelschicht in ummauerten Trabantenstädten, die obere Mittelschicht und die Reichen in den luxuriösen "Gated Communities" mit Villen, Pools, Tennisplätzen und privaten Sicherheitsdiensten.


Am Abend besucht uns Claudia. Bisher hat sie sich sehr zurückgehalten, doch nun macht sie ihrem Herzen Luft und relativiert manches, was früher über die Arbeit von ADES, auch über die Zusammenarbeit mit dem Staat, gesagt wurde: Nach ihrer Einschätzung will der Staat alle privaten Bildungsinitiativen unterbinden; sie gibt der Schule „Generación Nuevo Milenio“ noch drei Jahre, denn bis 2017 soll das Bildungswesen komplett in staatlicher Hand sein. Das Correa-Regime stellt alle  zivilgesellschaftlichen und insbesondere kirchlichen Initiativen in Frage, sodass sich die Organisationen, die wir kennengelernt haben, ADES, CEPAM und Hogar de Cristo, warm anziehen müssen. Zwar ist es richtig, dass der Staat seine Verantwortung für das Bildungs- und Sozalwesen wahrnehmen muss – aber kirchliche und zivilgesellschaftliche Initiativen können komplementär wirken. Es wäre fatal, wenn der Staat aus ideologischen Gründen funktionierende Strukturen zerstören würde, ohne in der Kürze der Zeit Alternativen bieten zu können.

02.09.2014

Unser letzter Tag in Ecuador: Begleitet von der Seniorengruppe, mit der ADES in Mapasingue arbeitet, fahren wir zum Museo Municipal und informieren uns über die Entwicklung der Stadt Guayaquil – von den vorkolonialen Anfängen über die Zeit der Spanier bis zur Gegenwart.

Nachmittags fahren wir zum Auswertungsgespräch mit Claudia in die (natürlich schwer bewachte!) Universität Casagrande. Nach dem herzlichen Abschied geht es zum Flughafen; gegen 18.00 Uhr checken wir ein und verlassen Ecuador gegen 20.30 Uhr mit der Iberia.

Ich nehme von dieser Reise mit: die Erinnerung an sehr liebenswürdige und offene Menschen, an das große Engagement bei ADES, CEPAM und Hogar de Cristo, an die landschaftliche Schönheit der Anden, die üppigen Plantagen der Costa, das pulsierende Leben in Guayaquil;  die Zweifel am Kurs der Regierung Correa (Rafael Correa ist ein Präsident, der in kurzer Zeit viel erreicht und vor allem die Infrastruktur modernisiert hat, der aber ganz klar auf den Staat setzt und der Zivilgesellschaft sowie kirchlichen Initiativen nicht viel Raum lässt); die Hoffnung, dass die Power-Frauen, die wir kennengelernt haben (ob bei ADES oder CEPAM oder in Monte Sinaí), sich weiterhin für das Gemeinwesen stark machen können und nicht ausgebremst werden; das Befremden darüber, dass bei aller Betonung der eigenen Identität (z. B. durch Correa) der amerikanisch-europäische Lebensstil und Konsum und europäische Schönheitsideale kritiklos als Leitbilder akzeptiert werden; und schließlich den Schock über die geteilte Gesellschaft in Guayaquil. Für mich ist Guayaquil vor allem die „vergitterte Stadt“. „Gated communities“ gibt es in vielen Großstädten, vor allem auf der Südhalbkugel, aber natürlich auch in den USA, wo sie wohl erfunden wurden. Und vielleicht auch bald bei uns?

Petra Gaidetzka

04.09.2014